Mit Drinks und Partys in die Depression

Anthony Powells Debütroman „Die Ziellosen“ liegt zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung vor

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Berliner Elfenbeinverlag hat schon so manches weltliterarische Juwel aus den Tiefen der Vergessenheit heraus- und ins literarhistorische Bewusstsein zurückgeholt. Im Falle von Anthony Powells großem, zwölf Bände umfassenden Romanzyklus Ein Tanz zur Musik der Zeit (A Dance to the Music of Time, 1951–1975) handelt es sich natürlich und vor allem auch um eine Meisterleistung des Übersetzers Heinz Feldmann, der die Texte neu bearbeitet, größtenteils aber auch zum ersten Mal – und zwar in den drei Jahren von 2015 bis 2018 – ins Deutsche übertragen hat. Powell wurde 1905 geboren, also zwei Jahre nach Evelyn Waugh,  und hat das gesamte Jahrhundert bis zu seinem Tod im Milleniumjahr miterlebt. Dass er mit seinem monumentalen Erzählwerk auch der literarische Chronist englischer Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1970er Jahre gewesen ist, wurde zwar von der Kritik immer wieder lobend herausgestellt und von der Literaturgeschichtsschreibung gewürdigt, doch im Unterschied etwa zu seinem Freund und Kollegen Evelyn Waugh erhielten die Texte von Powell bei weitem nicht die Aufmerksamkeit, die sie eigentlich verdient hätten. Das mag zum einen daran liegen, dass keiner von Powells Romanen – wie im Fall von Waughs Brideshead Revistited (1945) – als Serie oder Spielfilm auch einem breiteren Publikum bekannt geworden ist. In Deutschland dürfte die mäßige Powell-Rezeption aber vor allem auch an fehlenden Übersetzungen gelegen haben. Und es ist zu wünschen, dass mit den kongenialen Übertragungen durch Heinz Feldmann nun, beinahe zwanzig Jahre nach Powells Tod, auch das deutsche Publikum diesen großen, immer wieder neben Marcel Proust und seine Recherche du temps perdu gestellten Autor (besser) kennenlernt.

Neben der Publikation von Powells Hauptwerk verdient die ebenfalls von Heinz Feldmann besorgte deutsche Erstübersetzung von Powells 1931 erschienenem Debütroman Die Ziellosen ebenso große Aufmerksamkeit. Zum einen lassen sich sowohl Powells satirisch-witziger Ton und sein scheinbar auf reine (realistische) Bestandsaufnahme abzielendes Erzählverfahren als auch der abgründige Humor und messerscharfe Blick für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Verhältnisse in der englischen Mittel- und Oberschicht, der die späteren Texte kennzeichnet, schon in diesem Erstling erkennen. Zum anderen zeigt dieser Roman, dass Powell erzähltechnisch durchaus experimentierfreudig gewesen ist: Blickt in Ein Tanz zur Musik der Zeit der dem empirischen Autor doch sehr ähnliche Ich-Erzähler Nicholas Jenkins auf sein Leben und gleichsam auf die Wandlungen und den unaufhaltsamen Abstieg der englischen Mittelschicht und eines ganzen Empires zurück, so setzte Powell in seinem Erstling noch einen allwissenden, nicht zur erzählten Welt gehörenden Erzähler ein, der es sich nur manchmal erlaubt, in seine Figuren – namentlich seine Hauptfigur William Atwater – zu blicken oder aus deren Perspektive zu erzählen. Dominiert wird der Text durch lange Passagen autonomer direkter Figurenrede. Als Leser folgen wir dem Museumsangestellten William Atwater in Londoner Bars, Clubs und auf Partys, werden Zeuge seiner Gespräche mit dem Künstlerfreund Pringle und der aufkeimenden Sympathie gegenüber Frauenfiguren wie Lola oder Susan. Auch ein Ausflug ans Meer und der missglückte Selbstmord Pringles gehören zum erzählten Geschehen. Im Grunde plätschert die gesamte Handlung – wenn man von einer solchen im engeren Sinne überhaupt sprechen kann – wie ein netter später Nachmittag mit ein paar Gläsern Gin dahin und am Ende ist alles wie nie gewesen. Das liegt natürlich hauptsächlich an der Erzählweise, die auf den ersten Blick, wie die erzählten Figuren selbst , nur reine Oberfläche zu sein scheint. Um die verdrängten eigenen existenziellen Fragen ihrer Gegenwart jenseits von Drinks und Partys zu bemerken, müssen sich die Figuren immer wieder bemühen und besinnen – es bleibt aber bei Fragmenten ihres Innenlebens, die dem Leser präsentiert werden. Der Erzähler räumt solchen Momenten nur wenige Zeilen ein. Einmal wird erwähnt, dass William einfach in seinem Zimmer saß und über seine Existenz nachdachte, als das Telefon klingelte:

Atwater fühlte sich erschüttert. Das Geheimnis des Lebens, so war es ihm erschienen, war in diesem Moment fast in unmittelbarer Nähe gewesen. Noch ein paar Minuten, und er hätte die absolute Realität vielleicht zu greifen vermocht. Jetzt war alles so weit entfernt wie zuvor immer.

Gleichzeitig vermag es der Erzähler, in wenigen Sätzen Milieus, Biographien und soziale und persönliche Verhältnisse zu erfassen, die trotz der zur Schau gestellten Kühle des Tons eindringlich und vor allem glaubwürdig wirken. Woran liegt das? Wie entsteht bei einer solchen Erzählweise, die sich ja bewusst und demonstrativ an der Oberfläche der Figuren und Ereignisse bewegt, bei einer Dialoggestaltung, die in ihrer Mischung aus Zynismus, Sprödigkeit, Witz und Kürze ihre Vorbilder Wilde und Hemingway markiert, ein doppelter Boden und eine Tiefenstruktur? In erster Linie, möchte man antworten, natürlich durch das Arrangement der Figurenrede, durch die nur nebenbei erwähnten Lebensumstände und den Kontrast zwischen Freizeitgestaltung und ‚wirklichem Leben‘. So laufen Unterhaltungen zwischen Atwater und seinen Freunden oft nach einem wie einstudiert wirkenden Muster ab. Atwater erkundigt sich nach einer Person oder einem Ereignis – sein Gegenüber antwortet – die vom Erzähler aber nicht weiter kommentiert oder bewertet werden. Stattdessen geht die Erzählinstanz zu Alltagsbeschreibungen über, die oft genug ironisch gebrochen werden, insofern sie durchaus auch den Wahrnehmungshorizont und Lebensalltag der Hauptfigur Atwater andeuten:

„Und wie geht es Mrs. Race?“, fragte Nosworth.

Atwater sage: „Sie ist bei guter Gesundheit.“

„Wer war alles da?“

„Wauchop, zum Beispiel.“

„Wirklich? So, so.“

„Sie sind sehr eigen, was die Menschen angeht, denen Sie begegnen wollen.“

Nosworth sagte: „Leute, die eigen sind, was die Menschen angeht, denen sie begegnen wollen, sind Wilde. Edle Wilde.“

Draußen regnete und regnete es. Das Wasser floß die Dachrinnen des Museums hinunter, und in der oberen Ecke der Außenwand vor Atwaters Schreibtisch zeigte sich langsam ein feuchter Fleck. An diesem Tag war das Museum voller Leute, die hereingekommen waren, um Schutz vor der Nässe zu finden – Leute, die zuvor noch nie das Innere eine Museums gesehen hatten […].

Obwohl William als Museumsangestellter einem bürgerlichen Beruf nachgeht, erfährt der Leser in erster Linie etwas über sein privates Umfeld und Leben. Dies ist gekennzeichnet von einem Hunger, ja schier einer Gier nach Leben am Vorabend des großen Börsencrash von 1929 in einer Welt, die noch zu funktionieren scheint, deren Bruchstellen aber schon überall – im Öffentlichen wie Privaten – durchscheinen. 

Der Titel des Original, Afternoon Men, greift diese Dimension des Romans viel stärker auf, insofern sich in ihm schon die habituelle Tagesstruktur der Protagonisten verdichtet: Mit ‚Afternoon men‘ bezeichnet man im Englischen nämlich sowohl gewohnheitsmäßige, mit dem Alkoholkonsum schon nach dem Mittagessen beginnende Trinker als auch Taugenichtse – mitnichten allerdings so etwas wie ‚Säufer‘. Und genau darum geht es in den Tagesabläufen von William Atwater und seinen Freunden: Das eigentliche Leben beginnt (erst) am Nachmittag, folgt dann einer Choreographie von Bars, Drinks, Partys, Verabredungen und Liebschaften, die gelingen oder scheitern – in jedem Fall aber kein erklärtes Ziel kennen, sondern vielmehr eine Gegenwart kreieren, die sich einem Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft bewusst verschließt. Was mitunter auch den Sog von Powells Prosa ausmacht ist seine Fähigkeit, im Erzählen eine vollständig kohärente Gegenwart zu evozieren, die auch heute nichts von ihrer Gegenwärtigkeit für den Leser verloren hat.

Gut 40 Jahre nach Powells Debütroman wird die Londoner Band Pink Floyd in dem berühmten Album The Dark Side oft the Moon (1973) ihren Time-Song veröffentlichen, dessen Verse „hanging on in quiet desperation is the english way“ wie eine Reprise von Powells Figuren- und Zeitdarstellung erscheinen, zumindest ist es genau jene Mischung aus Lebensüberdruss, Lethargie und Lebensgier, die seine Erzählung ausmacht. Man sollte meinen, dass es eine Leichtigkeit ist, diese Prosa, die ja doch sehr einfach daherkommt, zu übersetzen. Der vermeintlichen Leichtigkeit des Erzählens und der erzählten Figuren allerdings auch in der deutschen Übersetzung jene Unter- und Zwischentöne des englischen Originals zu verleihen, ist allerdings ein schweres Unterfangen, das Heinz Feldmann aber auf das Beste geglückt ist.

Titelbild

Anthony Powell: Die Ziellosen.
Aus dem Englischen von Heinz Feldmann.
Elfenbein Verlag, Berlin 2020.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600540

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch