Leben muss nicht immer eine Pointe haben

Ein deutsches Schicksal – Ein literarisiertes Leben: Die Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert erzählt in „Aufstehen“ Teile ihres Lebens in Geschichten

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits vor Erscheinen und kurz nach Herausgabe wurde das Werk Aufstehen. Ein Leben in Geschichten der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin von 2020 Helga Schubert mit großen Vorschusslorbeeren und positiver Kritik überhäuft. (Vgl. etwa die Rezensionen von Elke Heidenreich in Spiegel online oder Stephan Wackwitz in der taz, dazu wurden Berichte in der Literatursendung Druckfrisch in der ARD und in dem Kultursendung arttour auf MDR gesendet).

Auch im Literarischen Quartett im ZDF wurde das Werk überaus positiv aufgenommen, wenn nicht gar gehypt, indem mit Steigerungsadjektiven wie „faszinierend, entzückend, ganz besonders, hingerissen, höchste, höchste Kunst“ nur so um sich geworfen und relativ „banale“ Stellen als „Höhepunkte eines versöhnten, leicht humorvoll wie leicht tragischen Schreibens“ herausgestellt wurden. Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse geht in der Sendung so weit, „die Klein- und Kleinstgeschichten, diese autobiographischen Vignetten“ als Schullektüre zu empfehlen.

Insofern waren die an den Text herangetragenen Leseerwartungen seitens des Rezensenten nicht gerade gering, Erwartungen, die sich allerdings nur bedingt erfüllten. Man mag dem Kritiker seinen mangelnden Sinn vorwerfen, die „leise Ironie“ oder die „gelassene, humorvolle und selbstironische Widerständigkeit“ (Menasse), den „Ton, der angeschlagen wurde“ oder die Darstellung des „Großen im Kleinen“ nicht so ganz nachempfunden zu haben.

Schubert war bereits vor 40 Jahren einmal für den Bachmann-Preis nominiert, erhielt aber keine Ausreisegenehmigung aus der DDR, worauf im Werk selbst Bezug genommen wird. Ihr wurde damals beschieden, „ihren Antrag zurückzuziehen“, kam dieser Aufforderung aber nicht nach, woraufhin ihr endgültig verboten wurde, „Reich-Ranicki, dem „berühmten Anti-Kommunisten“ vorzutanzen (so der Auszug der von ihr zitierten Staatssicherheitsakte).“

Diese Schilderung gehört in eine Reihe im Text gewährter persönlicher und politischer Einblicke, nicht zuletzt in das Leben einer Schriftstellerin in der DDR, was Stephan Wackwitz veranlasst, in der taz von einer Darstellung der „Innenansicht eines versunkenen Staats“ zu sprechen (siehe oben). Eine der schönsten Stellen des gesamten Buchs besteht in der Tat darin, dass die Schriftstellerin beim Besuch der Kollegin Friederike Mayröcker auf deren Spitze „Ich könnte es in diesem Staat keine Stunde aushalten“, antwortet: „Ich dachte, ich auch nicht.“

Die 1940 als Helga Henn geborene Autorin schaut auf ein politisch bewegtes Leben zurück, ohne sich jemals parteipolitisch zu binden oder gebunden zu haben. In der Begründung der Preisvergabe wurde von der Jury des Bachmann-Preises besonders ihr Vermögen herausgestellt, „Lebensgeschichte in Literatur“ umzuwandeln. Der Siegertext des Wettbewerbs mit dem gleichnamigen Titel ist im Werk enthalten.

Eine der Stärken des Werks liegt denn tatsächlich auch in der Verwandlung individueller Erinnerungen („Mein idealer Ort ist die Erinnerung.“), oftmals vor diffizilen politischen Hintergründen in eine besondere Form autobiographischer Literatur. Insofern kann es hier nicht darum gehen, eine Lebensgeschichte zu beurteilen, sondern nur wesentliche Eckpunkte der literarischen Darstellung zu skizzieren und zu beurteilen. Oft geht Schubert von alltäglichen Dingen, Phänomenen oder Gegenständen aus, die sich die Schriftstellerin schreibend neu aneignet, wie schon Kapitelüberschriften Mein idealer Ort, Meine Ostergeschichte, Mein Wald, Mein Winter, Meine neuen Schuhe oder Meine Heimat erkennen lassen. Besondere Beachtung finden darüber hinaus Aufenthalte am Meer (an Ost- und Nordsee) oder die Erinnerungen an Aufenthalte bei der Großmutter in den Ferien. Dazu werden an manchen Stellen literarische und christliche Bezüge eingeflochten. Im längsten Kapitel des Buchs mit dem Titel Eine Wahlverwandtschaft widmet sich die Autorin einer verzweigten Familiengeschichte.

