Leonhard Frank, Sofie Benz und der Freud-Schüler Otto Gross

Von Petra BrixelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Brixel

Vorbemerkung der Redaktion: Der Beitrag von Petra Brixel übernimmt mit kleinen Änderungen Teile ihres 60 Seiten umfassenden Aufsatzes, der kürzlich im „Jahrbuch 2020“ der „Freunde der Monacensia e.V.“ unter dem Titel „Sophie lebte heute noch … und wir wären glücklich!“ Der Schriftsteller Leonhard Frank und die Malerin Sofie Benz – eine Liebesbeziehung im Lichte alter Briefe und des Romans Links wo das Herz ist (München: Allitera 2020,  S. 175-234) erschienen ist. Wir danken der Autorin, den HerausgeberInnen des Jahrbuchs und dem Allitera Verlag für die Genehmigung dazu. Der Beitrag ist im Zusammenhang mit Petra Brixels noch nicht abgeschlossener Arbeit an einer umfangreichen Biographie zu Sofie Benz, der Schwester ihrer Großmutter, entstanden. Sofie Benz war mit Leonhard Frank befreundet sowie mit dem im Februar 1920 gestorbenen Psychoanalytiker Otto Gross, mit dem sich etliche Bücher unseres Verlags LiteraturWissenschaft.de und Beiträge in literaturkritik.de befasst haben. T.A.

 

Nachdem die Malerin Sofie Benz im März 1911 ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte, kondolierte der Würzburger Schriftsteller Leonhard Frank der Mutter und fügte seinem Brief die bedauernden und gleichzeitig anklagenden Worte hinzu: „Sophie lebte heute noch, und wir hätten uns durchgerungen und wären glücklich, wären wir nicht getrennt worden durch einen Dritten.“ Viele Jahre später, als bekannter und geehrter Schriftsteller, lässt Leonhard Frank in seinem 1952 erschienenen Roman Links wo das Herz ist die Beziehung zu seiner Freundin Sofie Benz Revue passieren, indem er das persönliche Drama der Geschehnisse vor dem Ersten Weltkrieg aufrollt. Die Münchner Boheme in Schwabing und das pulsierende Leben im Café Stefanie mit seinen Protagonisten werden lebendig und mitten drin Leonhard Frank, Sofie Benz und der Psychiater Otto Gross. Jener Otto Gross war der „Dritte“, an dem die Liebe von Frank und Benz zerbrach.

In München lebte Leonhard Frank von 1904 bis 1909, studierte dort Kunst und wurde in den Cafés der Schwabinger Boheme mit einer Gesellschaft konfrontiert, die sich in einem Transformationsprozess befand und deren Werte auf den Prüfstand gestellt wurden. Pädagogik und Psychologie schufen sich dort ein neues Menschenbild. Und – wegweisend für Franks gesamtes späteres Werk – die junge Disziplin der Psychoanalyse versuchte sich mit bahnbrechenden Theorien und erstaunlichen Experimenten zu etablieren.

Leonhard Frank erlebte München in dieser Zeit als seine persönliche Bildungsstätte. Es waren die Jahre, in denen der Psychoanalytiker Otto Gross die Freud’schen Gedanken, gepaart mit eigenen – praktisch angewandten – Analysen in München verbreitete und nicht wenig Unruhe in das Caféhaus-Milieu brachte. Hier erlebte Leonhard Frank seine Liebe zu der Kunststudentin Sofie Benz, aber auch das für ihn traumatische Ende dieser Beziehung, initiiert durch den Psychiater Otto Gross. In seinem späteren Werk verarbeitete Frank das Thema Liebesbeziehungen und die Ideen der Psychoanalyse auf Basis von Freud und Gross.

Leonhard Frank (1882–1961) hat die damalige Gesellschaft und vor allem die Umtriebe des Arztes Otto Gross im Café Stefanie anschaulich geschildert und in einem eindrucksvollen Kapitel seine Beziehung zu der Kunststudentin Sofie Benz (1884–1911) dargestellt. Diese Schilderungen in Links wo das Herz ist wurden – auch unter der Prämisse, dass sie einem Roman entstammten – vielfach in der Literatur zitiert. Jedoch – manchmal gibt es Überraschungen. Das ist dann der Fall, wenn Briefe und Dokumente auftauchen, die Sachverhalte in ein anderes Licht rücken, wie es mit den Briefen von Sofie Benz geschehen ist! Diese lagen viele Jahrzehnte wohl verwahrt in einem Aktenkeller der Nachkommen der Familie Benz und werden derzeit einer genaueren Betrachtung und Bearbeitung unterzogen.

In diesem Konvolut befinden sich auch Briefe, die sich auf die Zeit von Leonhard Frank und Sofie Benz in Ascona und München – zwischen 1906 und 1909 – beziehen. Es ist die Korrespondenz zwischen Frank, Sofie Benz und deren Schwester Emilie. Sofie Benz hatte seit dem Jahr 1902, als sie ihr Kunststudium in München antrat, einen regen Briefwechsel mit ihrer elf Jahre älteren, in Mainz wohnenden Schwester Emilie, die an Sofies Freud’ und Leid teilnahm. Dazu kommen zwei Briefe Leonhard Franks, die er nach dem Tod von Sofie Benz schrieb.

Diese Dokumente aus dem Nachlass von Sofie Benz erlauben es, ein genaueres Licht auf die Geschehnisse der damaligen Zeit zu werfen und so auch einzelne Stellen im Roman von Leonhard Frank zu überprüfen. Lange nach Veröffentlichung des Romans besteht dadurch die Möglichkeit, manchem Sachverhalt mehr Detailschärfe zu geben, einiges datenmäßig genauer zu beleuchten und bislang Unbekanntes der Biographie Franks hinzuzufügen.

Sofie Benz wurde am 16. September 1884 in Ellwangen / Württemberg geboren und starb am 3. März 1911 in Locarno/ Tessin. Hinter diesen kurzen Lebensdaten verbirgt sich ein Schicksal, das eng verbunden war mit den Umbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Wirtschaft und Industrie sich intensiver wandelten als jemals zuvor – der Begriff ,Industrielle Revolution‘ mag das verdeutlichen –, als die neue Disziplin der Psychologie Fuß fasste und die Ideen einer sexuellen Befreiung gesellschaftliche Gewissheiten infrage stellten, als Reformbewegungen unterschiedlicher Arten von Kunst, Musik und Tanz, aber auch Ernährungsweise, Körperertüchtigung und allgemeine Lebensführung beeinflussten.

Sofie Benz schildert in den Briefen von 1902 bis 1908 ihre persönliche Situation, repräsentativ für Künstlerinnen im Münchner Schwabing. Schon in ihrem ersten Brief 1902 an ihre Schwester Emilie erwähnt Sofie, dass die Mitstudentinnen sich ungezwungen kleiden, ohne Korsett und im Empirekleid. Das war dem neuen Zeitgeist geschuldet, und Sofie machte mit. In der regen Korrespondenz zwischen Sofie und Emilie Benz wird der Name Leonhard Frank erst ab Mai 1906 erwähnt, und zwar in einem Brief aus Ascona im Tessin. Deshalb kann man davon ausgehen, dass sie sich erstmals im Mai 1906 in Ascona bewusst begegnet sind.

Leonhard Frank – geboren am 4. September 1882 in Würzburg – war das jüngste Kind von Marie Frank (1852–1924) und Johann Frank (1850–1931). Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen zusammen mit einem älteren Bruder und zwei älteren Schwestern auf, der Vater arbeitete als Schreinergeselle. Leonhard Frank besuchte die evangelische Konfessionsschule, machte eine Schlosserlehre bei einem Fahrradmechaniker und war kurzzeitig Labordiener, bis er im Jahr 1904 nach München ging, um sich als Kunstmaler ausbilden zu lassen. Schon in Würzburg hatte er Kurse im technischen und freien Zeichnen im Polytechnischen Verein belegt.

In Leonhard Franks Roman Links wo das Herz ist treffen sich die beiden Kunststudenten in der Münchner Malschule von Anton Ažbe. Frank – alias Michael – habe schon damals einen Blick auf Sofie geworfen, schildert er in seinem Buch und beschreibt sie als

[…] eine zwanzigjährige primitive Madonna aus dem dreizehnten Jahrhundert, mit Stupsnase und einfach geschnittenen Augen im milden Jungfraugesicht. […] Sophie hatte einen kleinen Kopf, so rund wie ein Mädchenkopf sein kann. Das Gesicht – einfach gezeichnete Lippen, etwas zu starke Backenknochen und runde Stirn – war beständig von innen belebt.

