Vom Umgang mit ungerufenen Geistern

Bernhard Strobels vierter Erzählband „Nach den Gespenstern“ thematisiert Alter, Alleinsein und Beziehungskonflikte und weitet das Genre des Phantastischen mitunter ins Psychologisch-Groteske

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Binsenweisheit, dass auch in der Literatur in Krisenzeiten das Übersinnliche Hochkonjunktur hat. Vielleicht ist die psychische Verlagerung realer oder als real empfundener Bedrohungen auf eine Ebene des Phantastischen für Lesende ein Trost, ein Sich-selbst-Ausklammern aus der als unsicher wahrgenommenen eigenen Lebenssituation.

Der Österreicher Bernhard Strobel, Jahrgang 1982, hat mit seinem soeben erschienenen Erzählband Nach den Gespenstern eine Sammlung von dreizehn Kurzgeschichten vorgelegt, deren Titel aufs erste Ansehen nahezulegen scheint, mit ihrem Inhalt eine solche literarische Selbstflucht zu befördern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Story, die dem Buch ihren Namen verleiht, spielt direkt auf Henrik Ibsens Drama Gespenster an: ein Ehepaar gerät nach dem Theaterbesuch desselben in eine Auseinandersetzung, die in Gewalt und Wahnsinn endet. Psychologisch dicht wird aus der Perspektive des Ehemanns die Fabel von dem dünnen Firniß mühsamer Beherrschtheit über der abgundtiefen Aggressivität herausgearbeitet, die auf immer wiederkehrenden, über Generationen verstetigten Denk- und Verhaltensweisen beruht.

Und auch wenn sich in den allermeisten der anderen kurzen Erzählungen des Bandes durchaus Unerklärliches, vulgo Übersinnliches ereignet, so steht dies nie wirklich im Mittelpunkt, sondern ist vielmehr Ausdruck für die psychischen Transformationen, die die Figuren wie von selbst befördern. So fügt es sich etwa in der ersten Geschichte, Über Geister betitelt, dass der Witwer einer gewaltsam zu Tode gekommenen Frau unwissentlich in das Haus direkt neben deren Mörder einzieht, der nie gefasst wurde, und dieser ihm schließlich von einer poltergeistartigen Heimsuchung durch sein Opfer berichtet; sein Selbstmord, der wiederum auch als ein gewaltsamer Fenstersturz oder aber das Wirken des Übersinnlichen interpretiert werden kann, bringt den Witwer nach Bekanntwerden des Täter-Opfer-Zusammenhangs in die Situation, sich vor der Polizei rechtfertigen zu müssen, die eine Rachetat nicht ausschließt.

Ähnlich verhält es sich mit der aus der Perspektive seiner Ehefrau beschriebenen Figur eines Rentners, der beim Blick durch sein Fernglas vom Balkon aus feststellt, dass zwei vorher mit bloßem Auge betrachtete Personen, die offenbar das Haus zu beobachten scheinen, auf einmal verschwunden sind. Setzt er das Glas ab, so sind sie wieder sichtbar. Dieses häufig gebrauchte Horrormotiv – meist kommt eine im Gegenteil nur durch das Fernglas zu beobachtende Gefahr schnell näher und ereilt dann beim letzten Blick durch dasselbe den Protagonisten – illustriert anschaulich Strobels Fähigkeit, sich das Phantastische als den eigentlichen Träger psychosozialer Konstellationen, als Ausdrucksform von real Existierendem zunutze zu machen. Im Falle der Erzählung Das Fernglas wird dem Rentner die optische Verfolgung der Hausbeobachter zur Obsession, stunden- und tagelang widmet er sich ihr, bis seine Frau (die die Personen sowohl mit bloßem Auge als auch durchs Okular sehen kann, ihnen jedoch keine weitere Bedeutung beimisst) beschließt, das Fernglas verschwinden zu lassen, um der vermeintlich schrulligen Rechthaberei des Gatten ein Ende zu setzen.

