Große Einsamkeit und noch größere Selbstgerechtigkeit

George Orwell erzählt in seinem Roman „Tage in Burma“ von Überheblichkeit, Diskriminierung und Korruption, von Macht und Ausbeutung britischer Kolonialisten

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als George Orwell 1932 die Arbeit an seinem Roman Tage in Burma begann, war er 29-jährig und neu als Lehrer an der Knabenschule The Hawthorns in Hayes, Middlesex. Die Arbeit sei nicht das Unangenehmste, schrieb er an seine Freundin Eleanor Jacques,

sondern Hayes selber. Es ist einer der gottverlassensten Orte, an die es mich jemals verschlagen hat. Die Einwohner scheinen kleine Angestellte zu sein, die sonntags die blechüberdachten Kirchen bevölkern und im Übrigen die Türen hinter sich verriegeln.

Bis im Dezember 1933 sollte er jeweils tagsüber unterrichten, abends an seinem Roman schreiben. Von 1922 bis 1927 verbrachte er fünf Jahre in Burma in der britischen Indian Imperial Police. Die Erfahrungen ließ er in den Roman einfließen, seinen zweiten und gleichzeitig ersten, der erhalten geblieben ist. 

Die Geschichte spielt im fiktiven Distrikt Kyauktadu in Burmas Norden in den 1920er-Jahren. Hauptfigur ist der 35-jährige Teakholzhändler John Flory, ein alleinstehender Engländer, der nicht damit gerechnet hat, dass er hier einmal bleiben und keinen Drang mehr verspüren würde, in seine Heimat zurückzukehren. Flory war noch keine 20, als er nach Burma kam, in der Zwischenzeit hat er sich an die Annehmlichkeiten gewöhnt: Im Club fließt der Alkohol in Strömen, die burmesische Dienerschaft, allen voran Ko S’la, übernimmt alles, was zu seinem Wohlergehen nötig ist, Ma Hla May steht zur Verfügung, und die kleine Hündin Flo begleitet ihn überallhin. Nur dieses Alleinsein gefällt ihm nicht. Er träumt von einer Frau, die mit ihm am Tisch sitzt, ihn abends erwartet, mit der er seinen Alltag teilen kann. 

Im Club ist Flory der Einzige, der ein gewisses Interesse zeigt für die einheimischen Kulturen und die kolonialistische Politik Englands zu hinterfragen wagt. Dass er mit dem indischen Arzt und Gefängnisdirektor Dr. Veraswami befreundet ist, beurteilen manche Engländer und deren Ehefrauen einzig als Schande. Doch für Flory werden die Gespräche mit dem Freund zunehmend wichtiger. Nur mit ihm kann er über die Schattenseiten und Gräuel der britischen Kolonialpolitik sprechen. Bei solchen Treffen erweist sich Veraswami oft englandfreundlicher als Flory. 

Es war eine Diskussion von in gewissem Sinne politischer Natur, die bei jeder Begegnung der beiden Männer geführt wurde. Dabei standen die Verhältnisse auf dem Kopf, denn der Engländer war ausgesprochen antibritisch und der Inder ein geradezu fanatischer Verfechter des Empire. Dr. Veraswami bewunderte die Engländer aus tiefstem Herzen, und auch tausend Brüskierungen durch sie hatten daran nichts ändern können. Mit aller Entschiedenheit bestand er darauf, dass er als Inder einer minderen und verkommenen Rasse angehöre. […] Florys aufwieglerische Ansichten schockierten ihn, aber es verursachte ihm auch einen angenehmen Schauder, wie ein frommer Mensch ihn empfinden mag, wenn das Vaterunser rückwärts gebetet wird.

Die Schwierigkeiten für Flory vervielfachen sich, als er vorschlägt, seinen Freund in den Club aufzunehmen. Denn da gibt es auch noch den korrupten Magistraten U Po Kyin, ein Meister der Intrigen, der sich zum Ziel gesetzt hat, den Arzt zu stürzen. Der fette Unterbezirksrichter kennt keine Skrupel, jedes Mittel ist ihm recht, zum Ziel zu kommen, in seiner Entschlossenheit wird er sich durch nichts beirren lassen. Nicht Veraswami soll Mitglied des Clubs werden, sondern er, U Po Kyin. In seiner Logik – und sie wird erfolgreich sein – muss er Flory angreifen, um den Doktor zu stürzen, denn, so stellt der Richter einmal fest: „Einem Inder kann man nichts tun, wenn er einen Europäer zum Freund hat. Es verleiht ihm – wie heißt das Wort, das sie so gern benutzen? – Prestige.“ Geschickt verfolgt Orwell diesen Strang durch den ganzen Roman, er treibt das Geschehen voran, gibt der Geschichte Tempo und Dramatik. 