Es sind vier Fotos von Sofie Benz erhalten. Ob sie sein Schönheitsideal war? Peter Cersowsky schreibt in einem Artikel über Leonhard Frank: „Vierkants [Franks, Anm. P. B.] Lebenspartnerinnen, in die er sich jeweils auf den ersten Blick verliebt, sind von gleichem Schlag: schlank, dunkelhaarig, hellhäutig und hochsensibel.“

In einer sehr viel späteren Erzählung von Leonhard Frank, in Michaels Rückkehr (1957), erscheint nicht nur namentlich, sondern auch wesensgleich eine Bildhauerin Sophie:

Sie war ein ernstes Mädchen. Sophie hatte ein ovales Madonnengesicht mit Stupsnase und auch die Gestalt einer primitiven Madonna. Dünn und dennoch alles rundlich, dazu seidiges braunes Haar.

Frank schildert in Links wo das Herz ist die Zuneigung zu Sophie (so die Schreibweise im Roman) bei ihrem Zusammentreffen in der Kunstschule Ažbe:

Sophie ging auf den Zehenspitzen um den glühenden Kohlenofen herum zu ihrer Staffelei. Es war warm und still. Alle arbeiteten. Die unbestreitbare Tatsache, daß er gleichberechtigt zu diesen Künstlern gehörte und jetzt auch noch heimlich einen Blick wechseln konnte mit Sophie, die zurücklächelte, schwellte Michaels Brust.

Vorangegangen sei allerdings – laut Franks Roman – schon einiges, was Sophie Benz und Michael Vierkant [Leonhard Frank, Anm. P. B.] sehr viel nähergebracht hatte. So habe Sophie ihn mit in das Café Stefanie genommen, wo sie Stammgast war. Dort soll er dem Psychoanalytiker Dr. Kreuz [Otto Gross, Anm. P. B.] atemlos zugehört haben. Was er mitbekam, verwirrte ihn, war er doch aus der fränkischen Provinz gekommen und nun im quirligen Schwabing geistig und emotional herausgefordert. Für ihn war das Künstlercafé Stefanie ein Schmelztiegel mit zu Beginn des neuen Jahrhunderts vielfältigen Denkströmungen, die alle durcheinander schwirrten, aufeinander prallten, interpretiert und analysiert, verworfen oder weiterentwickelt wurden.

Otto Gross, ein Anhänger Freuds, hatte die Freud’schen Theorien und die junge Psychoanalyse inhaliert wie die Luft zum Atmen und verbreitete sie mit Vehemenz und unter Hinzufügung eigener Gedanken und Theorien. Aus heutiger Sicht schlugen Freuds Theorien ein wie eine Bombe, mit entsprechend unberechenbarer Wirkung. Otto Gross verteidigte sie nicht nur und entwickelte die revolutionär neuen Denkmuster weiter, sondern setzte seine eigenen Theorien auch in die Praxis um. Der Psychiater hatte sich – so Franks Version – in den Kopf gesetzt, Sophie und Michael miteinander zu verkuppeln (so wie er sie aufgrund seiner Analysen später auch wieder trennte). „Daß Sophie, die er besonders schätzte, noch unberührt war, erschien ihm [Dr. Kreuz, Anm. P. B.] gefährlich komplexhaft und ihrer nicht würdig.“ Dies war Michael [Leonhard, Anm. P. B.] nicht unrecht, war er doch sehr schüchtern und hatte ihr „seit Tagen sagen wollen – wie sehr er wünschte, daß sie seine Freundin würde“.

Liebevoll schildert Leonhard Frank Sophie Benz’ „Ausdruck lebensmutiger Bereitschaft, die der Grundzug ihres Wesens war“. Wie aus vielen Briefen von Sofie Benz deutlich wird, hatte sie tatsächlich immer Gedanken für andere Menschen, wollte sie helfen, unterstützen, sich selbst zurücknehmend. So schreibt sie einmal: „Die Hauptsache ist, daß man genug Lebenslust hat.“ Diesen Wesenszug hat Leonhard Frank gut erkannt. Dass Sophie und Michael ein Paar werden, beschreibt er mit literarisch einfachen, aber poetischen Sätzen: „Michael und Sophie mußten die Liebe erst lernen. Er blieb die Nacht bei ihr. Die Ottomane war schmal.“

 

Leonhard Frank und Sofie Benz (ohne Datum, Foto Privatarchiv Petra Brixel)

Warum Leonhard Frank in seinem Roman das Kennenlernen und den Beginn ihrer Liebe im Café Stefanie in München spielen lässt, warum er Sofie Benz als Mitstudentin bei Ažbe schildert, warum er dem Psychotherapeuten Otto Gross dabei eine so bedeutsame Rolle zukommen lässt, und warum er vor allem die gemeinsame Zeit in Ascona in seinem Buch nicht erwähnt, ist ungeklärt. Denn nicht im Café Stefanie, nicht in der Malschule Ažbe und auch nicht unter der Regie von Otto Gross kamen sich Sofie Benz und Leonhard Frank näher, sondern bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Anfang Mai bis Mitte Juni 1906 in Ascona im Tessin am Lago Maggiore.

Die Version mit der Verkuppelung durch Otto Gross, der Ottomane und dem legendären Café Stefanie passte Frank offensichtlich besser in das Konzept des Romans. Dies unterstreicht somit die Feststellung des Leonhard-Frank-Forschers Hans Steidle: „Die Forschungen Werner Dettelbachers über die frühen Jahre Leonhard Franks haben Vereinfachungen, Glättungen und Auslassungen in Links wo das Herz ist bestätigt.“ Unter dieser Prämisse ist festzustellen, dass Leonhard Frank seinen Aufenthalt in dem Tessiner Städtchen Ascona in seinen Lebenserinnerungen nicht erwähnt. Dass er tatsächlich in Ascona war, lesen wir in dem Buch von Franks Mutter Marie Wegrainer [Pseudonym, Anm. P. B.] Der Lebensroman einer Arbeiterfrau: „Seine Guitarre, die ihn früher auf allen Reisen, nach Florenz, Genua, Askona am Lagomaggiore und so weiter, begleitet hatte, die Mutter hatte sie aufgehängt […].“

In Ascona widmen sich Sofie Benz, ihre Freundin Anna und Leonhard Frank der Kunst. Sie malen. Erhalten geblieben ist nichts davon, auch kein Skizzenbuch. Die Abende verbringen sie in der Trattoria delle Isole. Hier befinden sie sich im Kreise einer illustren Gesellschaft, hier werden allabendlich Streitgespräche geführt, Freundschaften geschlossen und auf den Prüfstand gestellt, Politik, Gesellschaft, Philosophie, Theosophie, Vegetarismus, Anarchismus, die Freud’sche Psychoanalyse und die ,Revolution‘ heiß diskutiert.

Wie werden sich die drei aus München gefühlt haben in dieser Gemeinschaft von Weltverbesserern? Dass sich zumindest Sofie Benz nicht wohl fühlt, lässt sich aus ihrem ersten Brief aus Ascona erahnen. Die Menschen, die abends in der Wirtsstube in großen und kleinen Gruppen zusammensitzen, beeindrucken sie nicht, sie sind ihr äußerlich fremd. Nur Frank ist ihr sympathisch. Sofie Benz will in Ascona weder zur Revolution beitragen noch steht sie dem Anarchismus nahe. Sie will malen. So ist auch ihr Urteil über die „Tafelrunde“ zu sehen:

Er [Frank, Anm. P. B.] ist ein netter Mensch, denn die andern sind alle ekelhaft. Es reizt fast zum Lachen, die Typen zu sehen, die abends an der Tafelrunde sitzen. Zwei Dichterlinge, eingebildete Affen, drei Vegetarier mit langen Haaren u. härenem Gewand (wohnen in Höhlen), ein verkommenes Genie, der reinste Verbrechertypus u. ein Anarchist, der auch so derartig aussieht.

Doch wer gehört zu der „Tafelrunde“, von der Sofie Benz schreibt? Sie nennt keine Namen, aber ein Polizeibericht erklärt mehr. Denn diese Tafelrunde wird beobachtet; zu ungewöhnlich sind die Teilnehmer, zu verdächtig ihre Gespräche. Regierungskommissar Franchino Rusca schreibt in einem Polizeibericht an die Zentralpolizeidirektion in Bellinzona am 24. Juni 1906, den er nach den Aussagen von Informanten, Wachtmeister Noseda und eigener Untersuchung anfertigt, um wen es sich bei den abendlichen Zusammenkünften handelt.

