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Zum ersten Mal gedruckt und interpretiert: „Unglaube auf der Akropolis“ von Sigmund Freud aus dem Umfeld seiner Freundschaft mit Romain Rolland

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch besteht nur zu einem Fünftel aus Darlegungen Sigmund Freuds, die Erläuterungen des Herausgebers Alexandre Métraux nehmen den größten Raum ein. Um es gleich zu sagen: Das Ganze ist ein intellektueller Genuss für jeden kulturgeschichtlich Interessierten.

Wir müssen etwas ausholen. Hintergrund der Veröffentlichung ist etwas längst Bekanntes: das offene Schreiben Freuds aus dem Jahre 1936 an den französischen Schriftsteller Romain Rolland, das den Titel Brief an Romain Rolland trägt und den Untertitel Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis. Anlass war der 70. Geburtstag Rollands. In diesem Brief berichtet Freud, wie er im September 1904 bei seinem Besuch der Akropolis in Athen von einer ‚falschen Erinnerung‘, eben einer „Erinnerungsstörung“, befallen wurde: Er meinte plötzlich, in seiner Schulzeit habe er die Überzeugung gehabt, Athen samt seiner klassischen Vergangenheit gebe es gar nicht, und erst jetzt, an Ort und Stelle, korrigiere er sein altes Vorurteil.

Tatsächlich aber habe er zu keiner Zeit an der Realität Athens gezweifelt. Freud erklärt diese Erinnerungsstörung als die „Abwehr“ einer Schuld: Er habe sich als Besucher der Akropolis unbewusst schuldig gefühlt gegenüber seinem Vater, der als (jüdischer) Kaufmann von armseliger Herkunft niemals die Gelegenheit gehabt hatte, gymnasiale Bildung zu erwerben oder gar Griechenland zu bereisen. Die Pietät Freuds als Sohn sei so weit gegangen, es für „unerlaubt“ zu halten, „den Vater übertreffen zu wollen“. Freud bekennt noch, er habe sich beim Erreichen der Akropolis wie ein „Held“ gefühlt, der wagemutig „den Ozean“ durchquert, und er ergänzt, dass seine Tochter Anna (Psychoanalytikerin wie ihr Vater) gerade an einem Werk über Abwehrmechanismen arbeite (das noch 1936 erschien).

Dieser Freud’sche Text über seine Erinnerungsstörung, in dem Buch erneut wiedergegeben, hat seit jeher Aufmerksamkeit erregt. Freuds Stichwort ‚Held‘ haben seine Leser damit in Zusammenhang gebracht, dass er durch seine wissenschaftlichen Entdeckungen sich selbst als einen Held gesehen und sich mit Moses, Hannibal und Fridtjof Nansen verglichen hat. Sogar die Literaturwissenschaft hat sich auf Freuds Text bezogen, nämlich bei ihrer Erforschung von Abenteuerromanen: Das exorbitante Leistungsvermögen der Helden in diesen Romanen wurde als ihre heimliche Wiedergutmachung gedeutet angesichts des Umstandes, dass sie einst von zu Hause ‚ausgerissen‘ sind.

In thematischer Nähe zu diesem Text gibt es einen zweiten von Freud mit dem Titel Unglaube auf der Akropolis; er ist in vorliegendem Buch zum ersten Mal gedruckt. Er ist nicht in Briefform. Dieses Manuskript hat Freud 1937 der Frau Rollands, Marie Rolland, überlassen, die mehrere berühmte Leute um Autographen gebeten hatte, mit deren Erlös sie die Opfer des Spanischen Bürgerkriegs unterstützen wollte. Von der Existenz des Manuskripts erfuhr die Öffentlichkeit 1991 aus einem Londoner Auktionskatalog; das Manuskript selbst gelangte als Geschenk 2008 in die Hände von Métraux.

Dieser Unglaube auf der Akropolis und der andere Text überschneiden sich mehrfach. Man bemerkt rasch, dass letzterer, also die Erinnerungsstörung auf der Akropolis, bei seinen psychologischen Überlegungen klarer und pointierter ist. Zum Beispiel kommt im Unglauben auf der Akropolis der Begriff der Abwehr fast nur am Rande vor; Anna Freud wird gar nicht erwähnt. Dafür spielt der Hinweis auf die Libido und auf die vor-analytischen Forschungen Josef Breuers eine Rolle. Ferner erscheint das Stichwort „Held“ hier nicht, aber der „Ozean“ wird genannt. Das Verdienst Métraux’ liegt zunächst darin, dass er nachweist, der Unglaube auf der Akropolis ist der ältere der beiden Texte, geschrieben 1934 oder früher, so dass er sich als die Urfassung der Erinnerungsstörung auf der Akropolis von 1936 erweist.

Seinen Wert hat somit der bisher unbekannte Text nicht als solcher, sondern als Teil des Komplexes ‚Akropolis-Erinnerung‘. An diesem Text hat Freud also gefeilt, um ihn in der Neufassung Rolland zu widmen. Das erst in der Neufassung auftauchende Stichwort „Held“ und die Erwähnung dort von Anna Freud sollten wohl Rolland besonders ansprechen; tatsächlich hatte Rolland auch Anna kennengelernt, als er Freud 1924 besuchte. 

