Und plötzlich greift das Schicksal ein

Der vierte Band von Cornelia Funkes „Reckless“ deckt auf, wer in Wahrheit die Fäden zieht

Von Laura HarffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Harff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Besuch einer vertrauten literarischen Welt, viele Jahre, nachdem man sie das erste Mal betreten hat, bringt meist Erinnerungen mit sich. Erinnerungen an ein Universum, dessen Regeln und Gepflogenheiten einem einst so vertraut waren wie die eigene Realität. An Figuren, die einem wie Freunde ans Herz gewachsen sind. Und an Gegebenheiten und Situationen im eigenen Leben, die seither untrennbar mit der Lektüre des Buches verbunden sind.

Nicht jede*r Autor*in gelingt es, Welten zu schaffen, die einen von der Kindheit an ins Erwachsenenalter begleiten und die noch Jahre später ihren Reiz nicht verlieren. Mit Romanen wie der Tintenwelt-Trilogie – bald -Tetralogie –, Drachenreiter und der Reckless-Reihe hat die deutschsprachige Autorin Cornelia Funke genau das geschafft und sich damit eine Leserschaft über Generationen hinweg gesichert. Denn während jugendliche Leser*innen, die den ersten Band Reckless – Steinernes Fleisch gelesen haben, als er 2010 erschien, heute (wie ich) in ihren Mitzwanzigern sind, können Tintenwelt-Fans (erster Band 2003), die Band 4, der im Oktober 2022 erscheinen soll, schon jetzt sehnsüchtig erwarten, sogar deutlich älter sein.

Aber ist eine Geschichte, wie erfolgreich sie auch sein mag, nicht irgendwann auserzählt? Nein, findet Cornelia Funke, und hat nun den vierten Teil ihrer Reckless-Reihe, Auf silberner Fährte, veröffentlicht. Dieses Mal folgen wir Jacob und Fuchs auf ihrer Suche nach Jacobs Bruder Will bis in den fernen Osten, nach Japan, das in der Spiegelwelt unter dem Namen Nihon bekannt ist.

Damit entfernt Funke sich noch weiter von der Welt europäischer Märchen, Mythen, Legenden und Sagen, die schon in Teil 3 nur noch eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Statt Dornröschen oder der Baba Yaga begegnen die Leser*innen den Kitsune, neunschwänzigen Füchsen, die in der Lage sind, menschliche Gestalt anzunehmen. Ideale Voraussetzungen für Fuchs – das Mädchen, das einst eine Fuchsfamilie vor ihren Brüdern beschützt hat und als Dank ein magisches Fellkleid erhalten hat, das ihr eben diese Gestaltwandlung erlaubt.

In dieser Umsetzung von Motiven aus Märchen, Mythen, Sagen und Legenden aus aller Welt besteht auch der Reiz dieses Romans sowie vermutlich auch aller zukünftigen Reckless-Bücher. Denn der Fundus an Überlieferungen und Geschichten, aus dem die Autorin, die hierzulande als deutschsprachiges Pendant zu Joanne K. Rowling gefeiert wird, schöpft, scheint eine sehr ergiebige Quelle zu sein. So könnte Band 5 die Leser*innen ohne Probleme nach Indien oder auf den afrikanischen Kontinent entführen und somit Stoff für gleich mehrere neue Romane schaffen.

In Sachen Handlung orientiert sich Auf silberner Fährte an seinen Vorgängern. Jacob und Fuchs, die seit dem letzten Teil endlich zusammengefunden haben und damit das elendige Hin und Her unglücklicher Liebe beenden, befinden sich erneut in Lebensgefahr und müssen gegen die Zeit anspielen – dieses Mal sogar für einen Großteil des Romans getrennt voneinander. Hinzu kommt außerdem eine neue Hauptfigur, der japanische Ringer Hideo, der auch in zukünftigen Bänden wohl noch eine Rolle spielen wird. Und alte Gegner, wie der mächtige Erlelf Spieler.

Das ist alles auch schön und gut, doch schleicht sich der Aspekt der Schicksalshaftigkeit durch eine Prophezeiung, die der Erlelf einst erhalten hat, verstärkt in den Roman. Wieso Autor*innen phantastischer Jugendbücher immer wieder so gerne auf dieses Motiv zurückgreifen, um das Verhalten ihrer Figuren zu erklären, ist mir bis heute schleierhaft. Fakt ist, das die Leser*innen in diesem vierten Teil nicht nur erfahren, wieso Jacob die Spiegelwelt überhaupt entdeckt hat, sondern auch, wieso der Erlelf Fuchs’ und Jacobs erstgeborenes Kind verlangt. Als wäre das nicht schon genug, was einzig und allein mittels einer Prophezeiung aufgelöst wird, wird das Rätsel darum, wer Wills leiblicher Vater ist, auch noch mit in diese schicksalhafte Verstrickung gebracht.

Da wünscht man sich das Schatzjäger-Element des zweiten Bandes zurück, in dem Jacob eine Armbrust finden muss, die ihm das Leben retten soll. Diese Ansicht scheint übrigens auch Fuchs zu teilen, die sich bereits im ersten Kapitel die alten Zeiten zurückwünscht: „Sie wollte mit Jacob für alle Zeit so weiterreisen, auf der Suche nach Zauberdingen, die sie sich in langen Nächten, nebeneinander liegend, ausmalten.“ Zu kompliziert, zu aussichtslos, zu vorkonstruiert erscheint die Handlung dieses neuen Bandes einfach von Zeit zu Zeit.

Vielleicht liegt es aber auch an Clara und Will, zwei der wohl langweiligsten Figuren, die Funke je zu Papier gebracht hat, denen mittels variabler interner Fokalisierung viel mehr Aufmerksamkeit zukommt, als sie verdienen. Einen Pluspunkt erhält der Roman hingegen für die neue Figur Hideo, dessen bebilderte Haut für eine der aufregendsten Überraschungen sorgt und der sich im Laufe der Handlung zu einem wundervollen Freund entwickelt. Mehr davon in Band 5, bitte!

Eine Empfehlung möchte ich dennoch aussprechen: für jene, die mit Cornelia Funkes Kinder- und Jugendbuchromanen aufgewachsen sind, in der Grundschule getreu dem Vorbild der Wilden Hühner eine eigene Bande gegründet haben, auf den Spuren von Herr der Diebe durch Venedig gewandert sind und denen Staubfingers Tod in Tintenblut schlaflose Nächte bereitet hat. Alle anderen sollten mit einem anderen Roman der Autorin beginnen. In Auf silberner Fährte schöpft Cornelia Funke ihr Potential nämlich nicht annähernd aus.

Titelbild

Cornelia Funke: Reckless 4. Auf silberner Fährte.
Dressler Verlag, Hamburg 2020.
464 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783791501550

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