Mittelalterliche Weltgeschichte visualisiert

Andrea Worm widmet sich in „Geschichte und Weltordnung“ den Darstellungen von Zeit und Raum in mittelalterlichen Weltchroniken

Von Jürgen WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für das Mittelalter sind Heils- und Weltgeschichte zentrale göttlich bestimmte Koordinaten aller Existenz. So überrascht es nicht, dass sich ausgehend von der Bibel, die als das göttliche Geschichtswerk überhaupt begriffen wird, unzählige Autoren daran gemacht haben, die Welt von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende in chronologischer Folge zu fassen. Weltchroniken aller Art gehören denn auch zu den erfolgreichsten und wirkmächtigsten Werken des Mittelalters überhaupt, zumal sie in der mittelalterlichen Wahrnehmung letztendlich bibelersetzenden – oder besser: bibelergänzenden – Charakter haben. Genau dieses Faktum bestimmt die Gestalt vieler dieser Bücher und Rollen: Ihnen wird höchste Wertschätzung entgegengebracht, sie sind fast Bibel und deshalb überaus prachtvoll, groß, goldglänzend und oft reich bebildert.

In Geschichte und Weltordnung legt Andrea Worm ihren Fokus auf die diagrammatische Visualisierung der Weltchroniken, das heißt auf die Ordnungsfunktion. Die bildliche Ausgestaltung wird schon von den Autoren, aber mehr noch von den Schreibern, die oft freilich mehr Redaktoren oder gar Wissenschaftler statt bloßer Kopisten sind, als Ordnungselement genutzt, um Struktur und Fortgang der Weltgeschichte quasi im schouwen (mittelhochdeutsch für sehen, betrachten, sichtbar machen) begreifbar zu machen. Das Göttliche wird so visualisiert. Im 12. Jahrhundert wird diese Idee auf höchstem buchtechnischen, aber auch wissenschaftlichem Niveau in Handschriften von Werken wie dem Liber floridus des Lambert von Saint-Omer, dem Chronicon des Hugo von St. Victor oder dem Compendium historiae des Petrus von Poitiers realisiert. Die Welt ist Struktur und Zahl oder, wie es Worm formuliert, „Kosmos und Geschichtszeit als Diagramm“.

Worm gelingt es, in der Verbindung von Abbildungen und Text genau diese Weltstruktur des Mittelalters transparent zu machen, und zwar durchaus im Sinn der mittelalterlichen Idee des schouwens wie des Verstehens. Das Verstehen ist dabei ein Zweifaches: das Visualisieren der Denkwelt des Mittelalters und zugleich das neuzeitliche Reflektieren darüber.

Lässt man diese streng wissenschaftlichen Implikationen, die freilich perfekt bedient werden, einmal beiseite und liest das Buch selbst als ein Spiegelbild mittelalterlichen Geschichtsdenkens, kann man höchstselbst in die Heilsgeschichte eintauchen. Was den neuzeitlichen Leser dabei besonders faszinieren dürfte, ist, dass man unweigerlich Teil der mittelalterlichen Geschichtsidee wird, denn Worm hat das Buch in seinem Teil II Ordnungsmodelle der Heilsgeschichte im 12. Jahrhundert genau in der Abfolge des mittelalterlichen Zeitsystems komponiert. Schritt für Schritt folgt man hier den Weltaltern und ihren herausragenden Ereignissen.

Ein dritter Teil führt in die Details dieser Weltvisualisierungen. Gezeigt werden Völker und Reiche, Zeitrechnungsmodelle, aber auch Überlieferungsformen, denn anders als für die ‚normale‘ Literatur gibt es für solche Geschichtswerke im Mittelalter zwei grundlegende Überlieferungsformen: zum einen das uns geläufige Buch zum Blättern und zum anderen die Rolle, wobei sich gerade in der graphischen Umsetzung für die Folge der Weltalter die Rollenform anbietet. Die Rolle erlaubt es, ohne blätternde Unterbrechung der Zeit fortlaufend zu folgen. Chronikrollen von mehreren Metern Länge sind deshalb keine Seltenheit, und Worm zeigt und beschreibt anschaulich zahlreiche herausragende Exemplare dieses Überlieferungstyps.

Wir sind jetzt am Ende des ersten Drittels des vorliegenden Monumentalwerks. Worm macht nämlich nicht im Handschriftenzeitalter Schluss, sondern bietet die Transformation in den Buchdruck. Anhand dreier Erfolgschroniken des ausgehenden 15. Jahrhunderts führt sie im wahrsten Sinn des Wortes die Linien fort. Exemplarisch untersucht werden Werner Rolevincks Fasciculus temporum (1474ff. – GW 38671ff.), das Rudimentum Novitiorum (1475ff. – GW M39062ff.) und Hartmann Schedels Liber Chronicarum (1493ff. – GW M40784ff.) – die bedeutendsten Geschichtswerke an der Schwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit.

Was sich zunächst etwas trocken anhören mag, ist im Band selbst spannend ausgearbeitet und mit überreichen Visualisierungen quasi spielerisch erfahrbar. Überall gibt es Neues zu entdecken, an vielen Stellen sieht man direkt in das Mittelalter hinein, oft findet sich Unerwartetes. Und man schaut und schaut und schaut … Ganz nebenbei ist der opulent bebilderte Band auch eine Art Chronik-Enzyklopädie mit Einblicken in das Who’s who der mittelalterlichen Geschichtsschreibung. Als Fazit bleibt somit festzuhalten, dass Worm ein ‚schönes‘ Buch gelungen ist, das erfreut und belehrt – streng nach dem mittelalterlichen Prinzip prodesse et delectare.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andrea Worm: Geschichte und Weltordnung. Graphische Modelle von Zeit und Raum in Universalchroniken vor 1500.
Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 2021.
560 Seiten, 149,00 EUR.
ISBN-13: 9783871572432

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