Mit Wachtmeister Noseda habe ich mich nach Ascona begeben um die Privathäuser zu besuchen in welchen […] diese Fremdlinge verkehrt hatten. […] Mitte Mai betrug die Zahl dieser ungewöhnlichen Besucher Ascona’s etwa fünfzig. […] Immerhin berechtigt das Verhalten der von mir signalisierten Gruppe einiges Mißtrauen. […] Zu den schon genannten Personen sind noch folgende zu nennen: Otto Dreidner, Student in München, Erik Muhsam, Berlin, Frank Leonhard, München, Jeanne Hammer, Malerin von Metz, Felwangen August, ohne Angabe der Herkunft, Dr. Gross von Graz. Dieser Letztere war der wohlhabendste und verliess Ascona als einer der ersten, aus dem Ausland sandte er Geld der bereits genannten Haag. Kaum war er fort, schrieb er von Mailand aus seinem Logisgeber in Ascona er habe ein Päckchen in seinem Zimmer vergessen, man solle es sofort vernichten und zwar mit möglichster Vorsicht weil es Gift enthalte. […] Frick befindet sich in Ascona/ Haus Bacchi.

Kommissar Rusca gibt keine Begründung für sein Misstrauen, doch hatte er einige Tage zuvor bereits einen Bericht an die Polizeidirektion geschrieben:

[…] fühle ich mich doch verpflichtet, Ihnen Kenntnis zu geben von dem seit wenigen Monaten erfolgten Auftauchen gewisser Elemente in Ascona und über deren Treiben. Was sie bis jetzt in Ascona getan und was sie überhaupt machen, weiß man nicht; nur eines ist gewiß, daß sie sich bei verschiedenen Familien einlogiert haben und sich täglich bald da bald dort vereinigen und anarchistische Reden führen. […] so kann doch aus dieser Mitteilung und an den Beobachtungen geschlossen werden, daß wir es da mit Fanatikern zu tun haben. Locarno, 18. Juni 1906, nach der Übersetzung im Bundesarchiv Bern.

Und weiter unten im Bericht werden unter den Teilnehmern der Diskussionsrunde auch „zwei deutsche Studentinnen Anna Haag und Sophie Benz“ aufgeführt. Anschließend schreibt Rusca: „Ich werde meine Nachforschungen fortsetzen und sie überwachen lassen. Da ihre Schriften unvollständig waren, habe ich ihnen zehn Tage Zeit gegeben um die Sache in Ordnung zu bringen.“

Am 22. Juni legt Rusca weitere Informationen zu überwachten Personen nieder und schreibt u. a.: „Die beiden Frauenzimmer, die ich in meinem Schreiben vom 18. dies [sic!] erwähnte, wiesen keine Ausweisschriften vor. Ich werde mich nach Ascona begeben, um an Ort und Stelle Nachforschungen anzustellen, auch bezüglich weiterer noch nicht erwähnter Personen.“ Über „Dr. Otto Gross von Graz“ lässt sich Kommissar Rusca in seinem Bericht intensiver aus. Der Schicksalsweg von Sofie Benz, der eng verbunden ist mit Otto Gross, beginnt in dieser Tafelrunde, in der Trattoria delle Isole in Ascona. Hier lernen Sofie Benz, Anna Haag und Leonhard Frank den Psychiater Otto Gross kennen. Noch ist die Bekanntschaft oberflächlich, aber sie geht doch schon so weit, dass Otto Gross nach seiner Abreise aus Ascona Anna Haag Geld schickt. Warum gerade Haag? Es lässt sich gut vorstellen, dass die drei jungen Leute in der Trattoria von ihren Geldsorgen berichtet haben; ganz sicher werden sie von München erzählt haben. Im Gespräch wird sich herausgestellt haben, dass Anna Haag genau in der Psychiatrischen Klinik als Patientin war, wo Otto Gross im Herbst als Assistenzarzt bei Professor Kraepelin anfangen wird. Da gab es eine Menge auszutauschen. Es fanden sich Gemeinsamkeiten, die Otto Gross dazu veranlassen, Anna Haag Geld zu schicken.

Im Herbst 1906 zieht Otto Gross mit seiner Frau Frieda – die seit Mai schwanger ist – von Graz nach München, arbeitet dort in der Psychiatrischen Klinik und wird Stammgast im Café Stefanie. Dann erst wird aus der Bekanntschaft von Ascona eine Freundschaft.

Und noch eine weitere Freundschaft nimmt in Ascona – allerdings schon im Jahr 1905 – ihren Anfang: die zwischen dem Schriftsteller und Anarchisten Erich Mühsam und dem Arzt Otto Gross. Mühsam ist seit dem 4. Mai 1906 in Ascona; in einem Brief vom folgenden Tag an Karl Kraus schwärmt er ähnlich wie Sofie Benz zur selben Zeit: „Hier ist’s herrlich. Am Tage wundervollste Sonnenglut – noch ohne drückende Schwüle, aber doch so, daß ich jetzt gleich im See baden werde, nachts kühle, klare, durchsichtige Luft.“ Mühsam berichtet seinen Eltern am 13. Juni 1906 auch von Otto Gross:

Seit 8 Tagen bin ich wieder in Ascona, und stecke bis über die Ohren in Arbeit. Es sollen in diesem Jahr noch 3 Bücher von mir herauskommen; außerdem besorge ich die sehr schwierige Aufgabe der Herausgabe der Aufzeichnungen des hier lebenden Naturphilosophen Carl Gräser […]. Von Wien aus werde ich […] für ein bis zwei Tage nach Graz hinüberfahren, wo ich […] von dem Privatdozenten der Medizin eingeladen bin, der mir eine, meiner Meinung nach, sehr bedeutende Arbeit im Manuskript zur Begutachtung hergeschickt hat, die sich mit psychophilosophischen Theorema beschäftigt. Ich lernte den Herrn im vorigen Jahr hier kennen und wir haben uns angefreundet.

Der Psychoanalytiker Dr. Otto Gross spielt im Leben von Leonhard Frank und Sofie Benz eine ganz entscheidende Rolle. Geboren ist er am 17. März 1877 in Gniebing in der Steiermark, aufgewachsen in Graz als Sohn des berühmten österreichischen Strafrechtsgelehrten und Begründers der wissenschaftlichen Kriminalistik, Hans Gross. Er studiert Medizin und Psychologie und wird ausgebildeter Psychiater, promoviert 1899 zum Doktor der Medizin. 1900 arbeitet er als Schiffsarzt in Südamerika. 1901/02 ist er Assistenzarzt in München und Graz, 1902 wird er wegen Drogenabhängigkeit in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich behandelt. 1903 heiratet er Frieda Schloffer. Für 1905 und 1906 sind Aufenthalte in Ascona nachgewiesen, dabei 1906 ein erneuter Drogenentzug. Bei dieser Gelegenheit nimmt er an der Tafelrunde teil. Leonhard Frank erinnert sich noch nach vielen Jahren an Otto Gross in Ascona, auch wenn er seine eigene Anwesenheit verschweigt. Er schreibt in seinem Roman Links wo das Herz ist:

Im Juni fuhr der Doktor an einen der großen Seen, an dessen bewaldetem Ufer das Sanatorium stand, in dem er sich der Entwöhnungskur unterziehen wollte. Er stieg in einem kleinen Gasthof am See ab. Der Doktor hatte immer nur im Kokainrausch zu arbeiten vermocht. Aus Furcht, nach der Entwöhnung nicht mehr arbeitsfähig zu sein, schrieb er mit Hilfe riesiger Dosen Kokain im Laufe von vier Tagen und vier Nächten seine Erkenntnisse und neuen Hinweise auf dem Gebiete der Psychoanalyse nieder […]. Die Kokainschachtel war leer. […] Nach vier Wochen fuhr der Doktor heim, sonnverbrannt und durch und durch gekräftigt, ein gründlich geheilter Mann. Sie gaben von einer Stunde zur anderen die möblierte Wohnung auf und fuhren in die Schweiz. Ein Jahr später kehrten sie mit einem gesunden Knaben nach München zurück.

Weder die zeitliche Folge noch inhaltlich entspricht Franks Schilderung der Wirklichkeit, denn Gross war bereits 1905 erstmals in Ascona, er ließ sich nicht für ein Jahr mit seiner Frau in der Schweiz nieder, und der „gesunde Knabe“ wurde in München geboren.