Überhaupt ist Strobels erzählerisches Personal ganz überwiegend mit manischen Eigenschaften behaftet, die immer in irgend einer Weise ererbt oder durch (zu) lange Beziehungen entstanden sind. So kann sich etwa in der Geschichte Die Hauptsache der längst erwachsene Sohn eines im betreuten Wohnen lebenden Paars nicht aus seiner Rolle als Kind lösen. Ein Albtraum quält ihn, in welchem der Vater, der zeitlebens mehr zu sich nahm als für ihn gut war, an einem Pfannkuchen erstickt, und er muss auf der Ebene des Traums wie zwanghaft dessen Verhaltensweisen nachahmen: 

‚Iss‘, sagte die Mutter. Er nickte stumm, und als sein Blick auf den Teller in der Tischmitte fiel, auf dem die noch übrigen Palatschinken lagen, wusste er, dass er jetzt an der Reihe war, alles aufzuessen.

In der gleichen Nacht verstirbt der Vater offenbar tatsächlich, wenngleich an den Folgen eines Sturzes.

Es ist das Vorherbestimmte, Unausweichliche, welches das Band zwischen der Ebene des Realen und des Phantastischen immer wieder herstellt. In Das falsche Gebiss lebt ein kleines Mädchen bei seinen Großeltern – offenbar sind seine Eltern verstorben. Das Mädchen entwickelt einen merkwürdigen Todeskult, sammelt Knochen und Schädel kleiner Tiere in seiner Nachttischschublade. Die Kleine fühlt sich magisch vom Anblick des Großvaters ohne seine künstlichen Zähne angezogen, die Großmutter bemerkt, dass das Mädchen sich gar nachts ins Schlafzimmer der Großeltern schleicht, um den schlafenden Großvater lange anzustarren. Eines Morgens wacht dieser nicht wieder auf und die Großmutter kann nicht umhin, einen Zusammenhang mit dem Verhalten ihrer Enkelin zu unterstellen. Es bleibt offen, weshalb sie das Kind nicht einfach gefragt hat, was es damit auf sich habe.

Das Sprechen überhaupt gerät Strobels Figuren stets zum großen Problem. Kommuniziert wird zwischen den Protagonisten fast immer nur in unzulänglicher Form. In allen Konstellationen führen innerer Zwang, äußere Umstände, scheinbar unüberwindbare Konventionen, Nervosität oder versteckte Aggression zu einer Atmosphäre der Sprachlosigkeit, die nicht mit Wortlosigkeit zu verwechseln ist – es gibt durchaus etliche Dialoge in den Geschichten. Doch die Gespräche drehen sich im Kreis, das Erzählpersonal weicht einander aus – was eigentlich gesagt werden müsste, spielt sich jeweils, wenn überhaupt, dann nur im Kopf der Protagonisten ab.

Dabei ist bemerkenswert, wie feinfühlig sich Strobel in seine Charaktere hineinversetzen kann; seine Beobachtungsgabe mag, wie es sich für einen Schriftsteller gehört, ohnehin ausgeprägt sein, doch genügt dies allein, um so treffend Befindlichkeiten und Sichtweisen darzustellen, wie er es vermag? Ein männlicher Autor von noch nicht einmal vierzig Jahren, dem es gelingt, so überzeugend etwa aus der Perspektive des Alters oder der Weiblichkeit zu schreiben, muss noch über eine andere Qualität verfügen – die einer bedingungslosen Empathie für alles Menschliche. All seinen Geschichten wohnt eine Aura neugieriger Wachheit inne, die sich als unterschwelliges auktoriales Motiv manifestiert.

Das eigentlich Unheimliche in Strobels Geschichten ist also nicht so sehr der Einbruch des Übersinnlichen in die Sphäre der Realität, sondern vielmehr die Verhaltensweisen der Protagonisten in eben jener fiktiven, aber ganz am Alltagsleben orientierten beschriebenen Welt. Die Lektüre ist mitunter verstörend genug, um über das eigene Leben, die eigene Herkunft oder das eigene Ende nachzudenken, jedoch ohne den Impuls zu vermitteln, das Buch aus der Hand zu legen und den Diskurs mit den eigenen Gespenstern zu verweigern.

Titelbild

Bernhard Strobel: Nach den Gespenstern. Erzählungen.
Literaturverlag Droschl, Graz 2021.
176 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590867

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