Doch da gibt es noch den zweiten Strang, der für Flory nicht weniger verhängnisvoll sein wird. Eines Morgens hört er draußen verzweifelte Schreie, eilt hinaus und findet eine junge hübsche Frau, die sich von einem Büffel angegriffen glaubt. Flory erweist sich als Retter, führt sie in Sicherheit und erkennt schon bei dieser Begegnung, dass er hier die Frau vor sich hat – eine Engländerin selbstverständlich –, die ihn an seiner Seite begleiten wird. Sie ist zwar dreizehn Jahre jünger als Flory, Waise und eben aus England angereist, aufgenommen von Onkel und Tante, Mr und Mrs Lackersteen, die sich um sie kümmern wollen. Diese Liebesgeschichte, die keine werden wird, verläuft dramatisch. Immer wieder kommt es zu Treffen der beiden, die für Flory erfüllend, für Elizabeth, so heißt die junge Frau, ernüchternd sind. Von seinen politischen Ansichten will sie nichts wissen, ja, sie ist entsetzt zu hören, dass für ihn einheimische Menschen wie sie sein sollen, sein Äußeres überzeugt sie ebenso wenig. Doch gleichzeitig weiß sie, dass sie bald heiraten muss, und die Auswahl ist beschränkt. Als der junge, gut aussehende englische Polizeioffizier Verrall auftaucht, schöpft sie – und ihre Tante – Hoffnung, doch die Enttäuschung folgt auf dem Fuß, Verrall verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. So wendet sie sich, tatkräftig unterstützt von Mrs Lackersteen, doch wieder Flory zu. 

Die Geschichte zwischen Flory und Elizabeth gipfelt in einer Szene während des Gottesdienstes, kurz vor seiner Erklärung an sie, als Ma Hla May die Kirchentür aufreißt und Flory beschuldigt, das versprochene Geld nicht bezahlt zu haben. Flory ist am Ende – genau das wollte U Po Kyin, sein Plan ist aufgegangen. Was hier in eher nüchternen Worten vorgestellt wird, gestaltet George Orwell zu einem farbigen facettenreichen Geschichtenbogen. In seinen Darstellungen der Clubtreffen, der Aufstände, angezettelt von U Po Kyin, der Treffen zwischen Flory und Dr. Veraswami gelingt es ihm vortrefflich, die Stimmung, das Atmosphärische der Zeit und des Ortes, die Beziehungskonstellationen lebendig werden zu lassen. Wir riechen die trinkenden schwitzenden Engländer, wir sehen den fetten Intriganten, der sich nicht ohne fremde Hilfe von seinem Stuhl erheben kann. Wir leiden mit unter der großen Hitze und warten verzweifelt auf den Regen, dass er endlich Erleichterung bringe. Stimmungsvoll sind auch die Naturbeschreibungen, etwa wenn Flory und Elizabeth auf die Jagd gehen – einer der wenigen Momente, in dem er sie zu begeistern vermag – oder wenn sich Flory auf einem Spaziergang Klarheit über seine schwierige, ja ausweglose Situation verschaffen will.

Als George Orwell das Manuskript nach Beendigung im Dezember 1933 seinem Londoner Verleger Victor Gollancz übergab, der Anfang des Jahres sein erstes Buch Down and Out in Paris and London, ein Erlebnisbericht, veröffentlicht hatte, der gleichzeitig bei Harper in New York erschien, wollte dieser Burmese Days nicht verlegen. Manfred Papst schreibt dazu in seinem Nachwort:

[…] nicht, weil er es literarisch schlecht gefunden hätte, sondern weil er den Roman als kaum verhüllte Autobiografie liest und Schwierigkeiten mit den Behörden sowie Verleumdungsklagen seitens Betroffener befürchtet. […] Das Buch erscheint darauf mit einigen Änderungen zuerst bei Harper in New York – am 25. Oktober 1934 und in einer Auflage von 2000 Exemplaren, von denen die Hälfte schon nach vier Monaten verramscht wird.

Positive Resonanz fand Burmese Days erst nach der Publikation der ersten britischen Ausgabe bei Gollancz 1935. Dass der Roman nun erstmals auf Deutsch in der überzeugenden Übersetzung von Manfred Allié erscheint, ist das Verdienst des Dörlemann Verlags. Der Zürcher Verlag hat sich einen Namen gemacht mit Wieder- und Neuentdeckungen insbesondere aus dem englischen Sprachraum, die begeistern. Zu diesen gehört zweifellos der Roman Tage in Burma, der sich auf eindrückliche Weise Fragen zuwendet, mit denen wir uns auch heute zu beschäftigen haben.

Titelbild

George Orwell: Tage in Burma.
Aus dem Englischen von Manfred Allié.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021.
440 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200802

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