Ausformungen der Hölle

Maggie Nelson schreibt in „Die roten Stellen“ über den Mord an ihrer Tante und den Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder, 36 Jahre nach der Tat

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass sich dieser Fall rasch auf einen erfolgreichen Abschluss zubewegt“, erfährt Maggie Nelsons Mutter, als sie im November 2004 aus heiterem Himmel von einem Detective der Michigan State Police angerufen wird. Der „Fall“, das ist der Mord an Maggie Nelsons Tante Jane Mixer im Jahr 1969, der Schwester ihrer Mutter. Eine neu entdeckte DNA-Spur habe einen Datenbanktreffer ergeben, eröffnet ihr der Detective stolz; die Verhaftung des mutmaßlichen Täters stehe kurz bevor.

Detective Schroeders Anruf steht am Anfang des Buchessays Die roten Stellen. Diese Autobiographie eines Prozesses – nämlich den gegen einen damals 62-jährigen, seine Unschuld beteuernden Krankenpfleger und verheiratete Familienvater – erschien im Original bereits 2007, ist aber ein zeitloses Meisterwerk. Es ist die nunmehr dritte Buchpublikation, die von der amerikanischen Lyrikerin, Sachbuchautorin und Uni-Dozentin auf Deutsch vorliegt. Mit ihrem essayistisch-hybriden, feministischen Schreiben über Kunst und Gewalt überschreitet Nelson Genregrenzen ebenso wie sie auf erfrischende Weise theoretische Reflexion mit intimer Erfahrung verknüpft. In den USA hat Maggie Nelson den Geheimtippstatus längst hinter sich gelassen, spätestens seit sie 2015 mit Die Argonauten ihrer Liebe zu dem*der Künstler*in Harry Dodge ein literarisches Denkmal setzte.

Niemand in ihrer Familie hatte zum Zeitpunkt jenes Anrufs gewusst, dass in dem damals 35 Jahre zurückliegenden Mordfall überhaupt noch ermittelt wurde. Zumal die Tat als geklärt galt; Serienkiller-Experten zählten sie zu den „Michigan-Morden“, trotz einiger Abweichungen vom Modus Operandi des „Ypsilanti Rippers“ John Norman Collins. Nicht, dass der Fall deshalb in Maggie Nelsons Familie je in Vergessenheit geraten wäre, schon gar nicht bei der Autorin selbst.

Maggie Nelson kam erst 1971 zur Welt und hat ihre Tante somit nie kennengelernt. Beschäftigt –und auf ambivalente Weise beeinflusst – hatte sie das Ganze jedoch früh. In den Roten Stellen erinnert sich die Autorin, wie sie sich etwa als Kind in die Badewanne legte, mit Münzen auf den Augen, oder immer wieder mit einem Messer in der Hand das Elternhaus nach einem Eindringling durchsuchte. Später kamen Drogen- und Alkoholprobleme dazu, aber auch der Drang, sich die eigene Verletzlichkeit bewusst zu machen, indem sie sich nachts auf Bahngleise legt oder beim Sex würgen lässt.

In den Monaten vor Schroeders Anruf war ihre „Identifikation“ mit dem Opfer sogar insofern kulminiert, als sie über ihre Tante gerade einen Gedichtband geschrieben hatte. Er sollte die politisch engagierte Jurastudentin Jane Mixer zumindest literarisch wieder ins Leben zurückholen. Die damals frisch verlobte 23-Jährige hatte nur nach einer Mitfahrgelegenheit gesucht, bevor man sie auf einem Dorffriedhof fand, bizarrerweise erschossen und erdrosselt.

