Lauter Lebenszeichen

Friedrich Glausers „Jeder sucht sein Paradies …“ dokumentiert in Briefen, Berichten und Gesprächen eine literarische Erfolgsgeschichte als Abfolge von Krisen, Abhängigkeiten und Internierungen

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Glauser gehört zu den meistgelesenen Schweizer Autor*innen. Am bekanntesten ist die von ihm geschaffene Figur des Wachtmeister Studer, eines Kommissars, der nach einem großen Vorbild entstand, nämlich Kommissar Maigret, und doch von Anfang an auf eigenen Beinen stand – ganz schweizerisch unabhängig und nicht weniger eigenwillig als der berühmte Franzose. Sie gleichen sich durch jene „gar nicht billige Menschlichkeit“, um es mit Glausers Worten auszudrücken, die er in seiner Faszination für die Romane George Simenons fand.

Denn genau das könnte auch über seine eigenen Romane und Erzählungen gesagt werden. Oder in den Worten Hermann Hesses: Bei dem guten Beobachter und Erzähler Glauser gehe es „mitten in die Grundprobleme unseres Lebens“. Bei ihm kommen wir den Menschen immer ganz nahe, als spürten wir ihren Herzschlag; sie gewinnen in den Worten eine geradezu körperliche Präsenz und bleiben doch rätselhaft. Vieles besitzt starke autobiografische Bezüge. Er wollte übrigens nie „Schweizer-Romane“ schreiben und hielt seine eigenen Werke für gar nicht schweizerisch, „weil alles von aussen gesehen ist“.

Mit Glausers literarischem Werk verbinde ich immer auch die Magie des Atmosphärischen, diese Kunst, fühlbare Stimmungen zu beschreiben in Tonlagen, Temperaturen, räumlichen Dimensionen, menschlicher Nähe. Auch ist es diese seltsam nüchterne, schnörkellose Sprache, die eine große Eindringlichkeit besitzt. Romane wie Wachtmeister Studer, Matto regiert, Der Chinese oder Gourrama und die vielen Erzählungen hinterließen unauslöschliche Spuren einer ebenso berührenden wie verstörenden ‚Glauser-Welt‘, angefüllt mit Ausbrüchen, Fluchten und Sehnsüchten. „Ich balanciere wie ein schlechter Seilkünstler auf dem lockeren Seil der Bürgerlichkeit“, heißt es einmal in einem Brief.

Nach der Lektüre des kürzlich erschienenen und von Christa Baumberger hervorragend edierten Bandes mit Briefen von und an Glauser, angereichert mit einer Fülle weiterer biografischer Dokumente (etliche als Faksimile) sowie zahlreichen Fotografien, wird indes klar, wie extrem die Welt dieses Schriftstellers tatsächlich war. Sein Drang zum Schreiben erscheint darum wie ein Akt der Selbstbehauptung gegen eine feindliche, ewig widerständige Welt, die ihm nichts kampflos überließ. „Der Schreibzwang dieses sprachmächtigen Erzählers war seine Lebenskraft“, urteilte einst Georg Hensel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dem ist nur beizupflichten, und eher selten kam er dem Paradiesischen nahe, dessen Suche er nie aufgab. Als er es endlich geschafft hatte, vom Schreiben leben zu können, da machte ihm der Tod, der so oft schon seinen Auftritt in den Werken hatte, einen Strich durch die Rechnung. Glauser war 42 Jahre alt, als er Ende 1938 im italienischen Nervi starb.

Das Vaterproblem ist für Glauser sozusagen der rote Faden seines Lebens, das ihn zum „Leidsucher“ werden ließ. Es führt schließlich zu seiner Entmündigung, weil der drogenabhängige Sohn dem Vater zur Last wurde. Bis zu seinem Lebensende kommt es so zu einer anderen Abhängigkeit, nämlich der vom Vormund, dem er stets und ständig Rechenschaft schuldig ist. Gelöst wird das Problem nie, später wird es eine Art Beruhigung geben, nachdem er durch die Psychoanalyse das ganze verkorkste Verhältnis durchschaut und fortan den übermächtigen Vater zumindest auf Distanz halten kann.

