Fallende Blätter aus dem Wörterbaum

Martin Walser fasziniert mit funkelndem „Sprachlaub“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tu’s in deinen Wörterbaum. Zum Anschauen“, sagt der Vater zu Johann, dem Alter Ego des Erzählers, in Martin Walsers autobiographischen Roman Ein springender Brunnen (1998) immer dann, wenn Johann ein schwer zu buchstabierendes Wort wie „Popocatepetl“, „Bhagawadgita“ oder einfach ein neues Wort wie „Rippenfellentzündung“ oder „Jugendstil“ hört und letztlich auch sieht. An diesen „Wörterbaum“ knüpft Walser, der seit gut einem Dreivierteljahrhundert unablässig Leben in Sprache verwandelt, metaphorisch an mit seinem neuen Buch Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist. Zugleich schlägt Walser mit Sprachlaub, pünktlich zu seinem 94. Geburtstag erschienen, auch den Bogen zu seinem Vorvorgängerwerk Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung. Darin heißt es am Ende: „Es tanzen die Blätter im Wind, / wissen nicht, dass sie am Fallen sind“, während der erste Vierzeiler zu Beginn lautet: „Ich möchte sein wie ein Wunsch, / auf der Schwelle möchte ich stehen, / ein Tag sein vor seinem Anbruch, / noch nicht gewesen sein.“

Sind es in Spätdienst die Arabesken der Schriftstellerin, Übersetzerin, Bildenden Künstlerin und Tochter Alissa Walser (Jahrgang 1961), die den Walserschen Sprachkosmos mit Notaten, Aphorismen und lyrischen Stimmungsbildern umranken, so sind es in Sprachlaub Ausschnitte aus ihren Aquarellen in gedämpften erdig-grün, -gelb und -braun gehaltenen Tönen, die das melancholisch-nachdenkliche wie vital sprachlebendige Buch durchziehen.

Wie Spätdienst bietet Sprachlaub Gedankenlyrik, die ihr blühendes Verglühen und glühendes Verblühen im Schreiben zum Thema macht – allerdings noch eine Spur direkter und offener als dort: „Schreiben und Leben fielen bei mir / fast von Anfang an zusammen. / Ich tanzte, also war ich.“ So sind lyrisches Ich und Autor in Sprachlaub nicht mehr zu trennen, eine mögliche Unterscheidung auch völlig irrelevant: „Existenz pur schwebt mir vor, / Weltmeister will ich sein / durch nichts / als Einbildungskraft“, heißt es zu Beginn.

Trotz aller Trauer um die Vergänglichkeit („Ras doch nicht so Jahr“), um Erinnerungsverlust, ums Abschiednehmen, um körperliche Schmerzen („Ich bin vernichtet von der Nacht /… Schmerz gürtet mich“) und Krankheit, ist Sprachlaub kein Buch der Resignation, kein Notat der Klage oder gar des Selbstmitleids, auch wenn mit dem Gedanken gespielt wird, dem Leben ein Ende zu setzen: „Mit dem Messer / die Ader ritzen, / im Badezimmer bleiben, / das ewige Taumeln beenden“. Dieser Gedanke wird jedoch gleich wieder ironisch gebrochen: „Wart ab bis morgen, / es könnte sein, dass du / morgen etwas zu essen bekommst, / wofür es sich lohnt, / am Leben geblieben zu sein.“

Der an manchen Stellen heiter-ironische Ton aus Spätdienst, wenn das Ich etwa behauptet, „ich spiel, bis ich, was ich spiel, glaube“ oder „Wahrscheinlich habe ich mich satt. / Meine Geduld mit mir ist zu Ende. / Ich werde jetzt andere Saiten aufziehen. / Wenn ich nicht hören will, muss ich fühlen, / Gar alles kann ich mir auch nicht durchgehen lassen“ findet sich auch im Sprachlaub, in jenen fallenden oder gar gefallenen Blättern des Wörterbaums, wenn es heißt: „Ich möchte lernen, von mir nichts / mehr zu erwarten. Weil ich von mir / nichts mehr zu erwarten habe – / ich weiß das. Aber glaube es nicht.“

Immer wieder ist es in Sprachlaub Natur („Ich bin / ein Landschafter geworden“), sind es der Garten, Blumen, Bäume und ihre Blätter, aber auch Tiere – Amseln, Bienen oder Katzen –, die in der Einsamkeit Halt geben, die das verkörpern, was der Untertitel verheißt: Denn „nichts ist nämlich, was es zu sein scheint. / Du muss den Wörtern kündigen. / Wahr ist nur, was schön ist.“

So endet der Band trotz allem Abschiednehmen nicht in Resignation, sondern mit dem Wunsch „bis zum letzten Abend leben“ zu können.

Sprachlaub entfaltet keine Angstblüte, die angesichts drohenden Unheils alle Kräfte bündelt und entfaltet, sondern ist ein faszinierendes, berührendes Florilegium all jener fallenden Blätter aus dem Wörterbaum, die sinkend, funkelnd und schillernd ihre Pracht noch einmal entfalten, während wir sie, wie Johann, im Wörterbaum anschauen dürfen.

Titelbild

Martin Walser: Sprachlaub. Oder: Wahr ist, was schön ist.
Mit Aquarellen von Alissa Walser.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
144 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002398

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