Ein dramatischer Vorfall ist in diesem Frühjahr 1906 im Zusammenhang mit Otto Gross von Interesse, und es mag irritieren, dass weder Sofie Benz in ihren Briefen noch Leonhard Frank in seinem Buch die Aufsehen erregende Begebenheit erwähnen: Am 21. April, nur knapp zwei Wochen vor Sofie Benz’, Anna Haags und Leonhard Franks Ankunft in Ascona, vergiftet sich die aus Berlin stammende Lehrerin Lotte Hattemer, Aussteigerin, Mitbegründerin der Kolonie und eine der schillerndsten Bewohnerinnen des Monte Verità. Lotte Hattemer hat seit 1900 auf dem Monte Verità unter einfachsten Bedingungen gelebt. Erich Mühsam widmet Lotte in seiner Schrift Ascona im Jahr 1905 ein Kapitel:

[…] so hat Lotte unbedingt Anspruch darauf, als originellstes Wesen der ganzen Gegend angesprochen zu werden. […] Ihre Originalität hat einen starken Einschlag ins Groteske, Abenteuerliche, Absurde. […] Irgendwo im Freien verstreut, liegt eine Decke und ein Reisigbündel. Das ist Lottens [sic!] Nachtlager. […] In dieser Umgebung haust die Lotte nun seit Jahren mutterseelenallein. Ob sie sich dabei glücklich fühlt? Sie tut so. […] Den Einfluss verborgener Kräfte hinter den Dingen zu erkennen, rastlos sich hinzugeben, aufzugehn im Gefühl der Gotteskindschaft, demütig anzubeten und im Glauben zu leiden […]. Daraus entspringt auch wohl die Zwiespältigkeit ihrer Wesensäusserungen.

,Santa Lotte‘, wie sie aufgrund ihrer geheimnisumwitterten Erscheinung auch genannt wurde, fehlt in keinem Buch über den Monte Verità. Gemeinsam ist allen Beschreibungen, dass Lotte auf den von ihr selbst gewählten Tod zusteuerte. Hatte niemand hinter ihrer Schrulligkeit eine psychische Not erkannt? Fiel sie überhaupt auf in diesem Konglomerat von Sonderlingen, die sich auf dem Monte Verità und in Ascona aufhielten?

Lotte Hattemer vergiftet sich, und jemand muss ihr den Giftcocktail gemischt haben. Otto Gross kommt allerdings noch nicht in Verdacht; erst drei Jahre später heißt es in einem Polizeibericht: „Dr. Otto Gross aus Graz war im April während 12–20 Tagen in Ascona und verreiste gerade am Tage vor der Vergiftung und dem Tode Charlot- te Hattemer.“ Und erst im Jahr 1913 gibt Otto Gross, als er in der Privat-Heilanstalt Tulln behandelt wird, Auskunft über seinen Anteil am Selbstmord Lotte Hattemers:

Ich lernte die Dame Lotte Kattemer [sic!] in Ascona kennen […]. Wie ich sie damals sah, erkannte ich, dass sie schwer unter einem Komplexe leide. […] Ich erklärte ihr – um ihr Vertrauen zu gewinnen – meine Liebe, händigte ihr meine Schachteln mit Gift (5 g Kokain und 10 g Morphium) ein [sic!], sagte ihr, dass ich nach Graz abreise, sie möge mir dahin nachkommen oder das Gift nehmen; doch dürfe sie dies erst nehmen, wenn ich abgereist sei […]. Von diesem wirklichen Vorgange, so wie er sich tatsächlich abgespielt hat, wissen nur meine Freunde, die Anarchisten, die mich nicht verraten haben und nicht verraten werden.

Nur knapp zwei Wochen nach dem letztlich nicht aufgeklärten Selbstmord einer ortsbekannten Deutschen müsste dies eigentlich noch Gesprächsthema gewesen sein. Otto Gross, der laut Polizeibericht verschwunden war, kommt bald wieder zurück, sonst hätte Kommissar Rusca nicht im Juni 1906 über seine Anwesenheit schreiben können. Otto Gross hat das Leben eines psychisch kranken Menschen in seine Hand genommen. Nur fünf Jahre später wird er hier in Ascona wieder mit einem Suizid in Verbindung gebracht – dann wird Sofie Benz zur Grabe getragen.

In Links wo das Herz ist erzählt Leonhard Frank nichts von seinem Aufenthalt in Ascona, obwohl er in dem Bericht des Regierungskommissar Rusca namentlich erwähnt wird. In seinem Roman [hier Michael genannt, Anm. P. B.] kommt er Sophie in München unter der Aufsicht von Dr. Kreuz [Otto Gross, Anm. P. B.] näher. Er lernt den Arzt erstmals im Café Stefanie kennen, wohin ihn seine Kommilitonin Sophie mitgenommen haben soll. „Diesen Abend saß auch Michael am Tisch. Er hatte Sophie in der Malschule kennengelernt und sie ins Café begleitet, in dem er vorher nie gewesen war.“

Die Wirklichkeit in Ascona war romantischer und selbstbestimmter, denn sie zeigt – wie den Briefen von Sofie Benz zu entnehmen ist – zwei Menschen, die sich aus freien Stücken erwählt haben, und für die Ascona das erste Liebesnest war. Hat Leonhard Frank seinen Aufenthalt in Ascona bewusst nicht erwähnt, weil er seinen ersten Kontakt mit ,Weltverbesserern‘ literarisch wirksamer ins Café Stefanie verlegen wollte? Beabsichtigte er, in seinem Buch dem Psychiater Otto Gross eine noch hinterhältigere Rolle zuzuschreiben?

Im September 1906 fängt Otto Gross als Assistenzarzt in der Psychiatrischen Klinik bei Emil Kraepelin in München an. Die Biografin seiner Frau Frieda Gross, Esther Bertschinger-Joos, schreibt, dass Frieda Gross, schwanger mit dem ersten Kind, Anfang September zur Kur nahe Salzburg weilte und Otto Gross in Mazedonien war und erst im Laufe des Monats zurückkam und das Ehepaar im Oktober eine Wohnung in München bezog. Sie vermutet:

Vielleicht aber hat er [Otto Gross, Anm. P. B.] auch schon ,die Künstler‘ im Visier, […] Vielleicht hat er in Ascona die freiere Luft geschnuppert, die Fäden geknüpft zur Münchener Bohème. Was er denkt, was er formuliert, will er jetzt auch ins praktische Leben bringen. Dafür braucht er Menschen: Gegenüber, die ihm zuhören, die er von ihren Leiden, ihren Ängsten, ihren Abhängigkeiten befreien will. Menschen, die an ihn glauben, sich ihm ausliefern, bereit sind, ihrem Leben einen neuen, anderen Sinn zu geben. Frieda hofft mit ihm auf eine bessere Zukunft. […] Auf jeden Fall hat sie jetzt ein neues Ziel: ihr Kind. Damit wird sie beschäftigt sein.

In den Wochen nach ihrer Rückkehr tauchen Leonhard Frank und Sofie Benz in die Münchner Boheme ein, sie finden ihren Platz im Café Stefanie, einer der Mittelpunkte des Künstlerlebens im Schwabing vor dem Ersten Weltkrieg. Dort sind sie regelmäßige Besucher, und sie erleben die Boheme so pulsierend, anregend und aufregend, wie sie Leonhard Frank in seinem Buch schildert. Dass Sofie Benz und Leonhard Frank sich dem Otto-Gross-Kreis anschließen, ist nur zu verständlich, kennen sich doch die Teilnehmer schon von der Tafelrunde in Ascona: neben Otto Gross auch Erich Mühsam, Johannes Nohl, Otto Buek und Ernst Frick. Leonhard Frank verbindet die Beschreibung des Dr. Otto Gross in seinem Roman mit einer Milieustudie des Café Stefanie.

So schillernd wie die Gäste des Café Stefanie waren, so vielfältig waren die Kreise, in denen sich Literaten, Philosophen, Künstler und – auch hier, wie in Ascona – die ,Weltverbesserer‘ trafen. Leonhard Frank schreibt in seinem Roman:

Auch Doktor Otto Kreuz hatte einen Kreis von Anhängern. An seinem Tische saßen ein knochenmagerer, zwei Meter langer Russe […], Fritz, ein verbummelter Student aus Karlsruhe, […] ein junger Schweizer Anarchist […] und die Malerin Sophie Benz […]. Doktor Kreuz, dreißig Jahre und verheiratet, hatte an der Grazer Universität Psychiatrie studiert. Die Oberpartie seines Gesichtes […] stimmte nicht überein mit der schwächlichen Unterpartie […]. Wer das fanatische Vogelgesicht, das aus leicht getöntem Porzellan zu sein schien, einmal gesehen hatte, vergaß es nie. Doktor Kreuz kannte die Philosophie Nietzsches mit dem Herzen und war einer der frühesten Anhänger Freuds.