All diese schmerzhaft existenziellen Prozesse in Glausers Leben lassen sich in den Briefen und Berichten nachlesen, erschütternd immer wieder die Abstürze, all die Beschaffungskriminalität, um an das Morphium zu gelangen, die Lügen und Selbsttäuschungen, die ewigen Internierungen. Und dann eben das Schreiben, das immer deutlicher zur Gegenwehr wird. Leider lieferte es ihm auch eine Quelle neuen Leids, denn die Anerkennung als Schriftsteller war wie alles andere auch ein Kampf, begleitet zudem von ewigen Geldnöten. Welche enorme Energie er dabei einsetzt, ist in dem Band eindrucksvoll nachlesbar.

Seine Selbstreflexionen, das zeigen die Dokumente klar, kommen illusionslos daher, aber der Besitz der Wahrheit ändert freilich nichts an der Verletzbarkeit. Durch die Internierungen stand er unter Beobachtung. Ein Recht auf Privatheit gibt es in den Anstalten nicht, genau diese Art von „Entmenschlichung“ empört ihn. Er will nicht, dass „Psychiater ihre geistig unsaubere Nase in meine Angelegenheiten stecken“. Irritierend findet er auch „ihre absolute Humorlosigkeit, die sich, eigentlich genau, wie bei den überzeugten Anthroposophen, hinter einem überlegen-sonnigen Lächeln verbirgt“. Als inzwischen Vierzigjähriger spricht er mit seinem Vormund offen über die Zumutung der Internierungen. Glauser hält all das Psychotherapeutische für nutzlos. Auch bedeutet es ihm eine zusätzliche psychische Belastung,

„[…] der ich nicht mehr gewachsen bin. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt, mein Name ist nicht mehr ganz unbekannt […] und ich kann wirklich nicht mehr diese ganze hoffnungslose Komödie weiter mitmachen. Es ist mir auch unmöglich, mich als asozialen Psychopathen zu empfinden, vor dem die Gesellschaft à tout prix bewahrt werden muss.“

Die Herausgeberin des Dokumentenbandes, Christa Baumberger, ist natürlich eine Glauser-Expertin: Sie hat über Glauser promoviert und ist Kuratorin seines Nachlasses. Die Einteilung des Bandes in Lebensabschnitte erscheint sinnvoll, wobei die Herausgeberin jedem Kapitel eine Einleitung voranstellt, in der sie die jeweils spezifische Lebenssituation skizziert. Hilfreich und erhellend sind auch die zahlreichen um die Dokumente gruppierten Anmerkungen – und das alles in einer äußerst ansprechenden Aufmachung. Eine unbedingte Empfehlung.

Baumberger erinnert daran, dass Glauser nicht nur viel schrieb, sondern auch ein großer Leser war. „Die Briefe sind sein literarischer Zettelkasten, gespickt mit Lektürenotizen, Zitaten und Äusserungen zu anderen Autoren.“ Wir finden darin nicht wenige Spuren zu seinem künstlerischen Selbstverständnis. Bei allen Widerständen, die er zeitlebens erfuhr, wurde er schließlich der anerkannte und geehrte Schriftsteller, der ein breites Publikum fand. Doch eines wollte er nie sein – ein Dichter:

„Und nicht wahr, ich bin kein ‚Düchter‘. Alle Leute wollen partout, daß ich ein Düchter sei. Und ich bin wirklich nur ein Handwerker, der im Schweiße seines Gehirns sein Metier lernt.“

Titelbild

Friedrich Glauser: „Jeder sucht sein Paradies …“. Briefe, Berichte, Gespräche.
Herausgegeben von Christa Baumberger / Mit Illustrationen von Hannes Binder.
Limmat Verlag, Zürich 2021.
520 Seiten ,
ISBN-13: 9783039260058

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