Körper, Dichtung, Körperteile

Maria Stepanovas Gedichtband „Der Körper kehrt wieder“ denkt über Geschichte und Politik nach

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

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Wenn der Körper wiederkehrt, dann war er wohl verschwunden, aber was für ein Körper ist das, der da wiederkehrt? Oder sind es mehrere Körper oder Körperteile? Alle drei Möglichkeiten finden sich in Maria Stepanovas Gedichtzyklus Der Körper kehrt wieder, namengebend für den vorliegenden Band, der zwei weitere Zyklen enthält: Spolia sowie Der Krieg der Tiere und Untiere

Was hat es mit dem Körper, Körpern, Körperteilen auf sich? Strukturiert ist dieser Zyklus in umgekehrt alphabetischer Reihenfolge, von Z bis A – eine (allzu?) deutliche Anspielung auf Inger Christensens Großgedicht alphabet. And here we are. Hier tauchen DichterInnen auf, die zitiert, auf die angespielt wird: Nicht nur Christensen, zu Anfang auch Anne Carson und unter anderem Puschkin und Blok. Zum einen geht es um eben diese Körper, in denen sich Dichtung verkörpert. Zitat und Poetologie:

Die Dichtung, absurdes vieläugiges
Wesen mit vielen Mündern,
Das in vielen Mündern zugleich lebt,
Ging zuvor durch viele andere Körper,
Die jetzt zwecks Erhalt auf Station sind
Wie etwas demnächst zu Gebärendes.

Und was ist diese in Körpern verkörperte Dichtung? „Körper der Dichtung, überall liegt ihr herum/Wie leere Patronenhülsen aus Plastik,/Biologisch nicht abbaubar“, soll ja wohl heißen: Dichtung ist ewig und außerdem weiß sie, „wovon sie redet“.

Die Dichtung ist auch in toten DichterInnen verkörpert: siehe Christensen. Mit den toten Körpern beschwört Stepanova aber nicht nur BerufskollegInnen, sondern auch die Toten des letzten Jahrhunderts – da sind wir bei den Körperteilen: „Ein Arm, an der Marne begraben./Ein Arm, nahe Narva begraben./Ein Arm, im galizischen Sumpfland liegend.“ 

Stepanovas Dichtung ist politisch und historiografisch, was sich noch deutlicher in den beiden anderen Zyklen zeigt. Im Krieg der Tiere und Untiere wird der Tag des Angriffs Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion erwähnt, viele eher erzählende Passagen beziehen sich auf den Zweiten Weltkrieg. Und der Gedichtzyklus Spolia nutzt als Titel ein Wort, das Vergangenheit und Gegenwart zusammenleimt. Spolien sind in neuen Bauwerken wiederverwendete Bauteile und Überreste aus älteren Kulturen. 

Aber es gibt nicht nur tote, abgestorbene, begrabene Körper(teile) oder Dichtung verkörpernde Körper, sondern auch quicklebendige Körperpartikel, die wiederkehren, wiederauferstehen werden: „Tief in der Erde, in ihrem Knochenbeetkäfig/Schaffen Zellen Zelle um Zelle,/[…] Was Same war, versucht sich als Aussaat“. Und: „Auferstehen werden wir/[…] Der Auferstehungskörper wird können/Was ein Körper können sollte://Essen und Trinken was er will“ (Es folgt eine Aufzählung, was so ein Körper alles kann: leben). 

Geht man alle drei Zyklen durch, so sind diese Themen – Politik und Geschichte – so tragend und allgegenwärtig, dass es schwerfällt, in Stepanovas assoziativem Modernismus, in den aneinandergereihten Gedichtteilen, Unterschiede in der Thematik oder Behandlung der Themen auszumachen. Vielleicht wartet der zweite Zyklus, Spolia, in dem autobiografische Überlegungen und Gedanken auftauchen, mit Individuellerem auf. Da wird sie, vulgo Stepanova, von außen bewertet: „alles zusammengenommen/lautete der befund://sie ist nicht in der Lage, für sich zu sprechen/daher diese zwanghaften reime//diese schlecht kopierten veralteten formen“. Wieder also Politik und Geschichte und eine Beschreibung des poetischen Vorgehens Stepanovas. Fast identisch an dieser Stelle: 

sie ist nicht in der lage, für sich zu sprechen,
darum wird sie immer von anderen regiert
darum wiederholt sich ihre geschichte andauernd
in schlecht kopierten veralteten formen
und woher welches zitat stammt weiß kein mensch
ob von 1930 oder 1970
weil sie alles zugleich zitiert.

So weit, so gut. Aber was halte ich nun von diesen Gedichten? Vielleicht passt folgende Idee: Tschechow soll gesagt haben, er unterscheide Literatur nur danach, ob sie ihm gefalle oder nicht. Vielleicht gibt es eine dritte, natürlich ebenso subjektive Kategorie: Literatur, die sicher sehr gut ist, aber mich etwas kalt lässt. 

Titelbild

Maria Stepanova: Der Körper kehrt wieder. Gedichte.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
120 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429679

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