Marx, Habermas und Popper irrten, Max Weber ein wenig
Was der Fall Afghanistans und der zwanzigste Jahrestag von „9/11“ bedeuten
Von Dirk Kaesler
Ich war noch nie in Afghanistan. Wie es aktuell aussieht, werde ich wohl in diesem Leben nicht mehr hinkommen. Aber, darum geht es hier nicht.
Hier geht es um die Frage, was uns Soziologen und Soziologinnen der „Fall Afghanistan“ für die Einordnung klassischer soziologischer Theorien sagt. Meiner Meinung nach bedeutet er, dass die Großen Erzählungen – oder „Narrative“, wie man heute zu sagen pflegt – von (wenigstens) drei weißen Männern aus dem Okzident in sich zusammengefallen sind. Und eine vierte Große Erzählung kommt auch nicht unbeschadet davon.
Ich beginne mit diesem Text an jenem Tag, an dem die Zeitungen davon berichten, dass einer der Taliban-Mitbegründer, Mullah Abdul Ghani Baradar, in Kandahar gelandet ist. Die Fotos und Reportagen belegen, dass der langjährige „Sprecher“ der Taliban, Zabihullah Mujahid, in seiner Pressekonferenz in Kabul den westlichen Medienvertretern angekündigt hat, dass auch Frauen in Afghanistan künftig arbeiten und studieren dürfen – „im Rahmen der Scharia“. Und ich schließe ihn ab am 11. September 2021.
Machen wir es kurz und knapp: Der konzertierte Versuch, während der (wenigstens) zwanzig zurückliegenden Jahre, das Land Afghanistan mittels „Nation Building“ in einen „modernen“ Staat westlicher Prägung zu verwandeln, ist krachend gescheitert. Der ungebremste Durchmarsch der selbsternannten Gotteskrieger auf ihren Mopeds und Toyota-Trucks mit den Kalaschnikows in den Händen und dem kompletten Rückzug „des Westens“ aus diesem Land beweist, dass wenigstens drei Gelehrte sich fundamental geirrt haben: Karl Marx, Karl Popper und Jürgen Habermas. Und die Große Erzählung des Max Weber steht auch auf dem Prüfstand.
Die Große Erzählung des Privatgelehrten und Publizisten Karl Marx hatte Millionen von Menschen davon berichtet, dass das Ziel der Geschichte der Menschheit eine klassenlose Gesellschaft sein werde. Die Maschinerie des Kapitalismus und das die Vernunft der Menschen benebelnde Opium der Religionen würden revolutionär besiegt werden. Die menschliche Vernunft werde irgendwann zu einer friedfertigen „Assoziation freier Menschen“ führen. Eine schöne Erzählung!
Die Große Erzählung des Privatgelehrten Max Weber hatte Millionen von Menschen davon berichtet, dass radikalisierte Protestanten des 16. und 17. Jahrhunderts, auf der Suche nach diesseitigen Zeichen ihrer Erlösung von der ewigen Verdammnis, an einem Kosmos von Glaubensinhalten und Verhaltensweisen mitgeschaffen hatten, der ganz allmählich die Gehäuse der Hörigkeit und Unfreiheit des Menschengeschlechts auf dem ganzen Globus errichteten. Vor allem ab jenem Zeitpunkt, zu dem durch die Prozesse der Säkularisierung auch noch die letzten Reste der ursprünglichen Religiosität aus den so entstandenen Institutionen und den sie tragenden Menschen entwichen waren, würde der „moderne“, „rationale“, „bürgerliche“ Betriebskapitalismus seine immer brutalere Fratze zeigen. Die untrennbare Verbindung dieses Systems der kapitalistischen Ordnung des Wirtschaftslebens mit den überall entstehenden Maschinen der bürokratischen Ordnung in allen Lebensbereichen würde gemeinsam zur Bedrohung der individuellen Freiheit aller Menschen, wenn nicht deren ultimative Zerstörung, führen. Eine düstere Erzählung!
