Ein Album für Proustianer
In „Auf der Suche nach Marcel Proust“ versammelt Bernd-Jürgen Fischer kondensiert Bilder und Texte aus dem Leben und Werk Prousts
Von Florian Birnmeyer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Linguist Bernd-Jürgen Fischer hat in den Jahren 2013 bis 2016 die Suche nach der verlorenen Zeit neu übersetzt – eine wahre Mammutaufgabe und Sisyphusarbeit, die vor ihm im deutschsprachigen Raum nur Eva Rechel-Mertens stemmte (inzwischen revidiert durch Luzius Keller). Erschienen ist die Neuübersetzung bei Reclam inklusive eines umfangreichen Handbuches. Nun ist, ebenfalls bei Reclam, ein von Proust-Kenner Fischer herausgegebenes 246-seitiges Album mit Bildern und Texten erschienen, welches sich an interessierte Liebhaberinnen und Liebhaber richtet, die einen Einblick in die Literatur, Familie, Freund- und Bekanntschaften des Meisters Marcel Proust erhalten möchten.
Denn das Album beschränkt sich, abgesehen von dem einleitenden Vorwort, vor allem darauf, die Familienverhältnisse sowie die Freundschaften und die Bekanntschaften Prousts in Gemälden, Fotografien sowie Texten darzustellen. Der Aufbau der Seiten dieses an ein umfangreiches Freundschaftsalbum erinnernden Werks ist dabei denkbar einfach: Fast jede Person wird mit einem Foto oder Gemälde vorgestellt, insgesamt enthält das Werk 112 Abbildungen; daraufhin folgt ein meist konziser Vorstellungstext in blauer Schrift, in welchem die jeweilige Person eingeführt wird – ihre Tätigkeit, ihre Stellung in der damaligen Gesellschaft, ihre Beziehung zu Proust, wie es zum Kennenlernen mit Proust kam.
Schließlich wird der Personeneintrag durch einen bald kürzer, bald länger ausfallenden und thematisch zur Person passenden Primärtext abgerundet, welcher aus verschiedenster Quelle stammen kann, sei es aus dem Frühwerk von Proust wie Freude und Tage (1896), aus der umfangreichen brieflichen Korrespondenz mit Freunden und Familie oder aber aus seinem Hauptwerk, der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–1927). Auch aus den posthum veröffentlichten und unvollendet gebliebenen Werken, dem Recherche-Vorgängerroman Jean Santeuil (Veröffentlichung 1952, verfasst 1896–1900) sowie der literarkritischen Essaysammlung Contre Sainte-Beuve (Veröffentlichung 1954, geschrieben 1895–1900), wird zitiert.
Auf diese Weise werden natürlich vielfache Bezüge zwischen Person und Schreiben, zwischen Leben und Werk hergestellt und suggeriert, die jeden Proust-Liebhaber nicht nur in Erstaunen, sondern auch in Entzücken versetzen werden. Denn das Proust-Album liefert auf über 200 Seiten eine ausführliche Darstellung der sozialen Bande, in welche Marcel Proust eingebunden war und die potenziell oder tatsächlich einen Einfluss auf ihn und sein Schaffen hatten.
Wir lernen Urgroßeltern, Großeltern, Schwager und Schwägerin, Onkel und Tanten, entfernte und nahe Freunde der Kindheit sowie Schulkameraden, befreundete Künstlerinnen und Künstler, bekannte Intellektuelle und Adlige sowie hochstehende Personen der Gesellschaft kennen. Manchen Onkel und manche Tante aufzulisten hätte man sich sparen können, ohne dass es ein Verlust für das Album gewesen wäre, doch offenbar war der Herausgeber um Vollständigkeit bemüht. Interessant sind im Teil zur Familie vor allem die Ausführungen zur Mutter, zum Vater und den Großeltern Prousts, also zu den ihm besonders nahestehenden Personen, die in einer literarisch verarbeiteten Form auch prominent in der Recherche vorkommen.
Der Teil „Freunde“ bietet eine Zusammenfassung der gehobenen gesellschaftlichen Kreise des Pariser Fin-de-siècle und lässt die damalige Zeit sowie ihre gesellschaftlichen Zirkel ein wenig wiederauferstehen. Häufig ist von literarischen und künstlerischen Salons die Rede, aber auch von der Dreyfus-Affäre – also genau von den Themen und der Aktualität, die auch in der Recherche eine Rolle spielen.
