Kevins Rache und Irmas Bilder
Jonas Jonassons scharfe Pointen drängen seine Liebeserklärung an die Freiheit der Kunst zuweilen in den Hintergrund
Von Rainer Rönsch
Mit seinem Romandebüt Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand hat der damals 48-jährige schwedische Autor Jonas Jonasson im Jahr 2009 die Literaturwelt verblüfft und erobert. Ein skurriler Alter taucht an den Schnittstellen der Weltpolitik des 20. Jahrhunderts auf und lernt die bedeutendsten Helden und Schurken kennen. Da wurden Erinnerungen an Forrest Gump wach, doch Jonassons Erstling war alles andere als ein Plagiat. Kühn und pointenreich geschrieben, voller abstruser Komik und tiefer Menschlichkeit, wurde der Roman in viele Sprachen übersetzt und natürlich verfilmt. Als der 100-jährige Schelm dann 2018 zurückkam, um die Welt zu retten, las man das noch ganz gern, aber doch als zweiten Aufguss.
Nun hatte Jonasson die Idee, eine Handlungsbrücke zwischen Kenia und dem knapp 8000 km entfernten Schweden zu errichten und dabei ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst und gegen nationalistische Dumpfheit zu halten. Er bedient sich zweier Figuren, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Auf der einen Seite steht der tumbe und charakterlose, aber geschäftstüchtige Schwede Victor Svensson. Der hasst Ausländer und Linke, doch am meisten hasst er es, wenn er auf irgendwen Rücksicht nehmen soll.
Sein Gegenpol ist die – zur Handlungszeit bereits verstorbene – hierzulande kaum bekannte, in Südafrika und unter Experten für den Expressionismus aber hochangesehene Künstlerin Irma Stern. Die in Südafrika beheimatete Tochter deutsch-jüdischer Auswanderer lebte von 1884 bis 1966 und wurde durch ihre intensiv leuchtenden Bilder bekannt – drei werden im Buch reproduziert.
Im Museum findet Victor „Trost im ursprünglich Schwedischen, wie etwa dem französischen Rokoko“. Ausgerechnet über die Kunstwelt nämlich will er aufsteigen, denn dort kann er Kontakte mit den „sozialliberalen Machtmenschen“ knüpfen, die er verachtet. Dem Intriganten gelingt es, sich die angesehene Kunsthandlung Alderheim anzueignen, die zugehörige Tochter Jenny ohne Liebe zu heiraten und seinen Allerweltsnamen Svensson loszuwerden.
Eines Tages erscheint eine krebskranke Prostituierte beim siegesgewissen Victor Alderheim und eröffnet ihm, der sie begleitende Kevin sei ihr gemeinsamer Sohn. Victors Einwand, Kevin sei doch schwarz, wird mit der Aufforderung gekontert, er solle die Mutter genau betrachten, um den Grund herauszufinden. Das ist eine von vielen köstlichen Pointen.
Und wie kommt Kenia ins Spiel? Ganz am Anfang durch die mit Lokalkolorit angereicherte Familiengeschichte eines Medizinmanns, der Kevin als Sohn annimmt, als der von Victor in Afrika ausgesetzte Achtzehnjährige müde von einer Akazie fällt, auf die er sich vor zwei hungrigen Löwinnen gerettet hat. Und später, wenn Probleme in Schweden mit einer Holzkeule gelöst werden, mit der man aus sechzig Meter Entfernung einen Wasserbüffel betäuben kann.
Irma Stein kam krank in jenes kenianische Dorf, wurde vom Vater des Medizinmanns geheilt und schenkte ihm aus Dankbarkeit zwei Bilder, die sie dort gemalt hatte. Die Kunstwerke sind nicht nur ein paar Kühe wert, wie der Massai meint, sondern Millionen Pfund oder Dollar. In einem furiosen und kuriosen Hin und Her wechseln die Gemälde mehrfach den Besitzer. An der schönsten Stelle des Buchs – hier sei auch auf die gekonnte Übersetzung von Astrid Arz verwiesen – werden sie für zwei Butterschnitten mit Lachsrogen verscherbelt.
Der von Victor für tot gehaltene, aber nach Kriegerausbildung, wenn auch ohne rituelle Beschneidung, tatkräftige Kevin ist nach Schweden zurückgekehrt, wo er sich in Jenny verliebt und sie in ihn. Der Roman wäre kürzer und besser geworden, hätten die beiden und Kevins ebenfalls dort auftauchender Ziehvater ihren Feldzug gegen Victor selbstständig geplant und ausgeführt. Sie aber bedienen sich der Firma „Rache ist süß GmbH“, und deren Gründungsgeschichte ist nur mäßig amüsant und viel zu lang.
Triumph, die Rache gelingt. Jonasson baut daraus einen ulkigen Krimi mit einem müden Ermittler, der die wenigen Tage bis zur Pensionierung zählt und noch einmal in Fahrt kommt, wenn auch auf der falschen Spur.
Immer wieder auf den fast 400 Seiten gibt es Pointen, über die man je nach Temperament leise kichern oder laut lachen kann. Aber auch Nebenhandlungen, denen man ein frühes Ende wünscht, und zwischen denen sich das Plädoyer für die Freiheit der Kunst verliert. Man sollte einem Autor, der mit seinem Erstling die Literaturwelt erobert, nicht empfehlen, gleich wieder aufzuhören, weil er diesen Erfolg nie übertreffen wird. Sollte man nicht?
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