Jugendliebe in Zeiten der Okkupation und Vernichtung

Das Tagebuch von Renia Spiegel, eines jüdisch-polnischen Mädchens, 1939 bis 1942

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 31. Januar 1939 schlägt Renia Spiegel, ein vierzehn Jahre altes polnisch-jüdisches Mädchen, ein Heft auf und macht den ersten Eintrag. Es ist, wie sie vermerkt, nichts Wichtiges passiert an diesem Tag. Nein, sie sucht „nur einen Freund“, jemanden, dem sie ihr „Freud und Leid erzählen“ kann, jemanden, der so fühlt wie sie, der ihr „glaubt“ und ihre Geheimnisse bei sich behält. Sie sehnt sich nach einem „Vertrauten“ und findet ihn im Tagebuch, dem sie ihr Erleben, ihre Gedanken, ihre Nöte und ihre Enttäuschungen mitteilt. Im Laufe der Jahre schwillt das Ganze zu einem Konvolut von mehreren hundert Seiten an. Es beginnt mit der Vorstellung ihrer Schule und knappen Portraits ihrer Klassenkameradinnen, die sie mag oder nicht, und es endet mit einem Hilferuf im Sommer 1942: „Höre Gott Israels, rette uns, hilf uns. Du hast mich vor Kugeln, Bomben und Granaten gerettet, hilf mir durchzuhalten, hilf uns!“

So weit, so ‚normal‘ für eine Heranwachsende, die – ausgestattet mit Freude am Schreiben und literarischem Talent – sich selbst und ihre Umwelt aufmerksam beobachtet, die Regungen, die Unarten ebenso wie die Tugenden ihres jeweiligen Gegenübers feinfühlig registriert, mit bemerkenswerter Sicherheit kommentiert und mit dem eigenen Erleben verknüpft. Aber ‚normal‘ waren die Zeiten, in denen sie Zwiesprache mit sich hält, nicht. Die Periode eines mittlerweile prekär gewordenen Friedens währte nur noch wenige Monate. Am 1. September 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein, ihr auf dem Fuße folgten die Einsatzgruppen, die ein wahres Schreckensregiment errichteten, Juden und die polnische Intelligenz drangsalierten und ermordeten. Renia Spiegel lebte damals bei ihren Großeltern in Przemysl, gelegen am San, an der Demarkationslinie, die zuvor zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart worden war. Der Fluss teilte die Stadt, die Mitte September von den Deutschen besetzt worden war. Die nördlichen Quartiere fielen an Deutschland, der Rest ging an die UdSSR. Die Rote Armee marschierte dort am 26. September ein. Unmittelbar vor der Übergabe hatten deutsche Truppen ein Massaker veranstaltet, dem mehrere hundert Juden zum Opfer fielen.

Renias Eltern lebten getrennt, der Vater bewirtschaftete ein Landgut an einer Biegung des Dnjestr, ungefähr 300 Kilometer von Przemysl entfernt. Die Mutter kümmerte sich in Warschau um die Karriere ihrer jüngsten Tochter Ariana, die als Kinderschauspielerin einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte. Den Sommer verbrachte diese wie Renia bei den Großeltern. Die von zwei Seiten erfolgte Okkupation, vor allem die Sperrung der Brücke über den San, trennte unwiderruflich auch die Familie. Zwar kam die Mutter einige Male zu Besuch, nachdem die Deutschen am 28. Juni 1941 in die zuvor von den Russen vereinnahmten Stadtviertel eingerückt waren. Noch am selben Tag wurden tausend Juden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zusammengetrieben und abtransportiert. In den folgenden Monaten musste die jüdische Bevölkerung große Teile ihrer Besitztümer abliefern, im Herbst 1941 wurde ein jüdisches Wohnviertel eingerichtet, das alsbald in ein umzäuntes Ghetto umgewandelt wurde: der Auftakt für einen beschleunigten Prozess von Entrechtung und Mord. Ende Juli 1942 begannen systematische Deportationen in das Vernichtungslager Belzec. Renia Spiegel wurde von ihrem Freund Zygmunt Schwarzer zusammen mit dessen Eltern aus dem Ghetto herausgeschmuggelt und auf dem Dachboden eines Mietshauses versteckt. Aber sie wurden verraten. In der Nacht vom 30. auf den 31. Juli 1942 wurden sie entdeckt und auf offener Straße erschossen.

