Es war einmal ein kleines Land, das hieß Schlaraffien…

Joanne K. Rowlings Märchen „Der Ickabog“ ist der Beweis, dass man alten Manuskripten, die auf dem Dachboden verstauben, noch eine zweite Chance geben sollte

Von Laura HarffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Harff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bald 14 Jahre sind vergangen, seit Joanne K. Rowling ihre Heptalogie um den wohl berühmtesten Zauberer der Welt abgeschlossen hat. 14 lange Jahre – und dennoch hat der Junge mit den verstrubbelten schwarzen Haaren, den grünen Augen und der blitzförmigen Narbe auf der Stirn nicht an Bekanntheit verloren: Die Vorhersage, die Rowling Minerva McGonagall schon 1997 in Harry Potter und der Stein der Weisen hatte treffen lassen – „Er wird berühmt werden – jedes Kind auf der ganzen Welt wird seinen Namen kennen“ – ist heute noch genauso wahr wie damals.

Doch mit weltweitem Ruhm kommen hohe Erwartungen und insbesondere eingefleischte Fans scheinen sich oftmals schwer damit zu tun, wenn die Lieblingsautorin plötzlich etwas vollkommen anderes macht. Anders lassen sich die vielen negativen Kommentare zu Rowlings neuester Veröffentlichung Der Ickabog (engl. Original: The Ickabog), die derzeit im Internet kursieren, nicht erklären.

An dieser Stelle sei vorausgeschickt, dass sich diese Rezension allein mit dem Ickabog und den Umständen um dessen Veröffentlichung auseinandersetzt. Jegliche Vorwürfe gegen die Autorin, die in Zusammenhang mit ihrer angeblichen Transgenderfeindlichkeit stehen, werden vollkommen außer Acht gelassen. Da sich im Ickabog keine Aspekte der Thematik wiederfinden, halte ich es für falsch, ein Kinderbuch als Instrument zu verwenden, diese politische Debatte weiter anzuheizen.

Nachdem sich der Roman Ein plötzlicher Todesfall und die Cormoran Strike-Krimiserie (veröffentlicht unter dem Pseudonym Robert Galbraith) vorwiegend an Erwachsene richteten, hat Rowling mit dem Ickabog erstmals wieder ein Kinderbuch geschrieben. Ein modernes Märchen, dessen Existenz wir ausgerechnet der Corona-Pandemie verdanken.

Denn wie Rowling im Ickabog-Vorwort erzählt, hatte sie sich die Erzählung ursprünglich nur für ihre eigenen Kinder ausgedacht. Zwar habe sie parallel zu den Harry Potter-Bänden immer wieder sporadisch daran geschrieben, sich letztlich aber gegen die Veröffentlichung eines weiteren Kinderbuchs entschieden. Damals sei der unfertige Roman irgendwann auf den Dachboden gewandert. „Mehr als ein Jahrzehnt lag er dort, und daran hätte sich wohl bis heute nichts geändert ohne die Corona-Pandemie, als Millionen von Kindern zu Hause festsaßen und weder die Schule noch ihre Freunde besuchen konnten“, berichtet die Autorin.

Um Kindern auf der ganzen Welt die langen Wochen und Monate im Lockdown zu verkürzen, beschloss Rowling im Sommer 2020, die Geschichte zu überarbeiten und kapitelweise kostenlos online zu stellen.

Ich holte also die ziemlich staubige Schachtel voller abgetippter und handgeschriebener Zettel vom Dachboden und machte mich an die Arbeit. Meine Kinder – schon damals mein erstes Publikum – sind inzwischen Teenager und abermals lauschten sie, als ich fertig war, allabendlich auf das nächste Kapitel. Hin und wieder fragten sie, warum ich etwas gestrichen hatte, was sie eigentlich gemocht hatten. Voller Verwunderung darüber, wie viel ihnen in Erinnerung geblieben war, fügte ich natürlich alles wieder ein, was sie vermissten.

Die Handlung führt die Leser*innen in ein kleines Königreich mit dem sprechenden Namen Schlaraffien (engl. Cornucopia), das schon seit Generationen von „einer langen Reihe von Königen mit blonden Haaren regiert“ wird. Ebenso wie im märchenhaften Schlaraffenland gibt es dort so ziemlich alles im Überfluss: Gebäckteilchen, die einem erwachsenen Mann vor Glück die Tränen in die Augen treiben oder Käse in riesigen Rädern und „pralle Schinken in Honigglasur“. Tatsächlich scheint es den Schlaraffiern an nichts zu fehlen, wäre da nicht das karge Marschland am Rande des Königreichs und die unheimliche Kreatur, die dort ihr Unwesen treiben soll. Unter der Herrschaft des naiven und eitlen Königs Fred dem Furchtlosen, der einen Großteil des Romans überhaupt nicht weiß, was Sache ist, und seinen Kumpanen Lord Spuckelwert und Lord Schlabberlot wird das Ungeheuer, das lange für eine Legende gehalten wurde, nämlich plötzlich ganz real und droht das Königreich in den Abgrund zu ziehen. Steuererhöhungen, Intrigen und daraus resultierend Arbeitslosigkeit und Hunger bestimmen fortan das Leben der Menschen. Dabei ist die Herrschaft der drei nur ein auf Lügen aufgebautes Konstrukt, das früher oder später zusammenbrechen muss. Wenn, ja wenn man nicht alle Mitwissenden nach und nach aus dem Weg räumt.

Der Ickabog ist modernes Märchen und Heldenreise zugleich, eine Kindergeschichte über den Triumph des Guten über das Böse. Und eine politische Intrige, kindgerecht erzählt, die sich mit folgenden Fragen auseinandersetzt, die Rowling im Vorwort nennt: „Was verraten uns die Ungeheuer, die wir heraufbeschwören, über uns selbst? Wie kann es geschehen, dass das Böse von einer Person oder einem Land Besitz ergreift, und wie lässt es sich bezwingen? Und warum entscheiden sich Menschen, Lügen trotz spärlicher oder gänzlich fehlender Beweise Glauben zu schenken?“

Dieser düsteren Gesellschaft, die von Misstrauen, Hoffnungslosigkeit und Furcht geprägt ist, begegnen Rowlings kindliche Hauptfiguren, Lilli Lerchensporn und Wim Wonnegleich, mit Freundschaft, Hoffnung und Mut. Werte, die sie immer wieder auch an andere Figuren herantragen und mit deren Hilfe das einst so schöne Schlaraffien letztendlich gerettet werden kann. Wie? Das soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Nur so viel: Wer Harry Potter im neuen Gewand erwartet, wird vom Ickabog enttäuscht sein. Außer dem Namen der Hauptfigur Lilli verbindet die beiden Bücher nichts. Doch diejenigen, die bereit sind, sich auf etwas Neues einzulassen, werden ohne Frage belohnt.

Zwar ist die Handlung für Kinder in Teilen etwas blutrünstig, insbesondere da Mord und Totschlag nicht nur die Bösen trifft. Aber eben auch nicht schlimmer, als wir es von anderen bekannten und geliebten Kindermärchen kennen, namentlich jener der Gebrüder Grimm, in denen verstümmelte Füße und zerstochene Augen quasi an der Tagesordnung sind.

Aufmerksamkeit erlangte Rowlings Online-Projekt auch über die Grenzen Großbritanniens hinaus – nicht zuletzt wegen des dazugehörigen internationalen Malwettbewerbs, der es Kindern im Alter von sieben bis zwölf ermöglichte, das Märchen zu illustrieren. Auf diese Weise sind 26 verschiedene Ausgaben in 25 Sprachen mit den jeweiligen Gewinner-Illustrationen erschienen. Allein aus dem deutschsprachigen Raum habe es insgesamt 1.178 Einsendungen gegeben, von denen es 34 in das fertige Werk geschafft haben, heißt es bei Rowlings deutschem Verleger. Die Illustrationen wecken Rowlings ohnehin bildliche Sprache nun vollends zum Leben, sodass man sich gar nicht mehr wundert, wenn die eigene Vorstellung, die man schon kapitelweise im Kopf getragen hat, einen plötzlich vom Papier aus anblickt.

Die Einnahmen aus dem gebundenen Buch kommen der Stiftung „The Volant Trust“ zugute. Sie setzt sich für Menschen ein, die besonders von der Corona-Pandemie betroffen sind.

Titelbild

Joanne K. Rowling: Der Ickabog.
Carlsen Verlag, Hamburg 2020.
352 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783551559203

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch