Die Westeuropareise eines Nürnberger Arztes in den Jahren 1494/95

Mit dem Itinerarium des Hieronymus Münzer erscheint ein bedeutsames Zeugnis mittelalterlichen Reisens

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Publikation des vorliegenden Itinerariums eröffnen der Herausgeber Klaus Herbers und dessen Mitarbeiter eine neue Teilreihe innerhalb der traditionsreichen Monumenta Germaniae Historica, einer Editionsreihe historischer Dokumente zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Herbers, der unter anderem durch zahlreiche Publikationen zur mittelalterlichen Geschichte der iberischen Halbinsel hervorgetreten ist, legt die Edition eines Tagebuches vor, das viele Inhalte seiner bisherigen Forschung berührt, wie etwa das Verhältnis von Christen und Muslimen im mittelalterlichen Südeuropa. 

Der aus Vorarlberg stammende, angesehene Nürnberger Arzt Hieronymus Münzer unternahm 1494/95 eine Reise, die ihn erneut in Teile des westlichen und südeuropäischen Raumes führten. Ein Jahrzehnt zuvor hatte er Italien und die zum Reich gehörenden Niederlande, vor allem Lüttich, bereist. Die Motive seiner neuerlichen Reise in den Jahren 1494/95 bleiben hierbei unklar, wenngleich es dem Herausgeber gelingt, verschiedene mögliche Beweggründe plausibel darzustellen. So verweist er auf Münzers Erkenntnisdrang, der nicht zuletzt aus der Rezeption humanistischen Denkens entsprang. Möglich ist auch, dass das Herannahen der Pest den Arzt, der ermessen konnte, was dies bedeutete, zur Abreise veranlasste. Münzer verließ die Stadt allerdings unter Zurücklassung seiner Frau und der eigenen Kinder. Als weiteres Motiv vermutet Herbers eventuelle Aufträge für kosmografische Arbeiten befreundeter Forscher. So pflegte Münzer enge Beziehungen zu Nürnberger Geographen, denen er im Zuge der Reise gleichsam Informationen übermittelte. Auch der berühmte, lange Zeit in Portugal ansässige Kaufmann Martin Behaim, der nach seiner Rückkehr nach Nürnberg 1490 die Schaffung des ersten Globus anregte und dessen Herstellung beaufsichtigte, gehörte zu den zahlreichen Personen, mit denen Münzer korrespondierte und dessen portugiesische Heimstatt er im November 1494 besuchte, ohne allerdings Behaim anzutreffen, der sich zu diesem Zeitpunkt in Flandern befand.

Hinzu trat sicher ein hohes Interesse an der französischen, spanischen und portugiesischen Kultur. Münzer wurde von drei Personen begleitet, von denen einer, Caspar Fischer, gleichfalls Tagebuch führte. Die Mitreisenden verfügten, da sie Französisch und Italienisch sprachen und aus Kaufmannsfamilien stammten, über wichtige, der Reise zugutekommende Kenntnisse. Gleichwohl tauchen sie kaum im Bericht auf. Ihr Interesse bestand wohl nicht zuletzt im Ausbau merkantiler Netzwerke und dem Knüpfen neuer Beziehungen, die ihrem Handel zuträglich erschienen. Interessant und für das Verständnis des Münzerschen Itinerariums wichtig sind die Aufzeichnungen seiner oben erwähnten früheren Reise sowie die Parallelüberlieferung Fischers.

Die kleine Reisegesellschaft nahm ihren Weg ausgehend von Nürnberg über Zürich, Genf, Lyon, Avignon bis Perignan. Weitere Stationen im Französischen waren Marseille und Montpellier, wo die Verhältnisse der Universitätsstadt im Zentrum der Betrachtungen standen. Die Pyrenäen wurden überquert, Barcelona und Valencia besichtigt. Den beiden letztgenannten Städten galt besonderes Augenmerk. Am 21. September 1494 trafen sie in Barcelona ein. Die dortigen Zustände in Verwaltung, Wirtschaft und Politik beschreibt Münzer relativ ausführlich und verweist auf die negativen Auswirkungen vergangener Revolten. Barcelona erschien den Reisenden als wieder aufstrebende Stadt. In Montserrat besichtigten sie das Kloster ebenso wie das Zisterziensermonasterium Poblet mit einer aufgrund ihrer vielfältigen medizinischen Produkte und Schriften überaus interessanten Apotheke, die neben den anderen Bauten unter dem 29. September 1494 im Itinerarium beschrieben wird. Bald erreichten sie die Gegend um Tortosa, mieden jedoch die Stadt, da dort die Pest wütete. 