Viele Einzelheiten des Lebens von Helga Schubert weisen eine gewisse Exemplarität in Hinblick auf ein Leben einer weiblichen Schriftstellerin in Deutschland von der Zeit als Kind im 3. Reich über die Epoche des Sozialismus´ bis in die heutige Zeit des vereinigten Deutschlands auf („Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung.“). In diesem Zusammenhang sei allerdings die von Dirk von Petersdorff in der FAZ vom 18.03.2021 aufgeworfene Frage erlaubt, warum die Zeit in der Künstlerkolonie Drispeth in Mecklenburg ausgespart wird, der sich beispielsweise Christa Wolf in ihrem Sommerstück als Thema annahm. Dennoch hat Helga Schubert immer noch über genügend andere bemerkenswerte autobiographische Details ihres Lebens zu berichten: etwa in Form einer ausführlichen Beschreibung ihres 9. Novembers 1989, als sie mit ihrem Mann nach der Maueröffnung („Die Mauer ist weg, stand auf der Sperrmauer.“) auf einen Grenzer zuging und ihr Mann ihn fragte, wie ein Grenzer das finde und sie beide die Antwort erhielten: „Ick finde det wunderbar. Die haben uns jenauso beschissen wie Sie.“

Neben weiteren gesellschaftlich-politischen Reminiszenzen wie ihre Teilnahme an der Mitgliederversammlung des Berliner Schriftstellerverbands, ihre Aktivitäten innerhalb der Evangelischen Kirche („Ich lebte in vielen Rollen, Ich als Mitglied der Evangelischen Kirche […]“) o. a. nimmt die Schilderung der Pflege ihres Mannes (zusammen mit einer Hilfe in ihrem Haus in Neu Meteln in Nordwestmecklenburg), vor allem aber die Beziehung zu ihrer Mutter breiten Raum ein. Die Bewältigung des Verhältnisses zu ihrer „Rabenmutter“, die sich im Gespräch mit der Tochter „hoch anrechnet“, diese nicht „vergiftet oder erschossen“ zu haben, scheint eines der zentralen persönlich-existenziellen Probleme Schuberts gewesen zu sein. Im Werk wird deutlich, wie sehr sie unter dieser Beziehung gelitten hat (ohne in irgendeiner Weise der Mutter gegenüber polemisch zu werden) und wie sie noch als 80-Jährige und lange über den Tod der Mutter hinaus in die Rolle des „ewigen Kinds“ gedrängt wird, so dass man beinahe konsequenterweise nichts über Schuberts eigenes Muttersein erfährt, außer dass „ihr Kind, im dreizehnten Stock eines Hochhauses in Ostberlin, Förster werden wollte“. 

Der Vater, an den die Autorin keinerlei Erinnerungen hat, Mitglied im NS-Studentenbund, den sie dennoch sehr vermisst, fiel bereits als 28-Jähriger am 5. Dezember 1941, dem Geburtstag seines Vaters, bei Kalinin (wurde bis 1990 so genannt, heute Twer). Mit ihrer Mutter floh Schubert allein aus Hinterpommern nach Berlin, weil die Verwandten, die weiter in den Westen zogen, sie nicht weckten, als der Flüchtlingstreck loszog. Diese Erfahrung wirkte sich ebenfalls besonders prägend auf die Lebensgeschichten der Autorin aus.

Zusammen mit diesen stark ihr Leben prägenden Erfahrungen werden darüber hinaus immer wieder relativ einfache alltägliche Verrichtungen im „Zwergenland“ DDR (wie sie die DDR nennt, als sie nach einer genehmigten USA-Reise 1987 dorthin zurückkehrt), später im vereinigten Deutschland, beschrieben. Es zeugt davon, wie einfach und schlicht die Schriftstellerin im positiven Sinne bei allen literarischen und künstlerischen Erfolgen (sie schreibt schon zu DDR-Zeiten Kinderbücher und Drehbücher) geblieben ist. Diese Art von Schlichtheit und Unprätentiösität nimmt die Leserin und den Leser gleichwohl nicht durchgängig für die Darstellungsweise ein. So ließe sich fragen, worin sich die Autorin von anderen Frauen ihres Alters in Ost und West unterscheidet, wenn sie etwa Fastenwochenenden mit Freunden an der Nordsee beschreibt, was wiederum im Quartett als besonders originell empfunden wird, wobei sich mancher aber fragen wird, ob es denn wirklich so „lustig“ ist, sich über die Fastengewohnheiten älterer Damen vor Lachen auszuschütten. 

Indessen betrifft das nicht nur die Inhalte, sondern auch die erwähnte Darstellungsweise. Ohne der Autorin zu nahe treten zu wollen, so mag sich die geneigte Leserin bzw. der Leser an manchen Stellen doch fragen, warum die studierte Psychologin viele Beschreibungen auf einfache Kommentare runterbricht. Der Bezug auf „einfache Formen“ (im Sinne von André Jolles) wie jenen Analogien ihres Lebens zu dem Märchen Des Kaisers neue Kleider gehört ebenfalls zu dieser Tendenz. Mitunter liegt die Frage nahe, ob nicht durch diese Darstellungsweise die Komplexität von Situationen und Stimmungen zum Teil reduziert wird.

Von daher sei abschließend auf die literarische Form bzw. die Stilmittel Bezug genommen, die in den Kritiken bis auf Zuschreibungen wie „lakonischer Stil“, „sanftmütige Beharrlichkeit“, „beiläufige Dringlichkeit.“ (Maike Albarth in Deutschlandfunk Kultur) oder „gestalterische Überhöhungen“ ansonsten eher unterrepräsentiert scheinen. Darüber hinaus wird allerdings erkennbar, dass Helga Schubert gerne die Wiederholung als stilistisches Mittel nutzt (wiederholt etwa Sätze am Anfang und am Ende mehrerer Kapitel). Dass dies so weit geht, dass eine Passage wortwörtlich doppelt erscheint, mag dem Geheimnis des Schaffens der Autorin geschuldet sein. Es handelt sich dabei um die Beschreibung einer Begegnung mit einer evangelischen Pastorin auf einer Nordseeinsel, der sie eröffnet, dass sie das vierte Gebot, du sollst Vater und Mutter lieben, nicht einhalten kann, wobei sie von der Pastorin verbessert wird, dass es nicht lieben, sondern ehren heißt. Mit dieser Bemerkung weist sie der Autorin den Weg aus deren Dilemma der ihrer Mutter vorenthaltenen Liebe. Auch dies scheint dem Verfasser hier weder als „überorginelle Bemerkung“ noch „große literarische Darstellung“ in dem Rekurs auf ein Gespräch, wie es von der Moderatorin des Literarischen Quartetts Thea Dorn suggeriert wird.

Über die Berücksichtigung des Autobiographischen und Politischen hinaus stellt sich die Gattungsfrage nach einem Leben in Geschichten, wie es im Untertitel heißt. Von der Autorin wahrscheinlich durchaus so gewollt, verschwimmt dabei die Grenze von Fiktion und beschriebener bzw. erlebter Realität, was zugleich die Unbestimmtheit der „Gattung“ weiter verstärkt. Selbst wenn man dies als ein charakteristisches Merkmal des Werks konzediert, nicht zuletzt, weil das Werk sehr „authentisch“ daherkommt, so tragen manche (autobiographische) Erzählungen an einigen Stellen zu wenig, um wirklich in Form von Fiktion oder „Faktion“ Erkenntnis oder Suspense zu vermitteln. Von daher handelt sich an nicht wenigen Stellen um ein überexplizites Werk, das zu wenig Interpretationsspielraum, geschweige denn ein Weiterdenken bietet, zumal manche Erzählungen voraussagbar erscheinen. Von einem „doppelten Boden“, den Reich-Ranicki einst für die Qualität von Literatur reklamierte, kann an den erwähnten Stellen nicht wirklich die Rede sein. 

Man mag es wie Elke Heidenreich positiv wenden, indem sie betont, dass „ein einfaches, gütiges Leben, mild und sanft“ beschrieben werde. Man kann dies aber auch als fehlende Fiktionalisierungsqualität empfinden, zumal es sich bei dem Text ja auch nicht um ein literarisches Experiment handelt.

Die Autorin hat zudem darauf hingewiesen, dass der Titel Vom Aufstehen auf die berühmte Stelle in Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr anspielt („Ich sage dir steh auf, es ist dir kein Knochen gebrochen.“) und dass sie auch lange überlegt hätte, das Werk Das 80. Jahr zu nennen. Ein Vergleich jedoch mit der Prosa Ingeborg Bachmanns scheint von der Sache her nicht wirklich begründet. Denn während Bachmann eine sehr kunstvoll komponierte artifizielle Prosa schreibt, ist Helga Schubert doch sehr nah an eher realistischen Beschreibungen. 

Trotz der formulierten, eher formalästhetischen Einwände sei das Buch empfohlen: Wer an einer quasi exemplarischen „deutschen Lebensgeschichten“ im 20. und 21. Jahrhundert interessiert ist, dem bietet das Werk ein interessantes Bild einer Frau, die durch die deutschen Wirrungen und Verwirrungen des Jahrhunderts mit „Kritik und Versöhnung“ (Menasse) ihren Weg gefunden hat und der es gelingt, „in der Ambivalenz zu verbleiben“, auch wenn es nicht für jede Lebenssituation eine darstellbare Pointe gibt.

Titelbild

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten.
dtv Verlag, München 2021.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282789

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch