Der nächtliche Beobachter

Henrike Schmidt beleuchtet in „Der Mann im Mond“ mittelalterliche Ansichten zum vermeintlich bewohnten Erdtrabanten

Von Pauline WernerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pauline Werner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“ – dieses Lied kennt jedes Kind. Auch das kleine Sandmännchen aus dem Kinderfernsehen wird auf Bildern stets in Bezug zum Erdtrabanten gesetzt. Der Mond bietet Stoff für viele Geschichten, die sich längst nicht alle an die Kleinsten richten. Mondfahrten und die Begegnung mit dessen potenziellen Bewohnern stellten schon lange vor der ersten wirklichen Reise zum Mond eine große Faszination für die Menschheit dar.

Doch worin haben all diese Geschichten über den besiedelten Mond ihren Ursprung? Henrike Schmidt begibt sich in Der Mann im Mond auf die Suche nach Antworten auf diese Frage. Der Band geht auf die Masterarbeit der Autorin zurück und wurde für die Veröffentlichung überarbeitet. Schmidts Fokus liegt auf den mittelalterlichen Vorstellungen. Da viele dieser Theorien allerdings aus der Antike stammen und im Mittelalter lediglich wieder aufgegriffen wurden, beginnt die Autorin ihre Darstellung nachvollziehbarerweise mit den antiken Ansichten über den Mond.

Schmidts Abhandlung ist klar und logisch aufgebaut. Im Anschluss an die Einleitung folgen Kapitel über antike Vorstellungen zur Bewohnbarkeit des Mondes sowie über deren Rezeption und Weiterentwicklung im Mittelalter. Kapitel vier thematisiert die Mondbewohner im Volksglauben und die Studie schließt mit einem Resümee.

Damit ein Himmelskörper bewohnbar sein kann, muss zunächst dessen Beschaffenheit geklärt werden. Dieser Frage widmeten sich viele antike Gelehrte. Die ältesten Vorstellungen gingen davon aus, dass der Mond ein eigenes Licht besitzt. Der Vorsokratiker Anaximander war beispielsweise der Überzeugung, „der Mond sei ein Kreis, 19-mal so groß wie die Erde, dem Rad eines Wagens ähnlich, mit hoher Felge und voll Feuer […]. Er […] habe ein Ausblaseloch wie ein Blasebalgrohr. Die Finsternisse erfolgten entsprechend den Wendungen des Rades“. Die Theorien reichten vom Mond als brennende Wolke über ein beseeltes Mischgebilde aus Erde und Feuer bis hin zum Konzept einer Gegenerde, die von der Sonne angestrahlt wird. Schmidt liefert einen anschaulichen Überblick über die Entwicklung der Vorstellungen zur Beschaffenheit des Mondes und davon ausgehend über dessen potenzielle Bewohnbarkeit.

Den Übergang der antiken Theorien ins Mittelalter prägte besonders der wachsende Einfluss der Religion. Der Mann im Mond geht als erste wissenschaftliche Studie der Frage nach, inwiefern sich das Christentum und der Glaube an andere bewohnte Orte im Weltall gegenseitig bedingten: „[D]ie überlieferten Lehren [mussten] häufig den sich entwickelnden religiösen Dogmen angepasst werden.“ Folglich kam es auch zu Brüchen zwischen antiken und mittelalterlichen Ansichten. Ein Beispiel dafür ist die antike Idee vom Mond als Aufenthaltsort der Seelen. Da der Erdtrabant im Vergleich zur Erde im Mittelalter als weniger rein angesehen wurde und optisch nicht an die Vorstellung vom christlichen Paradies heranreichte, kam der Mond nicht „als Wohnstatt von Engeln und Heiligen infrage“. Ohne die Kenntnis der antiken Theorien würden solche Spannungen zwischen den Überzeugungen gar nicht augenscheinlich. Dank des erworbenen Grundlagenwissens über vormittelalterliche Zeiten kann der Leser weitreichende Zusammenhänge und Entwicklungen nachvollziehen.

In Antike und Mittelalter wurde meist nur gelehrtes Wissen schriftlich fixiert und überliefert, während volkstümliche Anschauungen erst in der Neuzeit wissenschaftliches Interesse weckten und daher oft verspätet aufgezeichnet wurden. So gibt auch der Großteil des Buches Ansichten von antiken und mittelalterlichen Intellektuellen wieder. Da sich auch die illiterate Mehrheit der Menschen intensiv mit dem Mond auseinandersetzte, widmet sich Schmidt schließlich dezidiert dem Aberglauben und möglichen Mondbewohnern im Volksglauben. Hier finden sich kuriose Überlegungen, die deutlich machen, wie sagenumwoben der Mond war und welch großen Einfluss er auf die damalige Gesellschaft hatte.

Auch dem während der Lektüre lang erwarteten Bild vom Mann im Mond nähert sich das Werk schließlich an, wenn auch weniger umfangreich, als man dies dem Titel des Buches nach erwarten würde. Eine Vorstellung stammt aus dem englischen und deutschsprachigen Volksglauben: In den Mondflecken sah man beispielsweise einen Holzdieb, der an einem Sonntag oder einem anderen Feiertag Holz geschlagen hatte und wegen dieser Sünde auf den Mond verbannt wurde. Schmidt thematisiert auch weniger bekannte Sagen aus aller Welt wie die von dem Hasen oder dem Löwen im Mond: In Indien erkannte man in den Mondflecken einen Hasen, der vom Gott des Mondes getragen wird. Die Griechen sahen stattdessen den in der Mythologie verankerten Nemeischen Löwen, der vom Mond herabgefallen sein soll.

Der Mann im Mond ist eine sehr informative Studie und kurzweilig zu lesen. Auch ohne tief gehende Kenntnis der antiken und mittelalterlichen Astronomie ist Schmidts Abhandlung sehr gut verständlich. Gelegentlich jedoch muss sich der Leser die Bedeutung der in den Fußnoten nicht immer übersetzten Zitate aus dem Kontext erschließen. Wer das Buch in die Hand nimmt, um eine ausführliche Studie über die Vorstellung vom Mann im Mond zu lesen, der wird allerdings enttäuscht. In Relation zu den 91 Textseiten wird das titelgebende Bild nur sehr knapp und auch erst am Schluss beleuchtet. Wer jedoch offen für Astronomie und Sagen vergangener Zeiten ist, dem sei das Buch ans Herz gelegt. Und vielleicht betrachtet der eine oder andere den Mond am Nachthimmel danach auch mit etwas anderen Augen …

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Henrike Schmidt: Der Mann im Mond. Vorstellungen vom bewohnten Himmelskörper im Mittelalter.
Solivagus-Verlag, Kiel 2020.
168 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783943025590

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