Ihr Weg führte die kleine Reisegesellschaft weiter in das südspanische ehemalige Nasridenreich Granada. Von dem alten Emirat führte der Weg nach Sevilla und von dort nach Evora und Lissabon. Vom 16. November bis 9. Dezember 1494 hielten sich Münzer und seine Reisegefährten in Portugal auf, wo sie Audienz am portugiesischen Hof bei König Johann II. erhielten, der nach Auffassung Münzers und seiner Gefährten sein Reich weise regierte. Weitere Stationen in Portugal waren zunächst Coimbra, dann Porto, wo die kleine Reisegesellschaft Eduard Calvo, den Prediger des Königs, einen brillanten Kopf, traf. Auch in Madrid, das Münzer und seine Gefährten Anfang 1495 erreichten, erhielten die Nürnberger Zutritt zu den Katholischen Königen, eine Möglichkeit, die Münzer nutzte, um Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon seine bisherigen Reiseeindrücke darzustellen. Voll des Lobes für das Wirken der Monarchen vergaß er nicht, ihnen einen neuerlichen Kreuzzug vorzuschlagen.

Stationen der Rückreise waren unter anderen Zaragoza, Navarra und Toulouse, Poitiers und Tours, von dort ging es über Paris nach Brügge und Gent, sodann über Köln, Mainz und Worms zurück ins heimatliche Nürnberg. Den zeitlich umfassendsten Abschnitt der Reise bildete der Weg über die iberische Halbinsel. Die Herausgeber verweisen hierauf in ihrer Einleitung und verdeutlichen dies gelungen mit einfach strukturierten Tabellen und Karten. 

Münzers Haltung fremden Kulturen gegenüber ist ambivalent. So heißt er die Vertreibung zehntausender Juden aus Spanien für richtig und hält auch den von den Katholischen Königen veranlassten Flammentod vieler Marranen für ein göttliches Werk. Andererseits steht er muslimischen Traditionen aufgeschlossen gegenüber. Dies wird in den Einträgen über das Nasridenreich Granada sehr deutlich. Die dort wohnenden Sarazenen würden gezwungen, hohe Abgaben zu entrichten. Ein Sarazene liefere das Dreifache eines Christen an Abgaben. Münzer kommt auch mit den Sarazenen in Kontakt und ist beeindruckt von deren Gewerbefleiß und handwerklichem Geschick. Auch die Friedhöfe der Muslime erregen seine Aufmerksamkeit. Im vormaligen Nasridenemirat besucht er Orte, an denen sich früher gefangene Christen aufhielten. Wie in anderen Gegenden Spaniens oder Portugals erhält er Zugang zur Kultur durch ortsansässige Deutsche, die ihm auch wesentliche Inhalte des Islam erklären. Die Tatsache der im Tagebuch immer wieder präsenten Deutschen, die ihren Wohnsitz auf der iberischen Halbinsel haben, gibt ein eindrucksvolles Beispiel spätmittelalterlicher Mobilität. 

Wenngleich Münzer stets den religiösen Eigenarten der jeweiligen Region Augenmerk widmet, steht er dem Gesehenen auch im Falle christlicher Religiosität unterschiedlich gegenüber. So sagt ihm die Pilgermetropole Santiago de Compostela aufgrund des fortwährenden Lärms nur wenig zu. Auch die Volksfrömmigkeit mit all ihrem überbordenden Gebaren scheint Münzer nicht sonderlich anzusprechen. Ausführlich beschrieben werden hingegen verschiedene Kirchen und Klöster wie Guadalupe.

