Sprachgewaltig und inspirierend

Aurelia Merlan und Joshua Ludwig präsentieren eine umfangreiche zweisprachige Anthologie rumänischer Lyrik

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Vorhaben von Aurelia Merlan und Joshua Ludwig, mit der von ihnen herausgegebenen Anthologie rumänische Lyrik „in ihrer Breite und Vielfalt vor[zu]stellen“, kann Erfolg bescheinigt werden, gibt der Band doch einen sehr guten Überblick. Mit den ausgewählten 143 Gedichten von 20 Dichtern und 2 Dichterinnen sind – von der Romantik über Sămănătorismus, Symbolismus, Traditionalismus, Expressionismus bis hin zu Neo- und Postmodernismus – „alle großen literarischen Strömungen vom 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert“ vertreten. Neben im deutschen Sprachraum relativ bekannten Namen wie der als Nationaldichter geltende Mihai Eminescu, Tudor Arghezi oder Ana Blandiana, von deren Werk es auch eigenständige Auswahlbände in deutscher Nachdichtung gibt, stehen Lyriker wie Alexandru Macedonski oder Ion Minulescu, die mit ihren Gedichten lediglich in Sammelbänden vertreten sind. Eugen Ionescu/Eugène Ionesco ist hierzulande eher als Dramatiker bekannt, Tristan Tzara als Mitbegründer der Zürcher Gruppe des Dadaismus, Lucian Blaga als Philosoph, Mircea Dinescu als Identifikationsfigur der rumänischen Revolution von 1989 und Mircea Cărtărescu als wohl der zur Zeit bekannteste Romancier der rumänischen Gegenwartsliteratur.

Jeder Dichter und die beiden Dichterinnen werden durch maximal acht Gedichte präsentiert. Den Blöcken vorangestellt sind jeweils im Umfang einer Seite biobibliographische Angaben zu Leben und Werk sowie dessen präzise, die jeweilige dichterische Entwicklung und Originalität betonende Einordnung in die rumänische Literaturgeschichte.

Aurelia Merlan, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München u .a. Rumänische Literaturwissenschaft lehrt, hatte – sich am literarischen Kanon orientierend – ursprünglich selbst Gedichte für die universitäre Lehre übertragen, um den Studierenden die fremde Literatur systematisch nahe zu bringen, und schließlich mehrere der Teilnehmer und Teilnehmerinnen auch in die Übersetzungsarbeit für den vorliegenden Gedichtkorpus eingebunden. Es scheint schon beinahe eine schöne Tradition im hiesigen Rumänistik-Studium zu sein, den Erwerb von Sprachkenntnissen und das Literaturstudium mit der praktischen Arbeit an einer Publikation zu verbinden und damit zugleich einen Beitrag zu leisten, rumänische Literatur im deutschen Sprachraum bekannter zu machen. So entstanden in den letzten Jahren, zumindest teilweise innerhalb des Lehrbetriebs an den Universitäten Freiburg, Heidelberg und Berlin, drei Anthologien rumänischer Prosa.

Auch wenn der immensen Arbeit mit den Studierenden für die Erstellung einer solchen Publikation in jedem Fall hohe Anerkennung gezollt werden muss, so sei hier angemerkt, dass anders als bei Prosa die Übertragung von Gedichten eine besondere Herausforderung darstellt. Im Vorwort wird berechtigt auf die grundsätzliche Schwierigkeit adäquater Lyrikübersetzung hingewiesen und betont, dass unter Verzicht auf den Reim „semantische Treue“ im Vordergrund stand und die Übersetzungen vor allem als „Verständnishilfe dienen sollen“. Manchmal bleibt es nun bei einer Interlinearübersetzung, dann wieder wird Nachdichtung angestrebt. In dem Gedicht Revedere/Wiedersehen von Mihai Eminescu dürfte z. B. die Zeile „Oh, Du, Wald, Du, süßes Wäldchen“, mit seinem Stakkato das schlichte „Codrule, codruţule“ des Originals überinterpretieren. Von manchen Gedichten existieren bereits gelungene deutsche Fassungen, wie z. B. die Nachdichtungen des Eminescu’schen Gedichtes Lacul/Der See von Zoltán Franyó, Roland Erb bzw. Christine Wolter, die dann anregende Vergleiche initiieren könnten.

Es ist wohl das grundsätzliche Manko eines jeden literarischen Kanons, dass er neuere Entwicklungen in der Literatur nicht einbezieht. So steht Mircea Cărtărescu als jüngster Dichter, neben Ana Blandiana und Mircea Dinescu einer der drei noch Lebenden, auch bereits in seinem siebten Lebensjahrzehnt. Eine Erweiterung um mehr zeitgenössische, darunter auch weibliche Stimmen, die es inzwischen reichlich im literarischen Leben Rumäniens gibt, wäre – vielleicht als Anregung für ein neues Projekt – durchaus wünschenswert.

Bedauerlicherweise fehlt in der Bibliographie gerade die in der Einleitung als Quelle genannte Einführung in die rumänische Sprach- und Literaturgeschichte von Klaus Bochmann und Heinrich Stiehler.

Trotz dieser kleinen kritischen Anmerkungen sei dieses umfassende Kompendium rumänischer Lyrik Studierenden und an rumänischer Literatur Interessierten auf jeden Fall ans Herz gelegt, bietet es doch mit lyrischer, elegischer, metaphysischer, ironischer, hermetischer oder auch kämpferischer Dichtung vom Zauber der Welt, von Liebe und Tod, Natur, Vergänglichkeit, Einsamkeit, Verzweiflung und noch vielem mehr Einblick in das Denken und Fühlen großer Meister der rumänischen Sprache.

Titelbild

Aurelia Merlan / Joshua Ludwig (Hg.): Rumänische Lyrik. Von der Romantik bis zur Gegenwart.
Edition Noack & Block, Berlin 2021.
446 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783868131109

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