Die Farben der See

Poetisch erkundet Reimer Boy Eilers in „Mehr Nordsee“ Küste, Strand und Meer

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

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Das Farbenspiel der Nordsee und des Himmels über Land und Meer lädt ein zu einer versonnenen, auch verklärten Betrachtung. Sehnsüchtige Blicke von Kinderaugen reichen über Strand und Wattenmeer hinaus, geborgen, ja glücklich in der großen Weite des schier endlosen Horizonts. Auf den Schwingen der Poesie reist Reimer Boy Eilers bis an Meeresküsten, gedankenvoll, manchmal schwermütig. Der Dichter wechselt die Tonarten, schreibt mitunter karg, dann wieder fast schwärmerisch und betört. So erscheinen diese lyrischen Meereskunden vielfältig und reichhaltig – und der Dichter Eilers steht im Wind, lässt sich treiben, erinnert sich und schaut hinaus auf die offene See.

Immer wieder kehrt er nach Helgoland zurück, in erinnerungsvollen Versen, wenn die unergründlichen Geheimnisse des Meeres spürbar werden:

Wenn der Felsen im Horizont versinkt
Wie ein Segelschiff aus Vorvätertagen
steh ich an Deck, kalt und ungeschminkt
die Leere der See zu ertragen

Die Nordsee erzählt ihre eigenen Geschichten oder bedeckt auch mit tiefem Schweigen, was der Beobachter, im rauen Wind auf Deck stehend, aushalten muss – vielleicht sind es eher die eigenen Erinnerungen als die „Leere der See“? Anders als mediterrane Gefilde bietet die Nordsee wenig Raum für heimelige Romantik. Schroff bleiben die roten Felsen auf Helgoland, und der Dichter weiß sich an alte Zeiten erinnert, auch darum wissend, wie viele Fischer hinausfuhren und für immer auf See blieben. Tröstlich, auf gewisse Weise, erscheint der spielerische Seewind, der über die Insel hinwegrauscht, beherzt, tosend, selten säuselnd. Es ist eine feste „Umarmung“ durch den Wind. Das Eiland aus roten Felsen liegt da, ganz „geduldig“, so schreibt Eilers:

Auf dem Meer
Weht ein anderer Wind
Geduldig liegt die Insel
In seiner Umarmung
Es gibt viele Arten
Der Schwerkraft
Ein Schnippchen zu schlagen

Deutet sich hier ein ahnungsvolles Schweben an? Schiffer trotzen dem Wind, Reisende fühlen sich bisweilen vielleicht davon umarmt, vernehmen das Rauschen und reisen ans Meer, um aller „Schwerkraft“, dem eigenen Alltag, so manchem, was bleischwer auf ihnen lastet, zumindest momenthaft „ein Schnippchen zu schlagen“.

Immer wieder notiert Eilers auch Gedanken zur „Stille“, bemerkt das „Stille Atmen“, die Stille im Hafen, die vielen Momente, in denen auf unbeschreiblich wunderbare Weise überhaupt nichts passiert, kein Wind sich regt. Sogar die „Möwen im Hafen“ schweigen, die Boote liegen ruhig da, vertäut, vor Anker gegangen. Nichts geschieht, auch wenn die „Stürme“ unvergessen bleiben, so kehrt die Stille wieder – und bleibt:

Auf der Insel gab es im Winter
Mehr Worte als Dinge 

Eilers denkt nach über Quallen, eigentlich zauberhafte Fabelwesen, schwebend unwirklich durchs Meer gleitend. Er schreibt prosaisch wie poetisch: 

98 Prozent des Quallenkörpers
bestehen aus Wasser
was beinahe eine Theorie ist
Also Wasser im Wasser
Ein Un-Ort im Ort

Die Quallen seien „Lichtspiele im Weltenmeer“, deren Nesselfäden schwimmende Menschen verbrennen. Vielleicht warnen diese Wesen vor dem Meer und seinen Rätseln?

Ein Donnerruf
den der Schöpfer
stillschweigend schuf
wenn von den Quallen
die Meere widerhallen

Schweigend bewegen sich die Quallen durchs Meer, Lebewesen von ganz eigener Art, die von Helgolands Fischern „Seeflaggen“ genannt werden, in der Nordsee heimisch – und der Dichter schaut nach droben, „wo die Wolken sich türmen“. Aber auf dem Meer bleibt ungewiss, wie hoch der Wellengang sein wird. Er denkt an die Halligen, die versinken, „wenn die Wasser sich wälzen“ – „und das Gras ertrinkt“. Doch die Gezeiten zeigen wechselnde Bilder derselben Wirklichkeit, von Ebbe und Flut, und „In den blauen Stunden / zieht das Meer sich zurück“. Doch es kehrt wieder, die Bewohner wissen das, und die Reisenden müssen auf der Hut sein. Das Meer fordert still Respekt.

Auch zarte Liebesgeschichten werden notiert, aber nicht ausgeführt, nur angedeutet – denn „Die Liebe winkt / dem Schiffsverkehr“. Die Schiffe werden verabschiedet, mit ihnen Fischer, Gäste, Reisende, Liebende und Geliebte: „Schiffshörner tuten / wir müssen uns sputen“:

Die Stille beginnt
die Stille rinnt
Das nächste Wort
hat jetzt der Wind

Ein Herz enteilt
in wässrigen Stand
Das andre verweilt
unlöslich an Land

Zur Stille kehrt Reimer Boy Eilers zurück, immer wieder. Die Stille beschreibt die Atmosphäre der See so treffend, wenn auch alle Worte, Liebesbekundungen und Abschiedsgrüße verweht sind. Für Melodien sorgt einzig der Seewind, der das „nächste Wort“ hat, das niemand enträtseln kann. So würdigt der Dichter das Erhabene, vor allem aber die ehrfürchtig geliebte Nordsee, der er zugetan ist, tief verbunden, und über deren unlösbares Geheimnis er dankbar sinniert:

Mein Vers sei wie Ebbe und Flut
im Gleichmaß der Stunden.
Und ebenso sei mein Mut,
alles Auf, alles Ab
in die Zukunft zu runden.

Ich höre auf deine Wellen,
Verse, die am Strand zerschellen,
als hätten sie Geheimes anzustellen.
Dann zieht sich das Meer zurück,
und das Watt liegt da
wie ein offenes Buch,
mit Runen und Rippeln beschrifteter Schlick.

Die Nordseelandschaft hat ihre eigene Sprache, und Eilers findet Worte dafür, die tastend bleiben, in der Gewissheit, dass niemand das Meer durch Verse einzuhegen vermag. Reimer Boy Eilers lehrt nicht die See träumerisch zu lieben – das ist nicht seine Absicht –, doch er zeigt, dass wir das Meer bewundern dürfen, vielleicht staunend bewundern müssen. Wer diesen Gedichtband liest, schlendert bisweilen windumtost, aber poetisch am Nordseestrand entlang, auch im Wissen darum, dass das Meer nicht alle Geheimnisse preisgeben wird und muss, aber dass es gut ist, einfach dort zu sein und absichtslos auf die offene See hinauszuschauen.

Titelbild

Reimer Boy Eilers: Mehr Nordsee. Gedichte.
Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2021.
150 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783967631708

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