Die beiden Freud’schen Texte sind für Alexandre Métraux der Anlass, die Freundschaft und die brieflichen Diskussionen seiner beiden Hauptpersonen zu besprechen. Sigmund Freud (1856–1939), der Analytiker der Seele und fruchtbare wissenschaftliche Autor, dabei ein Pessimist hinsichtlich der Zukunft des Menschen, und Romain Rolland (1866–1944), der Schriftsteller, Linksintellektuelle und für die indische Mystik Begeisterte, waren beide Kriegsgegner, Antifaschisten und Verächter von Lebenslügen. 1923 wandte sich Freud erstmals an Rolland. 1927 sandte er ihm ein Exemplar seiner glaubenskritischen Studie Die Zukunft einer Illusion – mit der ‚Illusion‘ waren Glaube und Religion gemeint –, auf die Rolland hellhörig reagierte. Er gab in seinem Brief von 5. Dezember 1927 Freud in vielem Recht, brachte aber doch ein spezielles religiöses Gefühl zur Sprache, das nichts mit Dogma und Credo zu tun habe und nicht im Widerspruch zur kritischen Vernunft stehe. Er selbst und weltweit fast jeder Mensch besitze es. Er nannte dieses Gefühl „ozeanisch“, es sei wie das „Sprudeln des Lebens“.

Métraux geht in seiner Übersetzung des Briefes so weit, dass er das Wort ‚sprudeln‘ (franz. jaillir) kühn entgegen dem Original an einer anderen Stelle zusätzlich einfügt. Dieser Gedankengang Rollands wurde für Freud „zu einer kulturpolitischen Herausforderung“ (Métraux). In der 2. Auflage seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur von 1931 behandelte er ausführlich dieses Rolland’sche „ozeanische Gefühl“ und erklärt es als etwas Pathologisches, als das Unvermögen – typisch für Kleinkinder –, zwischen der Innenwelt und der Außenwelt zu unterscheiden. So wurde das „ozeanische Gefühl“ zu einem öffentlichen Thema. Freud sandte das Werk an Rolland, und zwar mit einer Widmung, in der er sich selbstironisch und demütig „das Landthier“ nannte.

Es ist wirklich spannend, die weitere Korrespondenz und Métraux’ Deutungen zu lesen. Rolland schrieb beschwörend, er selbst fühle sich auch als Landtier und „erdverbunden“. Das ozeanische Gefühl sei „ein Merkmal des Lebens“, und es sei für den Wissenschaftler „gefährlich“, es nicht zur Kenntnis zu nehmen. (40 Jahre später sollte der Freud-Schüler Erich Fromm sich auf die Seite Rollands stellen und für dessen Haltung den Begriff ‚Biophilie‘ prägen.) Freud antwortete freundlich und zugleich unnachgiebig. Doch er reagierte ferner 1936, indem er für Rolland den offenen Brief über das Akropolis-Erlebnis verfasste oder vielmehr, wie erwähnt, einen schon vorliegenden Text umarbeitete. Das darin auftauchende Stichwort „Ozean“ ist eine deutliche Hommage an Rollands Deklarationen und seine Räume und Zeiten umfassenden Denkbemühungen.

Die Beziehung Freud–Rolland hatte ein bitteres Ende. Man weiß nicht, ob Rolland, überrannt von den Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag, Freuds Akropolis-Brief genau gelesen hat; er sandte Freud nur eine pauschale Danksagung. Und den Freud rühmenden Tagebucheintrag von 1924 („Ich hege größte Hochachtung für die Person Freuds […], der sich […] als Erster an die Umschiffung des schwarzen Seelenkontinents vorgewagt hat“) hat er, als er 1942 das Tagebuch veröffentlichte (unter dem Titel Le Voyage intérieur), herausgestrichen. Es könne sein, sagt Métraux, Rolland habe unter dem Druck der deutschen Zensur im besetzten Frankreich dies tun müssen, aber wahrscheinlich sei es nicht.

Ferner legt Métraux’ Kommentar Einzelheiten aus der reichen Sekundärliteratur zu Freuds Athen-Erlebnis dar. Manche Fragen der Interpreten erscheinen ihm zu Recht wichtigtuerisch und inkompetent (‚Warum erwähnt Freud nicht Schliemanns Mitarbeiter Dörpfeld, dem er auf dem Schiff begegnet ist?‘, ‚Wollte Freud Rolland als seinen Biografen haben?‘). Interessant sind die Angaben Métraux’ zu Alexander Freud, Freuds jüngerem Bruder, psychoanalytischem Diskussionspartner und Professor an einer Wiener Wirtschaftsakademie, der Freud in Griechenland begleitet hat. Zu alledem passt, dass Métraux auch den Zustand des alten Freud sichtbar macht, der, wie er sagte, auf die „Abwicklung“ seines Lebens wartete und wegen seiner Krebserkrankung im Rachen nur mit Mühe sprechen konnte, als Rolland ihn besuchte.

Métraux sind einige Druckfehler („Narzismus“, „Vilmorel“ statt Vermorel und andere) und Verwechslungen bei Zitatbelegen unterlaufen.  Doch hervorzuheben ist: Er schreibt ansprechend und mitreißend und bleibt bei seinem vielfältigen Abwägen und Argumentieren immer klar. Er nimmt den Erstdruck eines Textes zum Anlass, uns in die brüchige geistige Welt der Zeit um 1930 einzuführen – unter einem speziellen Blickwinkel und in faszinierender Weise.

Titelbild

Sigmund Freud: Unglaube auf der Akropolis. Ein Urtext und seine Geschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
120 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835338593

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