Viel Freude hat Otto Gross im Herbst 1906 nicht an seiner Tätigkeit als Psychiater in der Klinik bei Emil Kraepelin, denn seine Vorstellungen von einer gelungenen Therapie weichen stark ab von Kraepelins Methoden. So schreibt Bertschinger-Joos:

Doch die Schwierigkeiten lassen nicht lange auf sich warten. Kraepelins strenge Moral und seine Abneigung gegenüber der Psychoanalyse vertragen sich schlecht mit Ottos Vorstellungen von Ursache und Heilung psychischer Störungen. Die klinische Psychiatrie interessiert Otto kaum mehr, zu sehr hat er sich schon auf die Freud’sche Lehre eingelassen und sie durch eigene Theorien ergänzt. […] Die Folgen sind Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten, die schon nach wenigen Monaten zu Otto Gross’ unrühmlichem Abschied von der Klinik führen.

Nach seiner Entlassung aus der Klinik Kraepelin – was man auch als selbstinszenierten Rauswurf bezeichnen könnte – arbeitet Otto Gross erst wieder im Ersten Weltkrieg an einer Klinik. Zu seinen Veröffentlichungen ab 1901 kommen ab 1907 wissenschaftliche Abhandlungen mit den Titeln Das Freudsche Ideogenitätsmoment und seine Bedeutung im manisch-depressiven Irresein Kraepelins (1907), Diskussionsbeiträge auf dem Psychiatriekongress in Amsterdam (1907), Die cerebrale Sekundärfunktion (1908), Elterngewalt (1908) und Über psychopathische Minderwertigkeiten (1909).

Briefe von Sofie Benz zeigen, dass der Einfluss von Otto Gross auf sie und Leonhard Frank wirksam wird. Sofie steht zudem Frieda Gross so nahe, dass sie in jedem dieser Briefe von der Geburt des ersten Kindes von Otto und Frieda schreibt, vom kleinen Peter, der am 31. Januar 1907 geboren wird.

Der erste Brief des Jahres 1907 an ihre Schwester ist undatiert, doch ist dem Schluss zu entnehmen, dass er am 30. oder 31. Januar geschrieben wurde.

Falls du gerade Geldflut haben solltest, bitte ich dich, mir ein wenig zu schicken. – Ich bin sehr nervös u. weiß nicht, wie es besser werden soll. Dr. Groß hat sich mir schon vor Wochen angeboten u. mich gebeten, ich möchte mit ihm als Freund u. Arzt sprechen, es sei unbedingt nötig für mich. – Ich war damals sehr barsch, sagte ihm, ich brauche ihn nicht u. bin ihm ausgewichen. Jetzt ist er selbst durch Frieda sehr aufgeregt u. nicht zu sprechen. […] Frieda ist seit 8 Tagen im Sanatorium. Heute Morgen hat aber erst die Geburt angefangen.

Sofie Benz befindet sich Anfang 1907 – möglicherweise schon seit sie aus Ascona zurückgekehrt ist – in einer schwierigen finanziellen Lage. Sie leidet unter ihrer ungewissen Zukunft. Genau das ist es, was der Psychoanalytiker Otto Gross mit sicherem Instinkt sucht: Es ist das aus seinem Innersten kommende Bedürfnis, seine Mitmenschen zu analysieren und sie mit seiner Methode zur seelischen Gesundung zu bringen.

In Sofie Benz’ Brief lesen wir Sätze, die viele Gäste des Café Stefanie gehört haben: Otto Gross bittet sie, mit ihm als „Freund und Arzt“ zu sprechen. Mit seiner analytischen Beobachtungsgabe kann Otto Gross seine potenziellen Patienten mühelos identifizieren. Als Arzt und Psychiater kennt er sich nicht nur aus in den Krankheitsbildern seiner Mitmenschen, die ein Abbild des „ganzen Leidens der Menschheit“ sind; er besitzt auch die rhetorische Fähigkeit, sie so anzusprechen, dass sie sich ihm öffnen.

Positiv gesehen hat er die Begabung und mehrjährige Expertise, auf Menschen in instabilen Lebensphasen einzugehen. Problematisch gesehen nutzt er ihre Situation aus und findet genau die Schwachstellen, wo er ansetzen kann, um sich als „Freund und Arzt“ unentbehrlich zu machen. Otto Gross macht die neue Disziplin der Psychoanalyse zu seiner Leidenschaft, er setzt die analytischen Methoden in die Praxis um. Dabei ignoriert er die Gefahr einer psychologischen Überforderung – die seiner Patienten sowie seiner eigenen.

Dennoch – nicht jeder nimmt Otto Gross’ Angebot eines Gesprächs an; manche lassen sich zwar auf eine Analyse ein, sind aber in der Lage, eine rote Linie zu ziehen, wie z. B. der Schriftsteller Erich Mühsam, der Gross von Ascona her kennt. Am 28. Mai 1907 schreibt Erich Mühsam an Sigmund Freud:

Hochgeehrter Herr Professor, ich bin Ihnen Dank schuldig für die Heilung einer schweren Hysterie, die Ihr Schüler, Dr. Otto Groß aus Graz nach Ihrer Methode an mir bewirkt hat. […] Herr Doktor Groß, mit dem ich freundschaftlich verkehre, erzählte mir viel von der kathartischen Methode und nahm mich auf meine Bitte hin in Behandlung. Der Erfolg war über aller Erwarten günstig. Ich wurde im Laufe von ungefähr sechs Wochen vollständig geheilt.

Allerdings hat Mühsam dann die Behandlung abgebrochen, „als der Arzt Fragen stellte, die sich auf allerverschwiegenste Dinge des erotischen Lebens bezogen, und die ich ihm mit der kurzen Erklärung beantwortete: ,Das geht dich einen Dreck an‘!“

Andere können sich dem Einfluss von Otto Gross nicht entziehen, mit weitreichenden Folgen. Sofie Benz gehört zu denjenigen, die an den Folgen zerbrechen. Auch sie wehrt sich zunächst, in den Bann des Arztes gezogen zu werden, doch die Unsicherheit, wie es mit ihr weitergehen wird als Malerin ohne Einkommen, und der Selbstzweifel, ob sie überhaupt eine gute Künstlerin sei, machen sie nervös. Leonhard Frank kann ihr keine starke Schulter sein. Auch er, der sich einige Jahre später von der bildenden Kunst ab- und der Schriftstellerei zuwenden wird, könnte schon zu diesem Zeitpunkt Zweifel angesichts einer Zukunft als Kunstmaler gehabt haben.

Der Brief Ende Januar 1907 lässt zwar erkennen, dass Sofie Benz noch die Kraft zur Selbstbestimmung hat, aber dass ihr Schicksal auf der Kippe steht. Sie kommt nicht von der Familie Gross los; aber will sie es denn? Offensichtlich fühlt sie sich von Frieda und Otto Gross angenommen und respektiert. Anfang Februar schreibt sie: „Das Kind ist da, ein Bub u. s’ geht alles gut.“ Und in einem weiteren Brief: „Frieda geht’s sehr gut, ich war vor einigen Tagen dort und der kleine Wolfpeter sieht gar nicht wie ein Neugeborenes aus, ist groß u. wie mindestens 1 Monat alt.“

Dass sie ihre Schwester Emilie mit Nachrichten über die Geburt des kleinen Peter versorgt, lässt vermuten, dass Emilie über die Beziehung von Sofie zur Familie Gross gut informiert ist. Wahrscheinlich hat Emilie bei Besuchen in München auch Frieda und Otto Gross kennen gelernt.

