Ein anderes Bild der Geschichte

Der Wiener Franzobel peilt seinen historischen Roman „Die Eroberung Amerikas“ zwischen Ernst und Komik hindurch

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte ist immer auf Seiten der Sieger. Die Chronisten rücken sich selbst ins Licht und schreiben die Feinde schlecht. „Die jeweils Herrschenden sind“, formulierte es Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen, „die Erben aller, die je gesiegt haben“, wogegen die Verlierer als Beute „im Triumphzug mitgeführt“ werden. So ist zu erklären, dass die angeblich gloriose Kolonialgeschichte die ihr zugrunde liegende Barbarei so lange zu verschleiern wusste. Als Mittel dagegen riet Benjamin 1940, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ und, mit einem Wort des Historikers Fustel de Coulanges, alles historische Wissen „sich aus dem Kopf zu schlagen“. Der neue Roman von Franzobel folgt diesem Rat und ruft die Geschichte der Eroberung Amerikas als das „erfolgloseste aller spanischen Unternehmen“ in Erinnerung. Er erzählt von Hernando de Soto, der 1539 den Versuch unternahm, in Florida das mythische Eldorado zu finden. Gleich zu Beginn teilt uns Franzobels Erzähler mit, dass er de Soto der Einfachheit halber Ferdinand Desoto nennen wolle; und im selben Atemzug gibt er zu erkennen, was er von Benjamin gelernt hat: „Geschichte wird von den Siegern geschrieben, von denen, die Geld und Einfluss haben“. Allerdings will er gar nicht an dieser Perspektive rütteln, auch sein Roman erzählt von den „Siegern“, die Frage ist nur, wie er es tut.

Die burleske Erzählkunst, mit der Franzobel seine Lesergemeinde seit 30 Jahren oder 60 Büchern vergnügt und auch provoziert, scheint auf den ersten Blick wenig geeignet für ein solches Unterfangen. Dennoch greift er frech und zum zweiten Mal nach Das Floß der Medusa (2017) eine historische Begebenheit auf und rückt sie mit erzählerischen Mitteln in ein neues Licht.

„Holen wir kurz Luft“ – wie sich der Erzähler gerne an die Leserschaft wendet – und rekapitulieren wir den Inhalt. Durch den Feldzug mit Pizarro ins Reich der Inkas reich geworden, schielt Ferdinand Desoto auf ein noch lohnenderes Abenteuer. Von der Gier nach Gold getrieben, will er das unbekannte Florida, wie das Gebiet nördlich von Kuba und Mexiko gesamthaft bezeichnet wurde, erobern und missionieren. Von Sevilla aus segelt er am 6. April 1538 mit seiner Flotte in Richtung Kuba los, um ein Jahr später mit rund 700 Mann – Soldaten, Gaunern, Missionaren – in die terra incognita einzufallen. Alle hoffen auf einen billigen Gewinn. Ohne Erfolg, wie wir wissen. Der Kreuzzug bringt nichts ein außer Terror und Gewalt gegen die Indigenen, die ihnen mal freundlich, mal feindlich begegnen. Nach einer zweijährigen Odyssee quer durch die Südstaaten der heutigen USA verstirbt Desoto – vergiftet, wie gemunkelt wurde. Die versprengten Reste seiner Truppe erreichen ein Jahr später die Ostküste Mexikos.

Franzobels fabulierender Erzähler begleitet diesen Tross der Beutejäger. Einigen von ihnen nimmt er sich etwas genauer an: Desoto und dessen „Buberlpartie“ Nuño, Añasco und wie sie heißen, dazu einem holländischen Arzt, einem Schiffbrüchigen oder den zwielichtigen Ganoven Bastardo und Cinquecento. Auch zwei Frauen spielen eine Rolle, die eine als Muse, die andere als Gemahlin. Letztere erwartet im sicheren Hafen von Havanna wie einst Penelope den Abenteurer zurück. Und – nicht zu vergessen – mischt ein gegenwärtiges Ereignis die historische Perspektive zwischendurch immer wieder auf. Der New Yorker Advokat Trutz Finkelstein verklagt die USA im Namen der Indigenen auf die Rückgabe des gesamten Landes.

