Vom Überleben eines sehr lebendigen Fossils
Die neue Kulturzeitschrift „Rhinozeros. Europa im Übergang“, widmet sich in der ersten Ausgabe dem „Reparieren“
Von Fabian Saner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ein Zusammenleben in unserer geteilten Welt können wir nur gestalten, wenn wir zuvor nach der beschädigten Welt fragen.“ Wie lässt sich das Geteilte einer globalisierten hierarchisierten Differenz aus der Geschichte des Kolonialismus in das Gemeinsame einer geteilten Fragilität übersetzen, um auch eine Zukunft zu haben – da wir als Erdbewohner zum Sprechen und damit zu unserer Vergangenheit und hoffentlich auch zu einer Zukunft verurteilt sind?
Dem Prozess eines gänzlich unpathetischen Reparierens ist die erste Nummer der neuen Zeitschrift Rhinozeros gewidmet. Die Jahresschrift mit dem programmatischen Untertitel Europa im Übergang soll in Zukunft einmal jährlich bei Matthes & Seitz Berlin erscheinen und wird von Priya Basil, Teresa Koloma Beck, Franck Hofmann und Markus Messling herausgegeben. Reparieren bedeutet für dieses Kollektiv den sensiblen künstlerisch-forschenden Rekurs auf Kaputtgegangenes in den globalen Geschichtsräumen postkolonialer Situationen. Wie gestalten sich die Übersetzungsprozesse einer sich als Reparatur verstehenden Kulturarbeit vom Theater bis zum Gedicht, von der interkulturellen Kulturwissenschaft bis zur transitional justice, von der Traumabearbeitung in Gruppen bis zu reparierten Naturräumen? Die Antwort, die die Texte geben: ebenso im realistischen Zugriff auf die konkret und lokal situierten Praktiken einer postkolonialen Kultur wie in der Reflexion und Kritik gesellschaftlicher Machtasymmetrien.
Dafür ist das Rhinozeros ein glücklicher Griff der Herausgeberschaft: Das lebende Fossil, kurzsichtig, dickhäutig, langsam und doch ausdauernd, ist voll von der Kulturgeschichte der Emblematik der Macht wie der Popularisierung des Artenschutzes im Nationalpark-Kapitalismus der Gegenwart. Eine Übergangsfigur, die das ganz Alte ikonografisch versinnbildlicht, seit Antike und Renaissance den Aufwand der Macht symbolisiert, sich im Glanz dieses Alten Ressourcen zu sichern – ebenso wie den notwendigen Schutz, auf den dieser kurzsichtige Mehrtönner angewiesen ist, um den Verschleiss und die Ausrottung als Ressourcenquelle zu überleben bzw. das Überleben selbst überlebt zu haben und nun all die Fragen zu stellen, die mit dem bevorstehenden Ende der Verschleissmoderne übrig bleiben. Too big to fail, mal ganz anders.
Die Schmerzensspur von Kolonialismus, Imperialismus, Gewalt und Krieg ist eine Weltkarte mit unzähligen Einträgen und Widerstandspunkten. Die ,Last’ der Geschichte zeigt sich in den vielen Gestalten der Reparatur und des Unreparierbaren, die in dieser Ausgabe verhandelt werden: In der Wiederbesetzung von Räumen und Erinnerungsarbeit in Australien. Im Gedenken an die Raubzüge auf arabische Bücher in Westjerusalem, die nach dessen Besetzung als verwaist verbrämt wurden, um sie sich aneignen zu können. Im un(zu)gehörigen Deutsch in Kamerun und der dortigen Germanistik, die durch eigenständige Forschungsperspektiven die imperiale Logik von Zentrum und Peripherie auch philologisch-kulturpolitisch aushebelt. Andere Beiträge handeln etwa von Reparationszahlungen für Völkermorde und der Zerstörung kultureller Güter, vom Reparieren zerstörter Natur in der Geschichte der urbanen Wiederansiedlung des Wanderfalkens oder vom Kulturzentrum Hellerau in Dresden und dessen Wirken an Grenzübergängen jedweder Provenienz. Schließlich findet sich auch ein Versuch über das Gespenst der europäischen Trauer im Verlust «der anderen Seite»: jener schwierigen Möglichkeiten, Hoffnungen, Befürchtungen und Ängste, die mit dem Mauerfall in einen völlig neuen Aggregatszustand getreten sind und im wiedervereinigten Deutschland den nie verschwundenen mörderischen Rechtsextremismus wieder haben ans Tageslicht treten lassen.
Nicht alle, aber viele der durchwegs gut bis glänzend geschriebenen (teils literarischen) Essays setzen sich mit der deutschen Geschichte auseinander oder gehen von ihren Symptomen aus. Es ist eine Zeitschrift, in der Schriftstellerinnen und Künstler, Analytikerinnen und Juristen das Reparieren in sehr eigenständiger Weise und in ganz unterschiedlichen Zugängen behandeln. Gemeinsam ist ihnen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken des Eingedenkens in einer unübersichtlichen Welt voller (verschieden) erfahrener und geteilter Gegenwarten. Was die Perspektiven vereinigt, ist der unbedingte Anspruch nicht auf ein restauriertes, sondern auf ein repariertes bzw. reparierbares Leben. Nur letzteres ist ein emanzipatorisches Projekt und unterscheidet sich vom reaktionären Kulturalismus der neuen Rechten, die diese Semantik teilweise simulierend übernimmt, um sich ein instrumentelles Opfernarrativ zurechtzulegen. Es ist nicht das geringste Verdienst von Rhinozeros, dass hier absolut keine Verwechslungsgefahr besteht. So bleibt dieser Zeitschrift eine dicke Haut mit vielen weiteren Auftritten und ein langes Überleben zu wünschen.
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