Dem Meldebogen der Stadt München ist zu entnehmen, dass Leonhard Frank und Sofie Benz ab Januar 1907 – zunächst unangemeldet, dann angemeldet – zusammenwohnen. Doch nimmt der Einfluss von Otto Gross zu. In zwei Briefen Anfang Februar 1907 beschreibt Sofie Benz die sich entwickelnde Freundschaft zu Otto Gross. Sie fühlt in ihm einen Seelenverwandten. Während sie noch am 31. Januar von ihrer barschen Zurückweisung des Arztes berichtet, so hat sich ihre Haltung inzwischen gewandelt. „War heute den ganzen Nachmittag mit Dr. Groß zus. u. wir werden’s öfter so machen“, schreibt sie kurz nach der Geburt des kleinen Peter Gross. Und nur wenige Tage danach: „Hoffentlich bist Du nicht besorgt um mich, es geht mir nämlich furchtbar gut. – Ich habe mit Dr. Groß enge Freundschaft geschlossen – u. er ist so ein wundervoller Mensch – es ist, wie wenn wir uns schon lange v. früher her kennten.“ Sofie Benz erwähnt ihren Freund Leonhard Frank zu diesem Zeitpunkt in ihren Briefen zwar nicht, aber später wird sie wieder von ihm schreiben. Anfang des Jahres 1907 sind Otto Gross, Leonhard Frank, Sofie Benz und auch Erich Mühsam – den Benz und Frank von Ascona kennen – nächtelang zusammen. Das ist von Frieda Gross zu erfahren, die am 23. März einen Brief an ihre Freundin Else Jaffé schreibt und darin auch die neue Sichtweise auf das eheliche Zusammenleben – allerdings nicht ohne Bitterkeit – zum Ausdruck bringt:

Ich habe mich seit einiger Zeit schon in einen Engel verwandelt, der immer lieb ist, sich über nichts ärgert u. s. w. Ernstlich: Wir haben einen Pact geschlossen, dass er [Otto Gross, Anm. P. B.] von mir aus absolute Freiheit haben soll und ich halte den Pact. […] Und es ist ein Erlebnis, wenn man bewusst alle Einflussnahme auf das Leben eines so geliebten und so in sich selbst bedrohten Menschen aufgiebt. […] Nachts geht er Dschiu-Dschitsu und dann teil ich ihn meist mit Mühsam, Frank oder Benz. […] Und es regt sich auch wirklich eine gewaltige psychologische Neugier in mir, diesen Freiheitserfolg in seiner Entwicklung mit anzusehen.

Frieda Gross hat beschlossen, sich nicht zu ärgern, dass ihr Mann Otto ihr ,abhanden‘ kommt. Sie will ihm die propagierte Freiheit geben, es als ,Erlebnis‘ betrachten, wenn sie die Einflussnahme auf sein Leben aufgibt, und das Loslassen im therapeutischen Sinne lernen. Eines Tages wird es ihr egal sein, wo und wie ihr Ehemann lebt, wen er liebt bzw. mit wem er Verkehr hat. Noch sieht sie diese ,Freiheit‘ als Experiment an. Friedas Sohn Wolfgang Peter ist im März 1907 knapp zwei Monate alt; da gibt Frieda dem Werben Erich Mühsams nach und wird für kurze Zeit seine Geliebte.

Zu dieser Zeit hat Otto Gross ein Verhältnis mit Friedas Freundin Else Jaffé, die im März von ihm schwanger wird. Im Sommer hat Else eine kurze Beziehung zu dem Heidelberger Arzt Friedrich Voelcker. Am 24. Dezember 1907 bringt sie auch einen Sohn Peter zur Welt, hat sich aber kurz vor der Niederkunft von Otto Gross getrennt. Ende des Jahres 1907 beginnen Frieda Gross und der Heidelberger Philosophieprofessor Emil Lask eine innige Beziehung, die im Mai 1908 endet. Im Sommer 1907 lässt sich eine weitere Frau von Otto Gross beeindrucken: Frieda Weekley, die in England verheiratet ist und ihre Schwester Else Jaffé in Deutschland besucht. Es wird nur eine kurze Beziehung, die jedoch in Otto Gross und Frieda starke Gefühle und einen regen Briefwechsel auslöst. Und während Else Jaffés Schwangerschaft – im Oktober 1907 – wird auch die Schriftstellerin Regina Ullmann, eine Analyse-Patientin von Gross, von ihm schwanger.

Sofie Benz und Leonhard Frank leben somit in einer Gesellschaft, die ,Boheme‘ genannt wird und innerhalb derer die Regeln des Otto Gross eine ganz besondere Strahlkraft entfaltet haben. Ein späterer Freund von Gross, der Schriftsteller Franz Jung, fasst das so zusammen:

Ein großer Kreis von Künstlern und sowieso kulturell interessierten Personen, insbesondere alles, was nach neuer Ethik suchte, […] lebte von der Diskussion über Gross. In und noch besser vor diesem Kreis spielte sich das Leben von Gross ab und zwar im buchstäblichen Sinne. […] Eine große Anzahl genialer Persönlichkeiten gerade noch in dieser Zeit ist in engstem Kontakt mit Gross gestanden, gewissermaßen in seine Schule gegangen.

In der umfassenden Untersuchung zum Leben und Werk von Otto Gross stellt der Schweizer Psychiater und Publizist Emanuel Hurwitz fest:

Es gehörte vielmehr zum Weltbild Otto Gross’, in der sexuellen Immoralität den wichtigsten Schritt zur Befreiung des Menschen überhaupt zu sehen. Die Freiheit, zu der er seine Patienten führen wollte, „Seximmoralisten“ zu sein, beanspruchte er auch für sein eigenes Leben und seine eigene Persönlichkeit. Er hat mit dieser Haltung auf Frauen wie auf Männer einen starken und tiefgreifenden Einfluß ausgeübt.

Otto Gross ist trotz seines Ende Januar 1907 geborenen Sohnes wieder ,auf Achse‘, d. h. in seinem Element, der Psychoanalyse. Leonhard Frank schildert in seinem Roman ausgiebig die Analysen des Dr. Kreuz [Otto Gross, Anm. P. B.]; er stellt diesen Vorgang allerdings inhaltlich komprimierter dar und zeitlich bis in die Jahresmitte verschoben. Er berichtet, dass Doktor Kreuz an ihrer Trennung massiv gearbeitet hat. „Aber der Doktor […] hatte durch die Analyse schon ermittelt, daß die Beziehung zwischen Michael und Sophie eine Komplexbeziehung sei, die zu Sophies Seelenheil radikal abgebrochen werden müsse.“

,Komplexbeziehung‘ ist einer von Otto Gross’ von C. G. Jung adaptierten Begriffen, mit denen er das ,gestörte Verhältnis von Mann und Frau‘ beschreibt und – in diesem Fall – durch Trennung des Paares therapieren will. Drei Jahre später wird er in einem Brief an Sofie Benz – die dann seine Geliebte ist – schreiben: „Durch diese Art der absolut gesicherten Verdrängung gelingt es dem Mann allein, die schwersten quälenden Complexe auszuschalten und sich erlöst zu fühlen. Die Constellation aber wirkt unterdessen im Unbewussten constellierend und im Verborgenen zerstörend und vergiftend auf die Frau.“

Wieder muss Sofies Schwester Emilie ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht haben, diesmal in einem Schreiben an Otto Gross, das aber nicht erhalten ist. Der Psychoanalytiker antwortet darauf, und es wird ersichtlich, wie tief die Analyse von Sofie Benz und Leonhard Frank bereits gegangen ist.

Das Verhältnis Sophie’s mit F. [Frank, Anm. P. B.] hat sich nun glücklicherweise so gestaltet, dass die beiden den gemeinsamen Hausstand aufgegeben haben. Ich bin für Beide sehr froh darüber – ich habe seit Monaten meinen ganzen Einfluss in diesem Sinne aufgeboten. […] Es ist auch notwendig, dass sich in Beiden das überzeugte Bewusstsein der Freiheit entwickelt – das Bewusstsein, einander gegenseitig keinerlei Beschränkung und Verpflichtung schuldig zu sein. […] Mein Wunsch geht nunmehr nur noch darauf, dass Sophie als Künstlerin wieder zur vollen Schaffensfreude gelangen möge. […] Verehrend küsst Ihre Hand, Dr. Otto Gross.

Abgesehen davon, dass dieser Brief bestätigt, dass Sofie Benz und Leonhard Frank einen gemeinsamen Hausstand haben, ist zu erahnen, dass sich seit Beginn des Jahres 1907 Otto Gross intensiv mit den beiden befasst und analytische Gespräche geführt hat. Es geht – so jedenfalls behauptet es Otto Gross – immer um beide, um Sofie wie auch Leonhard. „Keinerlei Beschränkung und Verpflichtung“ – dies ist das Lebenscredo des Otto Gross.

Sein Ziel ist die Trennung des Liebespaares. Gross gibt den beiden Zeit für diese Entwicklung; zunächst ist die räumliche Trennung notwendig. Sind die beiden überzeugt, oder gehorchen sie nur angesichts des suggestiven Einflusses des Psychiaters? Dr. Gross will primär das Beste für Sofie Benz: Widerstandsfähigkeit, Selbstständigkeit, Freiheit, Schaffenskraft. Sie soll ihr künstlerisches Talent ausschöpfen, Voraussetzung ist Bewusstseinserweiterung. Zum Programm gehören sexuelle Freizügigkeit, Grenzen sprengen, gesellschaftliche Konventionen in Frage stellen. Wie intensiv Leonhard Frank an den Analysen teilgenommen hat, ist nicht zu erkennen, auch nicht, ob er in den Entscheidungsprozess einbezogen ist. Geht es auch um seine Bewusstseinserweiterung, um sein künstlerisches Talent? Er wird davon profitiert haben, wie sein späteres literarisches Werk zeigt. Doch er muss dabei das Leid erfahren, Sofie zu verlieren. Auf jeden Fall zeigt die Analyse des Otto Gross die erste Wirkung, da sich Sofie Benz am 15. April 1907 von der Feilitzschstraße bei Frank abmeldet.

