Ein grandioses Problem

Der Schriftsteller und Philosoph Wassilij Rosanow(1856-1919) beweist in „Die Welt am Ende“, dass er zu den schillerndsten Persönlichkeiten in der Literatur der russischen Moderne zählt

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wassilij Rosanow war ein ungewöhnlich produktiver Autor, der als Essayist, Dichter, Aphoristiker, Philosoph und religiöser Schriftsteller gleichermaßen hervortrat. Sein bewegtes Leben wie auch seine Schriften bilden auf plastische Weise politische Hintergründe und geistige Strömungen der zunehmend widersprüchlichen Spätphase des zaristischen Russlands am Vorabend der Oktoberrevolution ab. 

Die vorliegende Ausgabe bietet eine Auswahl aus verschiedenen Schriften Rosanows wie etwa Embryonen, Abgefallene Blätter, Verschwebendes oder auch Die Apokalypse unserer Zeit, die im Zeitrahmen von zwanzig Jahren geschrieben wurden. In deutschen Übersetzungen liegt bislang wenig vor, die Schriften sind verstreut publiziert und kaum mehr greifbar. Etliche der vorgestellten Texte sind erstmals in das Deutsche übertragen worden. Der Herausgeber und Übersetzer Felix Philipp Ingold hatte bereits 1971 seine Verdienste um das Werk Wassilij Rosanows mit der Herausgabe des Heftchens Gedanken aus dem Hinterhalt. Ein Katechismus für Ketzer unter Beweis gestellt.

Wassilij Rosanows Zerrissenheit zeigt sich wohl am deutlichsten in seinen religiösen Stellungnahmen. Nicht zuletzt aufgrund seines biographischen Hintergrunds, – Rosanows zweite Ehe war kirchenrechtlich ungültig, da seine erste Frau in die Scheidung nicht einwilligte – prangerte Rosanow die Leibfeindlichkeit der offiziellen russisch-orthodoxen Kirche wiederholt scharf an. Zugleich hinderte ihn sein Plädoyer für erotische Leidenschaft in keiner Weise daran, sich in einem lebenslangen quälenden und widersprüchlichen Prozeß der von ihm oft verunglimpften Orthodoxie anzunähern.

In kürzeren wie auch längeren Texten bündeln sich Knotenpunkte in seinem Werk, denen er sich im Laufe der Jahre immer wieder nähert. Spielerisch aber auch ernsthaft, widerborstig und stachelig umkreist Rosanow seinen Bezug zur Melancholie und Apokalyptik, das Leib-Seele Problem und eine provozierende Erotomanie, sowie seine leidenschaftlich betriebene Numismatik. Neben seiner ambivalenten Haltung gegenüber den Juden widmen sich seine Überlegungen wiederholt der altägyptischen Kultur.

Temperamentvoll fällt er sich selbst ins Wort, seufzt und kombiniert bei Bedarf philosophische Erkenntnisse mit einer nüchternen Notiz bezüglich des Standorts unvermittelter Einfälle. Nicht ohne Ironie kommentieren in Klammern gesetzte Anmerkungen seine referierten Gedanken: „zwischen Luga und Petersburg, im Waggon“, „bei meiner Münzsammlung“ oder „in tiefer Nacht“.

Die starke Ich-Bezogenheit in seinen Texten geht über eine individualistische Nabelschau weit hinaus, wenn man sie im Gesamtkontext sichtet. „Geburt“, „Schmerz“ und „Tod“ sind in einer Weltwahrnehmung eingebettet, wie es ein guter Roman ebenfalls zu leisten vermag, übersteigen aber bei Rosanow jegliche einschränkende Beengtheit: „Zu überwinden ist das `Ich´ im `Ich´- grandioses Problem. Niemand kommt damit klar, ausser den Heiligen“.

Auseinandersetzungen war Rosanow nie aus dem Weg gegangen. Dementsprechend hatte er neben Erfolgen entsprechend harte Niederlagen einstecken müssen. Er kreuzte seine polemische Klinge mit einer saturierten Kaste an Klerikern ebenso wie mit lautstarken Nationalisten oder geschichtsvergessenen Revolutionären. An Selbstbewusstsein hatte es ihm nicht gemangelt und eine geradezu diabolische Lust an polemischer Überspitzung hielt ihn nicht davor zurück, verkündete Einsichten an anderer Stelle zu verwerfen oder gar deren Gegenteil zu proklamieren.

Seine Gegner machten ihm zuweilen vorgenommene Wechsel eingenommener Positionen zum Vorwurf. Dabei hat es auch den Anschein, als feuere Rosanow angesichts mangelnder substantieller Dialogpartner eine als notwendig erachtete Auseinandersetzung auf eigene Rechnung an. Sein Denken war frei und daher nicht ohne Zumutungen.

1919 starb Wassili Rosanow völlig verarmt in dem 70 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Klosterort Sergijew Possad, wohin er sich angesichts der eingetretenen Schrecken des Oktoberputsches zurückgezogen hatte. Er wurde in einem Doppelgrab neben seinem einstigen Mitstreiter, dem Philosophen und Mönch Konstantin Leontjew (1831-1891), auf dem Tschernigow-Friedhof beerdigt. Während in der Sowjetunion seine Bücher über ein halbes Jahrhundert hinweg verboten waren, war eine umfassende Rezeption seines Werkes im Westen der Ost-West-Teilung zum Opfer gefallen. Erst in der Perestrojka-Phase ab 1989 waren sie wieder zugänglich und begannen in Russland eine bis heute anhaltende Wirksamkeit aufzunehmen.

Wassilij Rosanows gelungensten Texte gehören zu den besten Werken literarischer Sprachkunst in der russischen Literatur. Sein ungestümes Temperament sträubt sich gegen jegliche Vereinnahmung und schafft in Zeiten eines staatlich vorgegebenen Patriotismus Räume für unvorhersehbares Denken.

Unbeeindruckt vom Wandel der Zeiten hat Rosanows dynamische Sprachkraft nichts von ihrer Faszination eingebüßt.

Titelbild

Wassilij Rosanow: Die Welt am Ende. Ausgewählte Schriften.
Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold.
Karolinger Verlag, Leipzig 2021.
598 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783854181996

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