Außerdem erfahren wir, welche der vorgestellten Personen für eine der Figuren in der Recherche zum Vorbild wurde: So stand zum Beispiel der Graf Robert de Montesquiou Pate für den homosexuellen Baron de Charlus, was diesen ärgerte, und die Schauspielerin Sarah Bernhardt diente als Vorbild für die gefeierte Star-Schauspielerin Berma. Laure de Chévigné, die Urenkelin des Marquis de Sade, erkannte sich in der Herzogin von Guermantes wieder, weshalb sie nach 28 Jahren Freundschaft den Kontakt zu Proust abbrach.
Das meiner Ansicht nach beste und lohnenswerteste Kapitel steht aber zu Beginn des Buches von Fischer und ist ganz einfach mit „Marcel Proust“ überschrieben. Darin geht es um die Kindheit, Jugend und die literarische Entwicklung des Autors, der schon in seiner Schulzeit am renommierten Pariser Lycée Condorcet an literarischen und philosophischen Fragen ein besonderes Interesse erkennen ließ. Im Oktober 1887 kam er in die Rhetorikklasse des Lycée. Schnell bildete er gemeinsam mit den drei Freunden Robert Dreyfus, Jacques Bizet und Daniel Halévy die „Gesellschaft der vier Freunde“, die sich durch ihr Interesse an Literatur und der Avantgarde auszeichnete.
1896 erschien Prousts erstes Werk Freuden und Tage (frz. Les Plaisirs et les Jours), welches Essays, Novellen und Gesellschaftsskizzen enthielt, mit einem Vorwort von Anatole France. Jean Santeuil und Contre Sainte-Beuve waren Vorläufer der Recherche. Während der Arbeit an letzterem Werk entwickelte sich wohl Prousts Plan, einen Roman zu verfassen. Im November 1913 erschien schließlich der erste Band von Prousts À la recherche du temps perdu bei dem Verlag Grasset, nachdem er von Gallimard abgelehnt worden war. Für den zweiten Band, À l’ombre des jeunes filles en fleurs (1918), der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs schließlich bei Gallimard erscheinen konnte, erhielt Proust den Prix Goncourt.
Fischer zeichnet in dem Kapitel „Marcel Proust“ in großen Linien die Editionsgeschichte der Recherche nach, die von den Carnets mit den ersten Notizen über die Cahiers, Kladden oder Schulhefte, in die Proust schrieb, bis hin zu den Fahnen mit Kommentaren des Autors reicht. Ein besonderes Schmankerl stellt der questionnaire de Proust dar, der Fragebogen von Proust, der hier in zwei Versionen abgedruckt ist. Proust beantwortete den Fragebogen zum ersten Mal 1887 im englischen Album „Confessions. An Album to Record Thoughts, Feelings, &c.“ seiner Kameradin Antoinette Faure und ein zweites Mal in einer veränderten Form im Jahr 1892. Im Jahr 2018 tauchte überraschenderweise ein dritter von Proust ausgefüllter Fragebogen auf, der auf den Juni 1887 datiert ist und damit dem Fragebogen in Faures Album vorausgeht.
In den Antworten lassen sich Prousts ganzer Scharfsinn, sein Geist, seine Empfindsamkeit, aber auch sein Humor in nuce erkennen. So erwidert er auf die Frage, welches seiner Ansicht nach das höchste irdische Glück sei: „Ich würde es Ihnen sagen, aber ich dresche nicht gern Phrasen. Ich hasse es sentimental zu werden, da ich es in hohem Maße bin.“ Und auf die Frage, welcher der schmerzlichste Augenblick seines Lebens gewesen sei: „Der Tag meiner stärksten Verstopfung.“ An anderer Stelle drückt er seine Leidenschaft zum Lesen und Lieben aus.
So bietet Auf der Suche nach Marcel Proust einen ungewöhnlich unverstellten Blick auf die Persönlichkeit Proust. Das ausgemachte Ziel des Werks scheint es zu sein, den Autor in authentischer Weise darzustellen.Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Recherche kann das Bild- und Text-Album freilich nicht leisten, doch für den Einstieg und für das zeitweilige Eintauchen in das Universum des Marcel Proust ist es geeignet. Es wird vor allem bei Proust-Fans Anklang finden oder solchen, die einen überblickshaften Zugang zu Prousts Lebenswelt und seinen Werken finden möchten.
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