Ein Genie geht nach Göttingen

In Simon Ravens unterhaltsamem Roman „Die Säbelschwadron“ gerät ein britischer Mathematiker zwischen die Fronten des Kalten Krieges

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei Simon Raven (1927–2001) handelt es sich um einen im deutschen Sprachraum noch relativ unbekannten Autor. Und das, obwohl der Verfasser zahlreicher Romane, Theaterstücke und Arbeiten für das Fernsehen und die Leinwand in seiner britischen Heimat einen durchaus respektablen Ruf genießt. Vor allem mit der zehnbändigen Romanreihe Alms for Oblivion (1964–1976), seinem schriftstellerischen Hauptwerk, schrieb sich der Zeitgenosse von John le Carré, Lawrence Durrell und Anthony Powell in die Literaturgeschichte ein. Die Reihe gilt als einer der vergnüglichsten Romanzyklen in englischer Sprache. Die einheimische Kritik zählte ihren Autor zu den brillantesten Romanciers seiner Generation.    

Der 1996 in Heidelberg gegründete und seit 2001 in Berlin residierende Elfenbein Verlag hat nun begonnen, unter dem Serientitel Almosen fürs Vergessen Ravens opus magnum auf Deutsch herauszubringen. Dabei hat man sich – anders als bei den Originalbänden – für eine sich an der historischen Chronologie orientierende Abfolge der Bände entschieden. Das bringt es mit sich, dass der im Jahr 1952 spielende Roman Die Säbelschwadron, von Raven als dritter der Reihe verfasst, die deutschen Leser*innen nach Fielding Gray (2020), mit dem das Projekt im Frühjahr 2020 seinen Anfang nahm, obwohl dieser Roman in der Originalabfolge erst an vierter Stelle steht, als zweiter Band erreicht.     

Daniel Mond heißt der Held von Die Säbelschwadron. Der Wissenschaftler aus Cambridge, auf dem viele Hoffnungen ruhen, begibt sich im Frühjahr 1952 zu Studienzwecken nach Göttingen, wo die hinterlassenen Manuskripte eines deutschen Mathematikgenies aufbewahrt werden, die bisher noch niemand zu entschlüsseln verstand. Mond ist nicht wohl dabei, als Sohn eines jüdischen Vaters sieben Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft ganz auf sich allein gestellt in ein Land zu reisen, in dem er glaubt, „umgeben [zu] sein […] von den Mördern“ seines Volkes. Deshalb ist der junge Mann auch froh, wenn sich nach seiner Ankunft in der niedersächsischen Kleinstadt mit der großen wissenschaftlichen Tradition gleich mehrere Personen um ihn kümmern.

Aber was haben ein Göttinger Mathematiker, der selbst an der Entschlüsselung der geheimnisvollen Aufzeichnungen gescheitert ist, ein amerikanischer Geschichtswissenschaftler, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier und gleich mehrere Angehörige zweier englischer Regimenter, die sich in Göttingen auf ein großes Manöver vorbereiten, wirklich im Sinn, wenn sie sich um Daniel Monds Freundschaft bemühen?

Geschickt fängt Raven die Atmosphäre in einem Land ein, das nach dem keine zehn Jahre zurückliegenden Kriegsende und der mit der Gründung von zwei deutschen Staaten manifest gewordenen Teilung gerade dabei ist, auf einer veränderten weltpolitischen Karte als Teil der westlichen Allianz wieder Fuß zu fassen. Dass sich „die Deutschen insgesamt […] weitgehend auf dem Weg zurück zum Wohlstand befanden“, irritiert Ravens Helden zunächst, obwohl ein Ausflug an die innerdeutsche Grenze unweit von Göttingen ihn belehrt, dass diese Erkenntnis wohl nicht für beide deutschen Teilstaaten Gültigkeit besitzt. Klar wird ihm aber sehr schnell, dass die westlichen Siegermächte den Teil Deutschlands, der ihre Einflusssphäre nach dem Krieg darstellt, zur Speerspitze gegen einen neuen Gegner, die Sowjetunion, auszubauen gedenken. Und dazu benötigen sie nicht zuletzt auch die Unterstützung jener Deutschen, die wie der ehemalige Major Pappenheim, für den ein führender Posten im Nachrichtendienst der neuen, bundesdeutschen Armee vorgesehen ist, kurz vorher noch treu und ergeben dem Hitlerstaat dienten.

Zwischen seiner wissenschaftlichen Arbeit und verschiedenen Lustbarkeiten mit seinen neuen Freunden beim Militär, Offizieren einer Füsiliereinheit und der titelgebenden 10. Säbelschwadron, verläuft Monds Leben fortan bis zum November des Jahres 1952. Zu seinem engsten Vertrauten wird dabei nach und nach jener Mann, mit dem die deutschen Leser der Almosen fürs Vergessen-Reihe bereits aus dem ersten übersetzten Band vertraut sind: Fielding Gray. Den vielseitig begabten Schüler, wie ihn der Band Fielding Gray, der im Jahr 1945 spielt, vorstellt, hat es, nachdem die für ihn geplante wissenschaftliche Karriere gescheitert ist, unter die Soldaten verschlagen. Im Laufe des Romans wird er sogar zum kommandierenden Offizier der Säbelschwadron, führt die ihm Anvertrauten in das Manöver mit dem Decknamen „Apokalypse“, in welchem zwischen Baden Baden und Bielefeld das Verhalten militärischer Kräfte nach einem Atomkrieg trainiert werden soll, und tut alles, um seinem neuen Freund Daniel Mond beizustehen.

Dem rücken nämlich, nachdem er in monatelanger Arbeit die Manuskripte des Mathematikers Dortmund entschlüsselt hat und feststellen musste, dass die Erkenntnisse dieses Mannes, sollten sie in die falschen Hände geraten, katastrophale Folgen zeitigen könnten, Vertreter verschiedener Geheimdienste auf die Pelle. Freunde entpuppen sich als Spione, Kollegen als deren Zuträger und scheinbar harmlose Bekannte als nur darauf erpicht, an Monds Forschungsergebnisse heranzukommen. Doch weil dessen Herz schon immer „links“ schlägt, er dem Militärischen jenseits der abendlichen Lustbarkeiten nicht viel abzugewinnen vermag und Raven ihn, als er für ein paar Tage auf der Flucht vor seinen Verfolgern als Soldat bei der Säbelschwadron unterschlüpft, nur Albernes bis Absurdes erleben lässt, ist Mond fest entschlossen, sein gefährliches Wissen für sich zu behalten. Mit der Hartnäckigkeit seiner verschiedenen Lagern zuzurechnenden Gegner hat er allerdings nicht gerechnet. Und so bleibt ihm am Ende nur noch ein einziger Ausweg, um zu verhindern, dass seine Erkenntnisse in die falschen Hände geraten.         

Die Säbelschwadron ist ein unterhaltsamer Roman mit einem ernsten Thema. Raven beschreibt, wie sich sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Kräfte neu sortieren, ehemals Verbündete im Kampf gegen Nazi-Deutschland sich plötzlich feindlich gegenüberstehen und der aktuelle Gegner der westlichen Allianz nicht mehr Faschismus sondern Kommunismus heißt. Geradezu erschreckend wirken die Blauäugigkeit, mit der die Militärs in diesem Roman einen Atomkrieg auf europäischem Boden ins Auge fassen, und die Blindheit, mit der sie in eine Übung stolpern, die einen solchen simulieren soll. Was die Verantwortung des Wissenschaftlers gegenüber der Verwertung seiner Forschungsergebnisse betrifft, so ähnelt die Zwickmühle, aus der sich Daniel Mond nicht zu befreien vermag, ein wenig jenen Situationen, in denen sich in der deutschsprachigen Literatur Bertolt Brechts Galilei und der Physiker Johann Wilhelm Möbius bei Friedrich Dürrenmatt befinden. Die Lösung, die der Autor für seine Figur letzten Endes bereithält, unterstreicht freilich mehr Ravens eigene Ratlosigkeit gegenüber dem Problem und wirkt auch literarisch-kompositorisch wie ein an den Text geklebter Fremdkörper.

Titelbild

Simon Raven: Almosen fürs Vergessen/ Die Säbelschwadron. Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Franke.
Elfenbein Verlag, Berlin 2020.
300 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600120

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