Die Große Erzählung des aus Österreich exilierten politischen Philosophen Karl Popper hat Millionen von Menschen davon berichtet, dass alle Menschen in einer „offenen Gesellschaft“ leben wollen, wenigstens sollten. Mit seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) skizzierte Karl Popper dieses Konzept. Unmittelbar unter dem Eindruck der totalitaristischen Staatsformen des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus, formulierte Popper sein Konzept einer demokratischen Gesellschaft, die weder religiös noch ideologisch festgelegt ist und eine egalitäre Gesellschaftsstruktur anstrebt. Popper war fest davon überzeugt, dass alle Menschen am besten in einer solchen Gesellschaft leben sollten. Eine konstruktive Erzählung!
Die Große Erzählung des Universitätsgelehrten Jürgen Habermas hat Millionen von Menschen davon berichtet, dass durch die rationalisierende Kraft der kommunikativen Verständigung der Menschen untereinander in deliberativen Demokratien gesellschaftliche Ordnungen entstehen werden, die sich von der „Kolonialisierung der sozialen Lebenswelt“ durch die zweckrationalen Organisationsformen des sozialen Lebens – allen voran Kapitalismus und Bürokratie – befreien werden. Eine hoffnungsvolle Erzählung!
Alle diese vier Meistererzählungen waren fest davon überzeugt, dass gegen das „westliche“ Gesellschaftsmodell, ob nun in der optimistischen, in der pessimistischen oder der konstruktiven Fassung, „kein Kraut“ gewachsen sei. Eines Tages werde diese „moderne“ Gesellschaft die Gesellschaften der Menschen des ganzen Globus prägen.
„The End of History“ eines anderen weißen Mannes, Francis Fukuyama, erzählte in der ursprünglichen Fassung von 1989 dieselbe Geschichte: Die Prinzipien des Liberalismus, der Demokratie und der Marktwirtschaft würden sich endgültig und überall durchsetzen – zumindest „in the long run“!
Karl Marx, Max Weber und Karl Popper haben keine Chance mehr, ihre Erzählungen zu revidieren. Wir können sie nicht mehr befragen, wie sie es sich erklären würden, warum derzeit immer mehr Menschen genau eine solche Gesellschaft, wie sie sie sich vorgestellt haben, für sich und ihre Kinder nicht wollen. Von Jürgen Habermas weiß ich nicht, wie er den Islamismus, dieses virulente Konkurrenzunternehmen zum westlichen Modell, sieht.
Francis Fukuyama jedenfalls hatte selbst eingeräumt, dass das Ende der (westlichen) Geschichte offensichtlich auf erheblichen Widerstand gestoßen sei: „Democracy’s only real competitor in the realm of ideas today is radical Islamism. Indeed, one of the world’s most dangerous nation-states today is Iran, run by extremist Shiite mullahs. “ (Francis Fukuyama: They can only go so far. In: The Washington Post, August 24, 2008.)
Allein diese wertende Einordnung des politischen Islam als „most dangerous“ verkennt dessen vollkommen und radikal anders ausgerichtete Perspektive. Der politische Islamismus ordnet seinerseits die westlichen Prinzipien von Liberalismus, Demokratie und Kapitalismus als „most dangerous“ ein und bekämpft sie deswegen mit aller Gewalt. Wie wir nun ganz aktuell zwar nicht so sehr im Iran, dafür umso eindrücklicher in Afghanistan sehen.
Am Beispiel von Afghanistan zeigt sich überdeutlich, dass eine islamisch geprägte Gesellschaft, die aus einer Mehrzahl von sehr diversen Gesellschaften gebildet wird, aufgrund ihrer geographischen, kulturellen Gegebenheiten und ohne eine Tradition staatlicher Zentralisierung und ohne eine funktionierende Verwaltung im westlichen Sinn nicht zu einer „westlichen“ Gesellschaft geformt werden kann. Und schon gar nicht von außen und durch militärische Gewalt. Weil die Menschen in ihrer Mehrzahl das nicht wollen!
Die (noch) Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das sehr viel rascher verstanden, zumindest gesagt als so manch anderer der politisch Verantwortlichen. Sie sprach mit Blick auf Afghanistan davon, dass der deutsche Einsatz insgesamt „gescheitert“ sei und künftig „die Ziele bei solchen Einsätzen kleiner gefasst“ werden müssten. „Missionierung“ und Kolonialisierung jedenfalls – mit der Bibel oder mit Drohnen, mit Coca Cola, McDonald oder Volkswagen – sollten endgültig beendet werden.