Laut Leonhard Franks Roman endet die Beziehung von Sophie und Michael abrupt im Frühjahr nach einem gemeinsamen Aufenthalt an einem See.

Im Frühling fuhren Michael und Sophie aufs Land. Doktor Kreuz [Gross, Anm. P. B.] gab Michael ein Dutzend ausgewählter Bücher mit […]. Für die zwei Verliebten im Badeanzug und manchmal ohne, die nichts wollten als einander, war dieses kleine Tal das Paradies, mit einer Insel als heimlichem Extra-Liebesnest.

So beginnt die Erzählung vom gemeinsamen Urlaub. Doch dann – dramaturgisch eindrucksvoll – kommen Sätze, die von der Zerstörung der Harmonie des Liebespaares berichten: „An einem Montagmorgen fuhr Sophie nach München, um Zeichen- und Malmaterial zu kaufen. Sie kam nicht zurück. […] Er fragte sich zum tausendsten Mal, warum sie nicht zurückgekommen war. Er fand keine Erklärung.“ Erst nach Wochen erfährt Michael, was geschehen war. Doktor Kreuz hatte Sophie analysiert und die Trennung als Ergebnis angeordnet. Als Michael nach München zurückkehrt, ist Sophie eine Fremde für ihn geworden: „Den folgenden Tag begegneten sie [Dr. Kreuz und Sophie, Anm. P. B.] Michael auf der Straße und gingen an ihm vorbei wie an Luft.“

Sofie Benz kehrt zurück nach München – und die Therapie des Dr. Gross geht weiter. Die Zweifel werden größer, Sofie ist auf dem Weg der inneren Klärung. Die Analyse umfasst auch Leonhard Frank. Viel später, in seinen Büchern, wird Frank die Theorien des Psychoanalytikers Otto Gross verarbeiten und in seinen Protagonisten sichtbar machen. Nicht nur im Café Stefanie erhält er also diese Lektionen, sondern auch in ganz persönlichen Therapiesitzungen.

Es ist Sofie bewusst geworden, dass sie zur Künstlerin geboren ist; es macht sie glücklich, dass Dr. Gross ihr seine Wertschätzung entgegenbringt. Der folgende Brief an ihre Schwester lässt Interpretationen zu, zeigt aber deutlich den starken Einfluss Dr. Gross’ auf Sofie Benz – und auf Leonhard Frank.

Hoffentlich hat dich mein Brief nicht beunruhigt. Es ist jetzt seit gestern so vieles in mir gelöst. Ich werde von den bedeutendsten Menschen geliebt u. hochgeschätzt u. dies Glück ist nur wenigen zuteil, aber ich vermochte es nie zu genießen, ich glaubte nicht daran. – Habe gestern mit Dr. Groß gesprochen – ich weiß, daß ich Künstlerin bin in der höchsten Bedeutung des Wortes u. was nachher für uns alle kam, Frank, Groß, Spela und mir, war ein schwerwiegendes Erlebnis. – Ich weiß momentan nicht, ist die Liebe in mir tot od. sammelt sie sich zu neuer Größe zu dem einen Menschen Frank. Jedenfalls bin ich ein großes Stück vorwärts u. freier. – Ich wollte ja erst fort von hier, aber es wäre eine große Feigheit […]. Wir Übergangsmenschen müssen stark sein u. kämpfen, u. wenn wir schließlich erliegen, unser Leben war nicht umsonst – Glück ist Leid.

Sofie Benz weiß nicht, ob sie Frank noch liebt oder wieder lieben wird. Sie und Frank hatten ein „schwerwiegendes Erlebnis“ in der Analyse; sie wird nicht vor ihren Problemen aus München nach Paris oder Berlin fliehen. Kämpfen und stark sein – die suggestive Kraft von Otto Gross und seinen Gedanken bestimmen diesen Brief.

Dass Otto Gross sie nun öfters besuchen wird, hört sich lapidar an, ist aber ein Hinweis darauf, dass Gross im Herbst 1907 die Analyse fortsetzt. Es ist also nicht – wie Leonhard Frank in seinem Buch schildert – ein abruptes Ende der Beziehung durch eine einmalige, zweiwöchige Analyse, sondern eine sukzessive Therapie zur Bewusstseinserweiterung, mit dem Ziel der Befreiung von seelischen Lasten und Zukunftsängsten. Ob Otto Gross sich schon als Liebhaber Sofies vorgesehen hat und ob er nun Leonhard Frank nach und nach ,aus dem Rennen‘ werfen will – wir wissen es nicht. Noch therapiert Otto Gross seine Patientin Regina Ullmann, noch schreibt Sofie Benz mit freudigen Worten von Leonhard Frank. Gleich im nächsten Satz, nachdem sie über die Ankunft von Otto Gross berichtet, erzählt sie, dass es Leonhard Frank sehr gut geht. Sie nimmt Anteil an Franks Leben.

Das folgende Jahr 1908 ist das entscheidende in der Beziehung von Leonhard Frank und Sofie Benz. Es gibt eine Menge Veränderungen und Umbrüche in beider Leben, es ist das Jahr des Abschieds von der Zweisamkeit. Was nach dem April 1908 zwischen Sofie Benz und Leonhard Frank geschieht, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich Ende 1908 vollzieht sich die Trennung, verlässt Sofie Benz Leonhard Frank.

Aus Briefen von Sofie Benz können wir in dieser Zeit keine Informationen bekommen, weil es keine Dokumente gibt. Es ist davon auszugehen, dass sie ein Leben führt, das immer stärker von Otto Gross bestimmt wird. Leonhard Frank zieht es nach Berlin. Durch Benz’ Brief vom April 1908 wird deutlich, dass er mit der dortigen Kunstszene Kontakt hat. Er wird zwischen München und Berlin gependelt sein. Am 22. Januar 1909 wird Leonhard Frank als Gründungsmitglied des Neuen Künstlervereins in München gelistet. Da hat er bereits sein Leben ohne Sofie Benz begonnen. Und während Sofie Benz und Otto Gross nun eine enge Beziehung eingehen, findet Leonhard Frank in Berlin eine neue Liebe. Er heiratet Lisa Ertel im August 1909.

Sofie Benz ist nach dem Weggang Leonhard Franks aus München ganz auf Otto Gross konzentriert. Der Kontakt zu ihrer Familie sowie zu der geliebten Schwester Emilie bricht fast vollständig ab. Nur noch wenige Briefe werden in den nächsten zwei Jahren gewechselt. Sofie Benz ist mit Otto Gross zusammen und angeblich nicht nur mit ihm. Damit entspricht sie den Theorien des Psychiaters von der ,freien Liebe‘. Leonhard Frank schreibt in seinem Roman dazu:

Doktor Kreuz, für den Eifersucht ein Komplex war, hatte eine radikale Umgruppierung vorgenommen. Er hatte seiner Frau, die er liebte und verehrte, den Schweizer Anarchisten zugeteilt, der jungen Witwe Spela den Russen, dadurch war Fritz frei geworden, der ihm auf Grund der Ergebnisse der Analyse als der brauchbarste Partner für Sophie erschien.

Sofie Benz durchlebt in ihren Beziehungen Höhen und Tiefen, so wie alle Frauen, die sich in Abhängigkeit von Otto Gross gebracht haben. Mehr und mehr übernimmt Sofie Benz die Diktion des Arztes, sie denkt in seinen Kategorien. Leonhard Frank schildert das in seinem Roman: „Michael fühlte den fremden Willen in ihr […]. Sie war nicht mehr sie. Als sie ein Wort hervorstieß, das der Doktor oftmals gebrauchte – er sei konstelliert – gab er den Weg frei.“

Tatsächlich gehört das Wort ,konstelliert‘ zu den Grundbegriffen von Otto Gross’ psychoanalytischem Vokabular. In einem Brief an Sofie Benz verbindet der Psychiater die Begriffe ,constelliert‘, ,Complex‘ und ,Revolution‘ miteinander und setzt diese Mischung in Beziehung zu seiner Frau Frieda: „Soweit nur Etwas constelliert gewesen war in meinem Empfinden zu Dir, bezog sich der Complex auf Dich als das Symbol der Revolution gegen das mütterliche Autoritätsprinzip d. h. natürlich gegen Frieda.“

In ihrer Rastlosigkeit halten sich Benz und Gross im Süden, an der Adria auf; sie trennen und vereinen sich wieder. Am 7. Januar 1911 meldet sich „Benz Sofia“ offiziell bei der Polizeidirektion des Kantons Tessin an, die Aufenthaltsgenehmigung geht bis 30. Juni 1911.