Von all diesen Entwicklungen und den ihnen innewohnenden Schrecknissen erfahren wir aus den Tagebüchern relativ wenig. Anfangs werden sie eher beiläufig, weder systematisch noch kontinuierlich erwähnt. Adolf Hitler taucht zum ersten Mal am 2. April 1939 auf: Renia notiert, sie sei dabei, Französisch zu lernen. Wenn es keinen Krieg gebe, würde sie gern einmal nach Frankreich fahren. Aber der deutsche Kanzler habe Österreich besetzt, dann das Sudetenland, Böhmen und Mähren und das Memelland. „Wer weiß“, fügt sie hinzu, was er als nächstes machen werde: „Und so hat er teilweise auch Einfluss auf mein Schicksal.“  In den folgenden Monaten rückt die ‚große Politik‘ spürbar näher. Am 19. August wird der Hitler-Stalin-Pakt vermerkt. Als die deutschen Truppen näherkommen, verlässt sie mit Ihrem Großvater und ihrer Schwester die Stadt, beobachtet in Lemberg, wo sie festsitzen, die Soldaten der Roten Armee, deren Uniformen und fremdes Gebaren. Ein Jahr danach, Mitte Juni 1940, einen Tag vor ihrem sechzehnten Geburtstag, hält sie fest, „Hitlers Armee“ überschwemme „ganz Europa“, und möglicherweise planten die Deutschen, „einen Krieg mit Russland“. Sie selbst sei in Przemysl allein auf sich gestellt: „ohne Mama und Papa, ohne ein Zuhause, werde herumgeschubst und ausgelacht.“ Am 1. Juli 1940 beobachtet sie eine nächtliche Razzia, veranstaltet von den Organen der russischen Besatzungsmacht. Verhaftet und deportiert werden jüdische Kinder, Erwachsene, Männer und Frauen. Erst bei Tageslicht habe sie das ganze Ausmaß der Gewalt wahrgenommen, der „Verzweiflung“ und des „Unrechts“. Der Transport gehe nach Birobidschan, ein unwirtlicher Landstrich, weit hinter dem Ural gelegen, jener Rayon, den der Kreml als antizionistische Alternative propagierte, gewissermaßen eine ‚jüdische Heimstätte‘ auf dem Boden und im Geist der Sowjetunion.

Genau ein Jahr später, 1941: der deutsche Überfall auf die Sowjetunion liegt eine Woche zurück. Przemysl ist gänzlich unter deutscher Herrschaft und wird in das Generalgouvernement eingegliedert, als Renia nach einer kleinen Pause das Gespräch mit ihrem Tagebuch wiederaufnimmt. „Wir sind alle am Leben und gesund“, teilt sie mit. Heute könne sie sich noch „als freier Mensch“ fühlen, morgen im Blick auf die von den deutschen Behörden angeordnete Kennzeichnungspflicht freilich nicht mehr. Zwar bleibe sie immer noch „dieselbe“, für die anderen Leute aber werde sie „minderwertig“ sein: „Jemand, der eine blaue Armbinde mit einem blauen Stern trägt. Ich werde Jude sein.“ Dies dringt zunehmend in ihren Alltag ein, bestimmt ihr Schicksal. Zur Schule gehen darf sie nicht mehr, schon im Herbst ängstigt sie der Gedanke an Einweisung in den jüdischen Wohnbezirk, wovon sie, ihre Schwester und ihre Großeltern durch Zahlung von Bestechungsgeld einstweilen verschont bleiben. Der Krieg hat sich längst zum Weltkrieg ausgeweitet, in Przemysl werden Menschen ausgesiedelt, „es herrscht Verfolgung, Gesetzlosigkeit“, auch ein schon „vergessenes Gespenst“ taucht wieder auf. Am 15. Juli 1942 ist es so weit: „Heute um acht Uhr hat man uns ins Ghetto eingeschlossen. Jetzt wohne ich hier, und die Welt ist von mir abgetrennt, so wie ich von ihr abgetrennt bin. Die Tage sind schrecklich und die Nächte nicht besser.“ Wo sie auch hinschaue, fließe Blut. „Furchtbare Pogrome“ spielen sich vor ihren Augen ab: „Es wird getötet, gemordet.“

Den größten Raum in den Notizen nehmen jedoch Erfahrungen und Erlebnisse in der unmittelbaren Lebenswelt ein: nächtliche Fantasien, Albträume und Begehren, das Auf und Ab einer an Windungen reichen Liebesbeziehung. Es sind Notate einer Jugendlichen, die sich mit ihrem Tagebuch austauscht über die Schule, über Erfolge und Misserfolge, die sie dort einfährt, über Tanzfeste und Aufführungen, Eifersüchteleien und Rivalitäten, über die Beziehungen zu Freundinnen, denen sie sich teils in herzlicher Abneigung, teils in ebenso herzlicher Zuneigung verbunden weiß. Regelmäßig platziert sie Beiträge in der Schülerzeitung. Renia hat beträchtlichen literarischen Ehrgeiz. Dutzende in die Tagebuchblätter eingestreute Gedichte zeugen davon. Sie verraten Vorstellungskraft, den Willen zu poetischer Vergegenwärtigung ihrer Gefühle, Beobachtungen, Eindrücke und Einsichten. Anfangs sind sie heiter, verspielt, romantisch, parallel zu den sich verschlechternden Lebensbedingungen werden sie melancholischer, düsterer, verzweifelter. Schreiben ist Therapeutikum, Lebenselixier, immerwährender Anlass, die Gedanken zu ordnen, sich Klarheit zu verschaffen über das, was Tag für Tag auf sie eindringt.