Wie sagte es jener US-amerikanische Soldat in einem der zahllosen TV-Berichte über die nun so fluchtartig verlassenen Menschen in jenem Land, in dem er und seine Kameradinnen und Kameraden so viele Jahre schwergepanzert agierten: „They got a taste of freedom.“ Und ähnlich hörte man den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz im Fernseh-„Triell“ am 29. August 2021 über die Menschen in Afghanistan sagen: „wir haben ihnen ein bisschen Demokratie gezeigt.“ Viel zu selten wurde dabei hinterfragt, ob diese Menschen tatsächlich von dieser, unserer „Freiheit“ schmecken wollten oder ob sie überhaupt so „ein bisschen Demokratie“, wie die unsere, haben wollen. Wir, d.h. „der Westen“, gingen fest davon aus, dass alle Menschen auf diesem Planeten den gleichen „Wohlstand“ haben wollen wie „wir“. Das scheint nicht zu stimmen.
Weil auch die deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte keine andere Vorstellung hatte, der zufolge alle Menschen in einer ebenso offenen, demokratischen, liberalen und kapitalistischen Gesellschaft wie der unseren leben wollen, in der jedoch religiöser Glaube Privatsache sein muss, war es nur folgerichtig, zu postulieren, dass „Deutschland auch am Hindukusch verteidigt“ würde, wie es Peter Struck als Verteidigungsminister verkündete. 59 Soldaten der Bundeswehr, die nicht mehr lebend zurückkamen, wurden für diese Vorstellung vom Deutschen Bundestag nach Afghanistan befohlen. Wie es aktuell um die „westlichen Werte“ von Humanität und um den Kampf für die Freiheit von Gesellschaften und Individuen steht, kann man auch unschwer ablesen an der aktuellen Bereitschaft der europäischen Länder, Flüchtlinge aufzunehmen, auch jene aus Afghanistan.
Die ganz Große Erzählung von der Modernisierung und Zivilisierung aller menschlichen Gesellschaften nach dem „westlichen“ Modell muss revidiert werden. Das Narrativ Max Webers kommt noch am besten weg, sah er doch weniger in eine gute Zukunft des Siegs der Rationalisierung, sondern den Verlust der Freiheit der Individuen. Was er sich jedoch wohl nicht vorstellen konnte, war, dass es Menschen und Gesellschaften geben könne, die diesem angeblich unaufhaltsamen, „schicksalshaften“ Entwicklungspfad erbittert und gewaltsam Widerstand leisten würden. Menschen, die einfach nicht so leben wollen, wie die Großen Erzählungen des Okzidents es verkündeten.
Als Soziologe möchte ich nur anmerken, dass auch die westliche Geschichtswissenschaft an der Weitergabe dieses wirkmächtigen Narrativs einen nicht unbeträchtlichen Anteil hatte und hat: Wer zweibändig den „langen Weg nach Westen“ und vierbändig die Geschichte des Westens nachzuzeichnen versucht, erzählt ebenfalls vom westlichen Weg zu Demokratie und Freiheit. Und verschweigt dabei nur zu oft, dass Kapitalismus und Religionsfremdheit ebenfalls dazu gehören.
Die Ereignisse des 11. September 2001 hätten ganz gut als Gelegenheit dienen können, grundsätzlich darüber nachzudenken, wie „der Westen“ auf diesen Totalangriff sowohl auf ein gigantisches Überlegenheitszeichen des Kapitalismus als auch auf die Kommandozentrale des US-amerikanischen Militärs reagieren soll. Es war pure Einfallslosigkeit, die „westlichen“ Militärmaschinen auf Vergeltung zu schalten, allenfalls garniert mit dem Aufbau von Schulen für Mädchen und Trinkwasseranlagen. Heute, zwanzig Jahre später, dämmert bei vielen die Einsicht, dass das radikale Scheitern der militärischen Überreaktion eher die Schwächen des „westlichen“ Modells aufzeigte als dessen Stärke.
Es ist an der Zeit, über Alternativen nachzudenken, die nicht geprägt sind von den Erzählungen der soziologischen und historischen Meistererzähler aus dem Westen.