In einem Krankenhaus in Locarno stirbt Sofie Benz am 3. März 1911 an der Überdosis einer Mischung aus Kokain und Opium. Otto Gross stellt in einem Brief an die Zeitschrift Die Zukunft am 28. Februar 1914 die Tragödie wie folgt dar:

Das andere Argument, das gegen mich verwendet wird, ist: daß ich den Tod von Sophie Benz verschuldet haben soll. Daß da nicht Absicht und Fahrlässigkeit in mir bestanden hat, davon sind Alle überzeugt, die wissen, daß es damals um mein eigenes Schicksal gegangen ist. Sophie Benz hat sich wegen der Psychose, von welcher sie befallen war, vergiftet; man wird mir zum Vorwurf machen, daß ich sie nicht in eine Psychiatrische Anstalt gebracht habe. Daß ich es nicht gethan habe, ist mir das einzige Bewußtsein, welches tröstet.

Das Sterben von Sofie Benz in Ascona wird in der einschlägigen Literatur vielfach beschrieben, ein Kern davon ist wahr. Kein anderer Autor hat Sofie Benz’ Abschied vom Leben literarisch so sensibel erzählt wie Leonhard Frank. Einen letzten Blick auf Sophie wirft er angeblich im Münchner Hauptbahnhof; das könnte nach seiner Schilderung im Dezember 1910 gewesen sein und passt auch zu einem Kondolenzbrief von Frank nach Sofies Tod. Darin schreibt er von einer Aussprache, die sie im Dezember 1910 hatten. Im Roman stellt er es so dar:

Das letzte Mal, zwei Jahre nach der Trennung von Sophie, sah er [Michael, Anm. P. B.] die beiden [Sophie und Dr. Kreuz, Anm. P. B.] in der Halle des Münchener Hauptbahnhofs. […] Sophies Anblick entsetzte ihn […]. Der Doktor schnupfte Kokain […]. Beide sahen Michael und sahen ihn nicht, die Umwelt existierte nicht mehr. […] Die Reise nach Ascona war nicht einmal mehr ein letzter Rettungsversuch […]. Wichtig allein war die Theorie zur Befreiung der Menschheit gewesen. Der Doktor hatte ihr alles genommen.

Niemand war bei Sophie, als sie den Schritt in den Tod machte. Leonhard Frank beschreibt die letzten Minuten ihres Lebens einfühlsam und so, als habe Sophie letztlich doch die Hoheit über ihr Leben bzw. ihr Sterben behalten, als einen Triumph über über Otto Gross. Doktor Kreuz stellt er als Menschen dar, der ihr bewusst zum Tode verhilft und dann fluchtartig sein Opfer verlässt.

Als er [Dr. Kreuz, Anm. P. B.] den Blick hob und ihr das Morphium hinhielt, entstand, während er fragend nickte, ein unsäglich grauenvolles Lächeln. Da war in ihrem wächsernen Gesicht das letzte Mal der Ausdruck mutiger Bereitschaft und diesmal zugleich grenzenloser Verachtung. Sie nahm das Morphium. Der Doktor eilte mit langen Fluchtschritten aus dem Zimmer. Sophie war eines der ersten Opfer der angewandten Erkenntnisse Sigmund Freuds, der das Gesicht der Welt verändert hat. Sie wurde in Locarno beerdigt. Niemand stand am Grabe. Der Doktor ging bald danach am Kokain zugrund. Michael erfuhr die Nachricht einige Tage später durch Johannes Wohl im Café Stefanie. Es wurde ihm kalt. Den folgenden Abend fuhr er nach Berlin.

Leonhard Frank war nicht dabei; er hat in seinem Roman der Fantasie Raum gegeben mit der Beschreibung der letzten Minuten Sophies.

Otto Gross stirbt neun Jahre später. Im Ersten Weltkrieg arbeitet er als Arzt in einem Lazarett und lernt die Krankenschwester Marianne Kuh kennen, die im Jahr 1916 ein Kind von ihm bekommt. Am 20. Februar 1920 stirbt Otto Gross; nicht an einer Überdosis Drogen, sondern an einer Lungenentzündung, die sein von jahrelangem Drogenkonsum und unstetem Lebenswandel geschwächter Körper nicht zu überstehen in der Lage ist.

Wäre es angemessen, den Namen „Dr. Kreuz“ in Leonhard Franks Buch und „eine Kreuzigung“ in einen symbolischen Zusammenhang zu bringen? Es existiert eine von Leonhard Frank geschaffene Lithografie mit einer Person am Kreuz, die sowohl Otto Gross als auch Leonhard Frank darstellen könnte. Sie gibt Anlass zu der Überlegung, dass Leonhard Frank den Namen „Dr. Kreuz“ in seinem Roman ganz bewusst für den Mann ausgewählt hat, der ihm in seinen jungen Künstlerjahren das größte Leid zugefügt hat.

Sofie Benz stirbt am 3. März 1911, aber Leonhard Frank erfährt von ihrem Tod erst am 3. Oktober. Gleich am nächsten Tag schreibt er aus Berlin einen Kondolenzbrief an Sofies Mutter. Es ist ein Brief, der zeigt, dass der Abschied von Sofie noch lange nicht überwunden war. Er schildert sein tiefes Leid: „Wie sehr traurig und unglücklich ich darüber bin und tief erschrocken, vermag ich nicht zu sagen.“ Dann spricht er an, was auch in Sofie Benz’ Briefen immer wieder unterschwellig zur Sprache kam: das Elternhaus in der Kleinstadt Ellwangen und dass die Mutter nicht einverstanden war mit der Beziehung zwischen ihm und Sofie. Sie hätten sich dennoch zu einem gemeinsamen Leben durchgerungen, wenn nicht ,ein Dritter‘ dies verhindert hätte. Doch weder er noch Sofie hatten die Kraft, sich gegen die zerstörerische Energie des Psychiaters zu wappnen bzw. zu wehren. Dass sie hätten glücklich werden können, davon ist er überzeugt. „Noch im Dezember vergangenen Jahres haben Sofie und ich, nach 2jähriger Trennung uns darüber ausgesprochen.“ Er betont, dass kein Tag vergangen sei, „an dem ich nicht mit Verehrung und Liebe an Sofie gedacht habe. Und bis zum letzten Tag meines Lebens werde ich das tun.“

Literaturhinweise

Die folgenden Literaturhinweise betreffen Veröffentlichungen, aus denen der Beitrag zitiert und auf die er hinweist. Seitenangaben zu den Zitaten und Ergänzungen dazu enthält der in der Vorbemerkung angegebene Aufsatz der Autorin. Die zitierten Briefe von und an Sofie Benz sind im Privatarchiv der Autorin aufbewahrt.

Bertschinger-Joos, Esther: Frieda Gross und ihre Briefe an Else Jaffé. Marburg 2014.

Cersowsky, Peter/ Schwenger, Hannes/ Steidle, Hans (Hg): Neue Beiträge zu Leonhard Frank. Würzburg 2003.

Frank, Leonhard: Die Räuberbande, Erstausgabe München 1914. In diesem Artikel wird aus der Ausgabe München 1975 zitiert.

Frank, Leonhard: Links wo das Herz ist. Erstausgabe München 1952. In diesem Artikel wird aus der Ausgabe Frankfurt a. M. 1976 zitiert.

Hurwitz, Emanuel: Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung. Zürich 1979.

Jungblut, Gerd W. (Hg): Erich Mühsam. In meiner Posaune muß ein Sandkorn sein. Briefe 1900-1934. Vaduz 1984.

Kreiler, Kurt (Hg.): Otto Gross. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Frankfurt/Main 1980.

Mühsam, Erich: Ascona. Erstausgabe Berlin 1905. Nachdruck Berlin 1982.

Steidle, Hans: Von ganzem Herzen links. Würzburg 2005.

Wegrainer, Marie: Der Lebensroman einer Arbeiterfrau. Erstveröffentlichung München 1914. In diesem Artikel wird aus der Ausgabe Frankfurt/Main 1979 zitiert.