Je ferner die Mutter ist, desto intensiver wird die Sehnsucht. Vor allem in den Zeiten der Not wird sie täglich als Schutzpatronin angerufen. Renia verzehrt sich nach ihr, bedarf ihrer Nähe, beklagt ihre Abwesenheit, fühlt sich verlassen. Sie sei eine „Katzennatur“, notiert sie einmal, sie benötige „viel, viel Wärme“, weil sie davon in ihrem Leben „zu wenig“ abbekommen habe. Und doch ist sie voller Verständnis, hat Mitleid wegen der Gefahren, denen sie in Warschau ausgeliefert ist. Dass die Mutter, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen, zum Katholizismus konvertiert, dabei einen neuen, unverdächtigen, nicht jüdischen Namen in ihre Papiere eintragen lässt, wird mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter problematisiert. Im Dezember 1941 überlegt Renia, was sie ihr zum Geburtstag schenken könnte. Sie schreibt ein Gedicht, eine „helle, silberne, winterliche Erinnerung aus den Zeiten“, in denen ihnen „nicht bewusst“ gewesen sei, „wie glücklich diese Zeiten waren.“ Und ein andermal trauert sie: „In all den wichtigen, bedrohlichen, entscheidenden Momenten des Lebens sind wir voneinander getrennt.“

Zwar ist die Mutter allgegenwärtig, aber doch eher im Hintergrund. Im Vordergrund der Bühne hingegen agiert Zygmunt Schwarzer, im Tagebuch Zygu genannt. Um ihn kreisen die Gedanken, sie bewundert seine Intelligenz, seine Bildung, seine Schönheit; auf ihn richten sich erotische Fantasien, ihn will sie zum Mann. Was sie mit ihm erlebt, die Höhen und Tiefen werden minutiös aufgezeichnet, anfangs die nicht recht erwiderte, dann die erfüllte Liebe in den Monaten vor der Ghettoisierung und dem Tod. Die Geschichte der beiden steckt voller Anziehung und Abstoßung, voller Zweifel und Hoffnung. Verletzung und Intimität wechseln einander ab, die Monate des Jahres 1942 markieren den Höhepunkt des Glücks, sind erfüllt von jubelnd besungener Zärtlichkeit und Hingabe, ein eigentümlicher Kontrast zu einer dunkel gewordenen Umwelt. Die Liebe verdeckt die Unbill des Besatzungsregimes, ist Flucht und Kompensation. „Es herrscht Verfolgung, Gesetzlosigkeit – und gleichzeitig ist da der Frühling, Küsse und süße Zärtlichkeiten“, notiert sie am 25. März. Mittlerweile 18 geworden, klammert sich Renia an die Utopie einer gemeinsamen glücklichen Zukunft, hofft, mit ihm den Krieg durchzustehen, durchzuhalten, zu überleben. „Er wird ein guter Ehemann sein“, ist sie gewiss.

Am 25. Juli bricht das Tagebuch ab: „furchtbare Zeiten stehen uns bevor“, ängstigt sie sich. Der Rettungsversuch ihres Freundes und Geliebten scheitert. Dieser nimmt die Hefte in seine Obhut, fügt noch ein paar Zeilen an: „Ich höre nur Schüsse, Schüsse … Schüsse … Renulein, meine Liebste, das letzte Kapitel deines Tagebuchs ist zu Ende.“ Zygmunt Schwarzer entkommt den Mordaktionen, übersteht Zwangsarbeit und Auschwitz. Das Tagebuch bewahrt er auf. In den fünfziger Jahren übergibt er es der Mutter in den USA, wohin sie beide nach dem Krieg ausgewandert waren. Bis es das Licht der Öffentlichkeit erblickt, dauert es noch Jahre. Nach langem Zögern und ermutigt durch Freunde, sorgt Renias Schwester Ariana dafür, dass es 2016 zusammen mit ausführlichen Erläuterungen publiziert wird. Die nun vorliegende deutsche Übersetzung legt man berührt, gepaart mit Melancholie und Trauer, aus der Hand.

Titelbild

Renia Spiegel: Tagebuch 1939-1942.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
480 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783895614149

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