Wie der Zufall es wollte, wurde Maggie Nelson kurz nach der Veröffentlichung von Jane. A Murder (2005) mit ihrer Familie in einem Gerichtssaal in Michigan nicht nur mit allen ihr bislang noch unbekannten schaurigen Details des Falles konfrontiert. Sie bekam auch endlich die Schreckensgestalt ihrer Kindheit zu Gesicht: „Hatte ich mir ausgemalt, dem ‚Gesicht des Bösen‘ zu begegnen, habe ich stattdessen das Gesicht von Elmer Fudd aus den Cartoons vor mir.“

Mit Recht distanziert sich Maggie Nelson von den gängigen Genre-Schubladen wie „Memoir“ oder gar „True Crime“. Die roten Stellen, das ist eine von beständigen Selbstzweifeln begleitete, ungemein vielschichtige „Meditation“ über die Beziehung von Zeit, Gewalt, Trauer, Tod und Gesellschaft. Denn die Wirkung eines solchen Verbrechens erstreckt sich über Jahrzehnte. Die Mutter der Autorin zum Beispiel erträumte sich zeitlebens einen autarken, undurchdringlichen Körper, ging aber nie wandern, aus Angst, über eine Leiche zu stolpern.

Als genaue Beobachterin ihrer Umwelt und ihrer Gefühlszustände verfolgt Maggie Nelson das Schulterklopfen längst pensionierter Cops bei ihrem Wiedersehen vor Gericht im Kontrast zum Auftritt junger, selbstbewusster Forensikerinnen des 21. Jahrhunderts. Beweisstücke werden wie Reliquien präsentiert, bis hin zur mit Glückskäfern gemusterten Unterhose des Opfers. Und dann entdeckt die Autorin, dass nicht nur sie selbst sich eifrig Notizen macht, sondern auch die Ehefrau des Angeklagten.

Meine Mutter und ich unterhalten uns nie mit Solly, doch wir halten uns mit ruhiger Höflichkeit gegenseitig die Türen auf, vielleicht in stillschweigender Anerkennung der Tatsache, dass wir uns bewusst sind, die Situation des jeweiligen anderen hier ist nur eine abgewandelte Ausformung der Hölle.

Der Prozess dient der Autorin zwar als roter Faden, doch ähneln Die roten Stellen eher einem Kaleidoskop: Puzzleteile, aus denen sich nach und nach die Geschichte von Nelsons dysfunktionaler Familie zusammensetzt, stehen neben gesellschaftskritischen Beobachtungen. Eine Reporterin versteckt sich dreist auf der Damentoilette, um Familiengespräche zu belauschen, und im Visier der Kameras von Sendungen wie „48 Hours Mystery“ muss der Richter die Geschworenen schwören lassen, stets zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden. Immer wieder grübelt die Autorin über die amerikanische Faszination von Gewalt, gerade gegenüber jungen weißen Frauen. Wie in einer Kinoaufführung von Taxi Driver, als sich Maggie Nelson inmitten junger männlicher Zuschauer wiederfindet, die begeistert mitgrölen: „Schon mal gesehen, was eine .44er mit einer Muschi anstellen kann?“

Ist ein „gerechtes Urteil“ möglich, zumal nach so langer Zeit? Maggie Nelson ist sich mit ihren Angehörigen einig in ihren Zweifeln am gängigen Konzept von „Gerechtigkeit“, und ebenso in ihrer Ablehnung der Todesstrafe. „Wenn deine Familie einen geliebten Menschen durch ein Gewaltverbrechen verloren hat, dann erhebt man seine Stimme, damit Befürworterinnen der Todesstrafe sich nicht weiterhin auf die Wut und die Trauer der Familien der Opfer berufen können zur Rechtfertigung ihrer Agenda.“ Umso erschütternder ist dann für sie der kollektive Gefühlsausbruch, in dem sie und ihre Angehörigen sich nach Urteilsverkündung wiederfinden. Zurück im Hotelzimmer sind jetzt alle begierig, sich in den Nachrichten wiederzusehen – die aber an diesem Tag längst von einem anderen Thema beherrscht werden.

Titelbild

Maggie Nelson: Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses.
Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
220 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265912

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch