Die Romantik als großer Impulsgeber der europäischen Moderne
Mit „Der gedichtete Himmel“ legt Stefan Matuschek eine neue Gesamtschau der Romantik vor
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war die Romantik eine Gegenbewegung zu zwei anderen Epochen: Aufklärung und Weimarer Klassik. Als Reaktion auf die vernunftbetonte Philosophie der Aufklärung wandten sich die Vertreter der Romantik gegen die Rationalität und die Strenge des Klassizismus. Sie sehnten sich nach einer idealen Vergangenheit zurück – meist im verklärten Mittelalter. Mit dieser Rückbesinnung wurde die Romantik als Flucht aus der Wirklichkeit und als Kritik an der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Situation gedeutet.
In seiner Neuerscheinung Der gedichtete Himmel zeichnet der Jenaer Literaturwissenschaftler und Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar Stefan Matuschek die Romantik als eine Epoche der Neuerungen, die nach der Aufklärung ein weiterer Impuls für die europäische Moderne war. Es geht ihm darum, die Romantik als Fortschritt zu begreifen. Der Akzent liegt dabei auf den Innovationen, die mit der Romantik in die Welt gekommen waren. Diese Weiterentwicklungen bestehen für den Autor weniger in neuen Überzeugungen, Meinungen oder Thesen als vielmehr in einer neuen Darstellungsweise. Die Romantik „entwickelte eine neue Weltanschauung und Lebenseinstellung und gewann damit philosophische und lebenspraktische Relevanz“.
In sieben Kapiteln wird die Geschichte der Romantik unter diesem neuen Blickwinkel beleuchtet. Zunächst betrachtet Matuschek den Ansatz, der sich programmatisch mit dem Ausdruck „Romantik“ verbindet. Hier verortet er die Dichtungstheorie der „romantischen Poesie“, die von Friedrich Schlegel als progressive Universalpoesie formuliert wurde, denn sie unterlief die bisherigen Gattungsbegriffe und Gattungsnormen. Breiten Raum nimmt das Thema „Romantik als europäisches Phänomen“ als eine vielschichtige, schöpferische Bewegung ein. Dabei versteht Matuschek unter der ‚europäischen Romantik‘ eine Sammelbezeichnung für die Vielfalt der romantischen Strömungen unterschiedlicher nationaler Ausprägung, wobei die Bezeichnung „Romantik“ über die Literatur hinaus auch auf die Malerei, Musik, Naturwissenschaften sowie philosophische und politische Positionen übertragen wird. In der Romantik sieht Matuschek die „wahre Klassik“, während die „Weimarer Klassik“ epochal nur eine Übergangszeit von der Aufklärung zur Romantik darstellt.
Die Romantik folgte auf die Französische Revolution. Darin sieht Matuschek kein bloßes zeitliches Nacheinander sondern ein „Ursache-Wirkungs-Verhältnis“. Während die Aufklärung die Vorbereitung auf die französische Revolution darstellte, war diese wiederum einer der Gründe für die Entstehung der Romantik. Sie verlieh der Literatur um 1800 ein modernes Selbstbewusstsein. Schlegel nannte die romantische Poesie eine „progressive Universalpoesie“, womit er die Entwicklung von Strategien der Offenheit ausdrücken wollte. Matuschek interpretiert diesen romantischen Begriff als einen „Erlösungsraum jenseits aller Reglementierung und Rationalisierung“. Mit einer Poesie ohne etablierte Zwänge sollte ein Gegenpol zur verachteten Gegenwart geschaffen werden. Die Poesie als wahre Dichtkunst der Zukunft sollte vielmehr das Tor zur Unendlichkeit öffnen.
In dem Kapitel „Lesewelten“ weist Matuschek darauf hin, dass mit der Romantik auch eine Modernisierung der Literatur verbunden war. Ausdruck dessen war der quantitative Zuwachs an literarischen Werken und neuen Gattungen – von historischen und fantastischen Romanen, über die Schauerromantik bis zur Märchenliteratur. Dadurch konnten neue, auch wenig begüterte Leserschichten gewonnen werden. Durch den wachsenden Literaturmarkt kam es auch zur wirtschaftlichen Besserstellung vieler Schriftsteller, die somit den Übergang zum Berufsschriftsteller vollziehen konnten. Die Ausbreitung von Buchproduktion und Leserschaft nach 1800 führte allerdings zu einer Politisierung und Nationalisierung der Literatur. Besonders während der Napoleonischen Besatzung bildete sich trotz aller kleinstaatlichen Grenzen eine kulturelle Gemeinschaft heraus, die sich aber nach außen deutlich abgrenzte. Ausdruck dieser Bestrebungen war u. a. eine volkstümliche Poesie, die die Standesgrenzen in der Gesellschaft überwinden sollte. Doch dies war, wie Schlegel feststellte, ein „Wunschbild von Standespersonen und Gelehrten“. Die Nationalisierung der Literatur spitzte sich schließlich in der Wiederentdeckung und Erneuerung der germanischen Mythologie zu.
In dem Kapitel „Romantik als Epoche, Romantik als Modell“ definiert Matuschek noch einmal den Epochenbegriff „Romantik“, deren Beginn die Französische Revolution markiert. Für das Ende der Epoche gibt es jedoch kein vergleichbares Datum. Als „Schwellenfigur“ bietet sich nach seiner Ansicht Heinrich Heine und dessen literaturhistorische Abhandlung „Die romantische Schule“ an. Die romantische Literatur schuf außerdem ein neues Darstellungs- und Deutungsmodell von Transzendenz, das später von modernen Schriftstellern aufgegriffen wurde – z. B. von Baudelaire, Rilke oder den Surrealisten.
In seinem Epilog „Das selbstgemachte Jenseits“ formuliert Matuschek noch einmal zusammenfassend, dass die Romantik eine historisch neue Chance zur individuellen Selbstbestimmung hervorbrachte. Empfindsamkeit wurde zum zentralen Thema. Romantik, so wagt er am Ende eine Definition, „ist die stilistische Evidenz, dass man über die Verhältnisse seiner Vernunft lebt.“ Der gedichtete Himmel gibt einen Anstoß für eine neue Betrachtung der Literatur, Künste, Wissenschaft, Philosophie und Politik in Europa am Übergang vom 18. zum 19.Jahrhundert, wobei der Autor die Romantik – im Gegensatz zu früheren Publikationen, die sie eher als rückwärts gewandte Epoche betrachteten – als eine von Fortschrittseuphorie geprägte Epoche sieht, in der ein kultureller und gesellschaftlicher Aufschwung stattfand.
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