Das Tagebuch bietet eine Fülle kulturgeschichtlich relevanter Informationen. So tritt dem Leser der Zustand Granadas nach der Rückeroberung vor Augen, er erhält tiefe Einblicke in Wirtschaft, Handel und öffentliches Leben. Besonders ausführlich schildert Münzer kirchliche Stätten, Formen der Religiosität und Volksfrömmigkeit. Bemerkenswert erscheinen dem Leser die vielfältigen deutschen Einflüsse auf der iberischen Halbinsel. Die zahlreichen Deutschen, denen der Nürnberger Arzt begegnet, eröffnen weitere Kontaktmöglichkeiten. Auf ihrer gesamten Reise begegnen sie Landsleuten, oft halten die Reisenden Einkehr bei ortskundigen Deutschen, überwiegend Händlern. Aber auch zahlreiche deutsche Handwerker haben sich in Spanien und Portugal niedergelassen. Münzers Darstellung zeigt zudem die Bedeutung deutscher Ritter und Söldner für Geschichte und Gegenwart der von ihm bereisten Länder. So kommt denn auch der Militärhistoriker bei der Lektüre des Textes auf seine Kosten, etwa wenn die Reisenden in Lissabon erneut deutscher Söldner angesichtig werden; 30 Schützen unter Georg Thiel aus Vorarlberg.

Der Herausgeber und die Bearbeiter haben Münzers Aufzeichnungen beispielgebend erschlossen. Der einleitende Kommentar widmet sich der Reiseroute, den regionalen Lebensverhältnissen, den religiösen Vorstellungen, den Traditionen und den politischen Verhältnissen. Tina B. Orth-Müller wendet sich in einem gesonderten Aufsatz der sprachlichen Ausgestaltung des Textes zu. Interessant sind zahlreiche Detailinformationen, die die Art und Organisation der Reise betreffen; etwa, wenn auf die Bedeutung von Empfehlungsschreiben hingewiesen wird, aber auch auf Briefe und Schreiben, die das Passieren von Grenzen erleichterten, in denen der Herausgeber deshalb auf Basis bisheriger Forschung Vorgänger der späteren Ausweise erblickt.

Das Tagebuch selbst wird durch einen umfassenden Anmerkungsapparat erschlossen. Die Verschlagwortung im Register ermöglicht das rasche Auffinden gesuchter Informationen. Die Bearbeiter – und dies stellt einen weiteren Vorteil der Ausgabe dar – gehen im Kommentar über den damaligen Zustand des jeweiligen Ortes hinaus und schildern oft dessen weiteres Schicksal im Anmerkungsapparat, immer unter Verweis auf weiterführende Literatur. Somit wäre wohl ein tatsächliches Nachreisen der münzerschen Route auch heute gut möglich und sicher reizvoll. Die 700seitige Edition lässt also sehr wenige Wünsche offen. Nur eine Karte, die einen Überblick über die territorialen Verhältnisse bietet, wäre sicher für den Leser ein Gewinn gewesen – die politischen Gegebenheiten auf der iberischen Halbinsel waren im 15. Jahrhundert wesentlich differenzierter, als sie es heute sind. 

Einige Anmerkungen erscheinen wenig sinnvoll: etwa, wenn auf Seite 193 in Anmerkung 41 auf die weitere Erörterung der Drei-Sedes-Theorie auf Seite 201 unter Anmerkung 105 verwiesen wird, der Leser dort jedoch nur den Rückbezug auf die erste Fußnote und eine weiterführende Literaturangabe findet. Derartige Bemerkungen des Rezensenten zeigen im Grunde, dass keine tiefere Kritik an der herausragenden Edition möglich ist. So bleibt zu wünschen, dass dieser erste maßstabsetzende Band editorisches Vorbild für die folgenden Bände der Teilreihe Mittelalterliche Reiseberichte wird.

Titelbild

Klaus Herbers (Hg.): Monumenta Germaniae Historica. Hieronymus Münzer, Itinerarium.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2020.
572 Seiten, 148,00 EUR.
ISBN-13: 9783447109727

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