Die Eroberung Amerikas ist ein „Roman nach wahren Begebenheiten“ und, wie der Autor im Nachwort bekräftigt, exakt recherchiert. Allerdings behandelt er den historischen Stoff mit einer Unverfrorenheit, die sich – wie der Historiker de Coulanges empfahl – alles Fachwissen aus dem Kopf schlägt. Franzobel kümmert sich einen Deut um eine historisierende Perspektive, vielmehr codiert er seinen Stoff ganz gegenwärtig. Seine Kunst besteht darin, dass er ihn mit Figuren, Geschichten, Anekdoten und Witzen auspolstert und zu literarischem Leben erweckt. Der Autor beherrscht dieses Handwerk. Dennoch geht seine Erzählstrategie zwischen Ernst und Komik ein hohes Risiko ein. Sie setzt sich leicht dem Vorwurf der Frivolität und dem Verdacht aus, über rassistische Vorurteile und historische Gewalt mit einem Lachen hinwegzuschreiten. Tatsächlich ist dem überschwänglichen Buch ein spürbares Faible für Klamauk und Sprachspielereien eingeschrieben. Es liest sich wie ein Feuerwerk an Einfällen und popkulturellen Verweisen, die dem Autor beinahe unerschöpflich zufallen. Die erwähnten Bastardo und Cinquecento sehen aus wie Redford und Newman in einem Ganovenfilm. Der Koch Castro kommt einer Kaudroge aus dem Chicle-Baum auf die Schliche, bevor er später in Havanna ein fideles Lokal eröffnet. Und Trutz Finkelstein klingt wie die Synchronstimme Woody Allens. Vor allem treibt es der Autor – „leck-o-mio“ – wie gewohnt auch sprachlich bunt, wenn beispielsweise ein konvertierter Ureinwohner mit Sprachfehler das Vaterunser betet: „Beate Uhse i Immel, eiligst Erde Einnahme…“ Franzobel kostet seine Pointen aus, ab und an verspielt er sich dabei auch ein wenig.

Das ist der eine Eindruck, den der Roman hinterlässt. Dem steht eine zweite Lesart gegenüber, die Franzobels Faszination für das Scheitern Desotos gewiss näher liegt. Gerade in dieser verfremdenden Form macht uns Die Eroberung Amerikas hellhörig für das, was Siegergeschichte genau meint. Franzobel dreht nicht einfach den Spieß um und mutet sich eine postkoloniale Perspektive zu. Sein Dreh ist ein anderer. Er gibt den Hochmut der Sieger der Lächerlichkeit preis, indem er sich in das „wahre“ Wesen der Eroberer und Abenteurer einfühlt und sie zeigt, wie sie tatsächlich gewesen sein könnten: dumpfe Rassisten und windige Abenteurer, „Soziopathen“, wie es einmal heißt, die blind waren sowohl für die fremde Lebensart wie für die eigene Armseligkeit.

In eitler Selbstüberschätzung verhöhnen sie die indigene Kultur, die weder mit Gold noch Tempeln zu prunken vermag und deshalb auch keinen Beutegewinn verspricht. Die Abgesandten aus Europa tragen ihre Herrenmentalität mit einem hässlichen Pathos zur Schau. „Wir sind dazu bestimmt, die Welt zu erlösen, durch unsere Lebensart“, lautet ihre Losung, die Franzobel umgehend zuspitzt zu einem erhofften Sieg des Christentums über die Naturreligionen, des Egoismus über das Kollektiv, der „Erschließung neuer Märkte, Wertschöpfung, Effizienz“ über die bloße Wildnis. Aus dieser Optik verweigern die Konquistadoren den Ureinwohnern sogar das Recht auf Flucht und Selbstmord, weil den künftigen Herren dadurch ein Wertverlust entsteht. Sie sind als „seelenlose Kreaturen“ für Ausbeutung und Sklavendienst bestimmt, sie zu quälen ist nur eine Frage der Gewöhnung. Mit solchen Argumenten verbirgt Franzobel seinen Respekt hinter Sarkasmus. In der Übertreibung entlarvt sich die kolonialistische Optik selbst. Genau damit treibt er seine grellen Späße, indem sich sein Erzähler mit den spanischen Eroberern gemein macht und sie nicht daran hindert, zu witzeln und zu höhnen. Das ist oft hochkomisch, und immer wieder bleibt einem als Leser dabei das Lachen im Halse stecken. Der Roman lässt dabei keinen Zweifel daran, aus wessen Geist und Haltung er erzählt ist. Dennoch bleibt dies, wie erwähnt, nicht ohne Risiko – Franzobel geht es ein und hält der Siegergeschichte den Zerrspiegel vor. 

Im Brustton der eigenen Herrlichkeit prahlt Desoto: „Wer sich dem natürlichen Lauf der Dinge entgegenstellt, wird niedergemacht. So will es die Geschichte“ – bevor ihn selbst der Lauf der Dinge ereilt. „Es ist niemals ein Zeugnis der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, hielt Walter Benjamin fest. Dafür hat Franzobel eine sehr eigenwillige Interpretation gefunden. Die Inszenierung der kolonialistischen Gewalt als tragikomische Farce darf nicht über die Ernsthaftigkeit seines Vorhabens hinwegtäuschen.

Titelbild

Franzobel: Die Eroberung Amerikas. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021.
544 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552072275

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