Ein ästhetischer Ideenroman

Ally Klein erzählt in „Der Wal“ von den Dimensionen der Kunst

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Kunst, künstlerische Existenzweisen und die Lebenstauglichkeit dieser lässt sich lange und ausgiebig philosophisch nachsinnen. Literarisch experimentierfreudig porträtiert Ally Klein in ihrem neuen Roman eine eigenartige Szenerie und erzählt von einem Künstler Saul, der nicht mehr als ein solcher gelten möchte, von einer interessierten, nonkonformistischen jungen Frau namens Q oder Keough und von Aezra, dem Zwillingsbruder des Künstlers. Eine gewisse Unübersichtlichkeit wohnt dem Roman von Anfang an inne. 

Saul, früher als Bildhauer tätig, arbeitet an einem Gebäude, das „Der Wal“ genannt ist. Er möchte das Ursprüngliche dieses Baus freilegen. Um Selbstverwirklichung geht es ihm anscheinend ebenso wenig wie um die Gestaltung dessen, wozu die schöpferische Fantasie ihn verleiten könnte. Er arbeitet schlicht am Wal, als wollte er das Wesen des Baus von bestehenden Überlagerungen befreien: 

Er betrachtete die Wände, auf die der Besitzer vor ihm diesen Zementbrei geklatscht hatte, um sie dann zu fliesen. Diesen aschfarbenen, weichen Beton hatte man mit Kacheln vollgekleistert, den seelenlosen, falben, in Farbe einer kränklichen Haut. Auf diesen Beton hatte man Gips geschmiert, seine Zartheit bekleckert und eine Kachel nach der anderen aufgedrückt. Mit seinen Händen, seinem Gewicht hatte dieser Mensch eine Fliese nach der anderen hineingeprägt, hatte sich hineingeprägt, seine Vorstellung von diesem Raum, sein Ich. Die gefliesten Wände hatten dieses Ich ausrufen sollen, jede Fliese hatte Ich! gerufen, ich, ich, ich, ich, Ich. Man hatte diesen Wänden ein Ich aufgedrängt, gegen ihre eigene Identität verstoßen, diese zurückhaltende, bescheidene Identität. 

Saul trägt die Fliesen ab, nach und nach. 

Die Überbleibsel dieser Ich-Vereinnahmung hatten aufgetürmt auf dem Boden gelegen, alles, was vom Menschen übrig blieb, waren Häufchen seines Willens, kleine Zeilen seines Seins.

Aus dieser Beschreibung erschließt sich eine besondere Wahrnehmung von Kunst, die eine Kritik der ästhetischen Formung impliziert, dynamisch artikuliert ist – der Bau scheint nicht ganz bei sich selbst, sondern im Zuge einer „Ich-Vereinnahmung“ wesenhaft seiner Bestimmung entfremdet zu sein. Wer sich den Wal anschaut, ist mit dem Ich konfrontiert, das sich künstlerisch verwirklicht und damit künstlich auf das Gebäude übertragen hat. An Passagen wie diesen, die zwischen rauschhafter sprachlicher Formung und einer graduell unklaren Identitätsphilosophie changieren, mangelt es in dem ganzen Roman nicht. Theoretisch formuliert: Ein gegebenes Objekt wurde gestalterisch verformt, und gegen diese Verformungen wehrt sich Saul beharrlich. Er arbeitet daran, nicht als Künstler – als raumgreifende, herrschsüchtige Person –, sondern als Bauarbeiter, handwerklich versiert, gewissermaßen als raumschützende, dienende Person. Über diese ästhetische Perspektive ließe sich philosophisch nachdenken. Dennoch ist Saul weiterhin obsessiv tätig, so wortkarg wie entschlossen – und Q oder Keough findet dafür theatralisch anmutende Worte. Sie betrachtet den Wal als „ein verlassenes Gebäude, das niemand beachtet“. Was dort vor sich gehe, weiß sie nicht, aber sie äußert ihre Gedanken über Sauls Arbeit: „Du treibst dem Wal sein Inneres wie einen Dämon aus, hab ich mir beim letzten Vorbeigehen gedacht.“ Damit scheint sie aber mehr etwas über sich selbst auszusagen. In diesem Sinne offenbart sie sich Saul gegenüber und berichtet von einer früheren Beziehung: 

Ich habe ihn angehimmelt. Er war meine Schöpfung, mit niemandem zu vergleichen, er war perfekt, hat immer das Richtige gesagt, ich habe ihn verstanden wie niemand anderen, alles an ihm hat gestimmt. Fast was Göttliches wurde die Sache zwischen uns, unbegreiflich. … Sein Ich war überlebensgroß, eine eigene Schöpfung. … Ich habe ihn angebetet dafür, für dieses Ich, dessen Teil ich war. Wir beide waren sein Ich.

Lesend bleiben wir aufgefordert, uns mit unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen auseinanderzusetzen – über Menschen und Dinge –, diese nachzuvollziehen, uns darüber zu verwundern und vielleicht auch das Verstörende zu bemerken. Die Beziehung des Künstlers zum Kunstwerk oder, im konkreten Fall, des Arbeiters Saul zu dem Gegenstand Wal, weckt diese Erinnerungen, die von Keough wortreich mitgeteilt werden. Sie berichtet von einer anderen Form der Obsession, die als philosophische Fantasie ebenso tauglich wäre wie als Beschreibung einer intensiven, exzessiven Leidenschaft zu einem anderen Menschen.Zu der ästhetisch-reflexiven Perspektive gesellt sich also eine psychologische Betrachtungsweise. Die Autorin erzählt hiervon rhetorisch stilisiert und pathetisch, ohne dass der Leser emotional daran Anteil gewinnt.

Bodenständiger als Saul, der nach Vollendung seiner Arbeit einer Krankheit erliegt, erscheint zunächst dessen Zwillingsbruder Aezra, der zur Beisetzung anreist und unbedingt den Wal sehen möchte. Er begegnet Keough, auch um mit ihr über den verstorbenen Saul zu sprechen. Aezra kannte Saul als Bildhauer, Keough als Bauarbeiter. Sie bekennt freimütig: „Ich kannte einen ganz anderen Saul.“ Ob er noch Künstler war, möchte Aezra wissen. „Er war kein Künstler“, sagte Keough. „Du hast selbst gesagt, er hat aufgehört, Künstler zu sein.“ Ob man damit aufhören könne, fragt sich Aezra und bleibt skeptisch: 

Man kann doch nicht einfach aufhören, Künstler zu sein. Plötzlich Dinge anders sehen, die Wahrnehmung ablegen, von einem Tag auf den anderen quasi ein anderes Augenpaar im Kopf haben. Das ändert sich doch nicht einfach so, weil man das entschieden hat.

Mit einem geerdeten Intellekt versucht Aezra eine gewisse Souveränität auszustrahlen. Doch die schablonenartigen Denkmuster scheinen Saul zu verfehlen. Also streitet er sich mit Keough. Sie argumentiert leidenschaftlich: 

Er hat nur an dem Gebäude gearbeitet, er hat die Absicht einer anderen Person rückgängig gemacht, hat den Wal zur Originalidee zurückgeführt. Einer Idee, die nicht seine war. Der Wal, wie er ist, ist nicht Sauls Autorschaft. Er hat ihn bloß wiederhergestellt.

Daraufhin erwidert Aezra: „Kein normaler Mensch bringt so ein Opfer für einen Gegenstand … einen Bau, denkst du, nicht wahr? Kein Bauarbeiter der Welt! Das kann nur ein Künstler tun!“ Das erregte Gespräch zwischen Keough und Aezra quillt über vor Impulsivität: 

Du denkst, dieser Scheißbau ist ein Kunstwerk. Ich denke, dieser Scheißbau ist das Abbild seiner Ignoranz. Ihm war eigentlich alles egal, nichts hat für ihn eine Rolle gespielt. Er hat mit solchen Entscheidungen nur versucht, seinem Leben einen Sinn zu geben. Du denkst, Künstler. Ich denke, Schwachsinn. Du romantisierst das alles. Du denkst, ein Künstler nimmt sich zurück, dient seinem Werk, löst sich komplett dafür auf, verschwindet darin! Ich denke, er hat sich um niemanden gekümmert, nur um sich selbst … Du bildest dir bloß ein, dieser Wal ist was Besonderes, hat eine Aura, was auch immer. Das ist einfach ein Betonklotz. So wie er, mehr nicht.

Der Roman besitzt in diesem Momenten Dimensionen eines partiell anregenden, vor allem auch sehr anstrengenden Lehrstücks: Was ist Kunst? Wer arbeitet wirklich als Künstler? Welchen Stellenwert haben Selbstbeschreibungen und Selbstbedeutungen? Die beherzt geführten Dialoge wirken wie ein Schauspiel und geben Anlass zum Nachdenken. Wir bleiben aber emotional außen vor, vor allem weil die hier vorgenommene strikte Trennung von Kunst und Arbeit oder Handwerk wenig überzeugend anmutet. Keough sieht die Person Saul und möchte die Erinnerung an ihn von der Fremdwahrnehmung des Zwillingsbruders schützen, Aezra versucht, nachzuvollziehen, was Saul bei der Arbeit bewogen hat und begreift dessen Tun als Kunst. Schließlich ringen Keough und Aezra auch miteinander, fühlen sich auf eine sehr eigene Weise sogar zueinander hingezogen, so als ob das, was sie entzweit, auch verbinden könnte – die Suche nach der Wahrheit über Saul und seine Arbeit.

Dieser Roman hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Die mitunter sehr ausführlichen Reflexionen über Identität wirken schwerblütig wie unklar und eher erhaben als substanzhaltig. Passagenweise wird ästhetisch philosophiert. Zugleich stoßen Vorstellungen über Kunst aufeinander, die sich nicht versöhnen lassen. Künstlerisch tätige Menschen – ob musikalisch, bildnerisch oder schriftstellerisch – wissen, dass das Entstehen eines Werkes vor allem des handwerklichen Geschicks bedarf. Kunst ist, ganz einfach gesagt, weniger ingeniöse Inspiration als Arbeit oder Handwerk. Ein Gegensatz zwischen dem künstlerischen Schaffen und anderen Formen des Tätigseins kann zwar konstruiert werden, bleibt indes nicht mehr als ein Gedankenspiel. Denkanstöße über Kunst vermittelt Ally Klein durchaus. Als Roman indessen kann das hier präsentierte vielschichtige Gewebe aus ästhetischen Ideen und psychologischen Mutmaßungen nicht überzeugen. 

Titelbild

Ally Klein: Der Wal.
Literaturverlag Droschl, Graz 2021.
176 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590744

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