Viele (Um)wege führen zu Dante

Achatz von Müllers Diagnosen zur „Göttlichen Komödie“

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Nacht vom 13. auf den 14. September 1321 starb der italienische Dichter und Philosoph Dante Alighieri in Ravenna. Das Jubiläumsjahr 2021 hat viele Verlage aufhorchen lassen, und 700 Jahre nach seinem Tod sind zahlreiche Neupublikationen über den wohl bekanntesten Dichter der italienischen Literatur sowie des europäischen Mittelalters erschienen.

Die Göttliche Komödie ist schwer zu lesen. Sie verlangt Geduld und Aufmerksamkeit ihres Lesers. Moderne Bildungswut findet Langeweile. […] Kein Werk der europäischen Literatur steht heute derartig umfangreich und verständig kommentiert im Blickpunkt der internationalen wissenschaftlichen Kritik wie dieses Buch, und dennoch ist es den wenigsten wirklich bekannt.

Dieses Diktum hatte Achatz von Müller schon in einem früh entstandenen Dante-Aufsatz für den Band Spektrum der Literatur (Gütersloh: Bertelsmann Lexikon-Verlag 1975) geprägt. Diesem Urteil kann auch aus heutiger Sicht nur nachhaltig zugestimmt werden.

Im Vordergrund der neuen Studie von Müllers – Prof. em. für Geschichte der Universität Basel und unter anderem Mitglied des Stiftungsrates der Jacob Burckhardt Stiftung, Basel – steht nicht allein Dante, sondern mögliche „Imaginationen der Moderne“ aus dem Blickwinkel seiner Interpreten seit der Romantik. Von Müller folgt damit im Wesentlichen seinem Vorbild Jacob Burckhardt, der Dante selbst als eine „Scharniergestalt“ und sein Werk als ein frühes Beispiel eines „modernen Individualismus“ eingeschätzt habe. Wie Burckhardt zieht von Müller panoramaartig „die ganze Geschichte“ heran und fragt wie dieser nach „anthropologischen Zusammenhängen“. Er sieht das Krisenhafte und sogar „Unheimliche“ im Schaffen des Dichters, das gleichsam einen „Baukasten der Moderne“ darstelle. Die Neuerscheinung im renommierten Göttinger Wallstein Verlag setzt sich deshalb deutlich ab von vorhergehenden Werkinterpretationen der Divina Commedia.

Achatz von Müller geht es um „den ganzen Dante“, nicht um Einzelaspekte des Werks und also nicht um die Commedia allein.Von Müllers Aufmerksamkeit gilt allen erreichbaren Schriften des Dichters; er will sich gleichwohl auf „jene Motive“ konzentrieren, die über Dante hinausweisend bereits eine „entgrenzte Moderne“ repräsentieren. Dieses selbst gesetzte Programm verlangt von den Rezipienten seiner Studie einiges an Vorwissen um die komplexen Zusammenhänge ab, um die es von Müller dabei geht.

Den Hallraum der Dante-Rezeption und -Interpretation vermisst der Verfasser anhand einiger Tiefenbohrungen, und zwar in Unterkapiteln zu den Themen Stadt, Staat, Geld und Geschichte. Eher konventionell und vergleichbar mit anderen bekannten Dante-Studien geht es in den Kapiteln „Dante“, „Zeitgenossen“ und „Porträts“ zu. Von Müller kommt damit auch jenen Einsteigern in Dantes Welt entgegen, die sich neben der immer noch schwierigen Lektüre der Commedia auch in die neuere Forschung einarbeiten wollen.

Überflüssig zu erwähnen, dass von Müller über ein profundes Wissen über die Commedia und deren Rezeptionsgeschichte verfügt. Dies zeigen die oft wie beiläufig eingestreuten Textbezüge und die treffenden Zitate aus dem Werk, auch immer dann, wenn von Müller manchmal in die Feinheiten und Details seiner kulturhistorischen Studien abzugleiten droht.

So werden im „Stadt“-Kapitel auf zwanzig Seiten die einschlägigen Schriften von Burckhardt, Hippolyte Taine, Stendhal, Machiavelli wenig mehr als nur angerissen, bevor von Müller auf Dante selbst und sein Verhältnis zur Stadtgesellschaft von Florenz zu sprechen kommt. Besser gelingt von Müller diese Synthese im Kapitel über den „Staat“, das detaillierter auch auf die entsprechenden Abschnitte der Commedia eingeht und damit das Leserinteresse wesentlich besser bedient. Ausführlich beleuchtet von Müller in diesem längsten Abschnitt der Studie die verästelten Beziehungen Dantes zur Herrschaft Friedrichs II., in dem er sich Dantes Beharren auf der Autonomie des weltlichen Staates widmet und ihn als Anhänger einer überzeitlichen Ordnung jener frühen Staats- und Herrschaftsauffassung (gegenüber dem Papsttum) herausstellt.

Der Verfasser stützt sich in seiner Studie u. a. auf zehn überlieferte Dante-Kommentare aus der unmittelbar nach Dante lebenden Generation, möchte also den Deutungshorizont der Zeitgenossen als eine wichtige Quelle auch für die aktuelle Beschäftigung mit diesem Dichter nutzen. Für die nicht mit der umfangreichen Sekundärliteratur vertraute Leserschaft stellen von Müllers Zusammenfassungen eine gute, wenn auch manchmal etwas knappe Einstiegshilfe dar. Zum Beispiel von Müllers Verweis auf den umfangreichen, frühesten Kommentator Benevenuto da Imola aus dem Jahr 1379, der seine Behauptung, der Weg zum Paradies führe bei Dante über die Einhaltung der Tugenden und die Vermeidung der Laster, allein aus den Eingangsversen der Dichtung abgeleitet habe. „Kein Wort vom Paradies“, kommentiert von Müller apodiktisch. Ganz ähnlich verfährt von Müller auch mit dem Kommentar von Guido da Pisa aus dem Jahr 1328, bevor er auf die Haltung des Dante-Biografen Boccaccio übergeht und diesen Gedankenabschnitt dann etwas unvermittelt mit einem Schwenk auf die Dante-Übersetzung von Dorothy Sayers aus dem Jahr 1949 abschließt. Immerhin habe Sayers Dantes „säkularen Witz und Humor als Poesie weltlicher Ironie“ betont. Hier wird den Leserinnen und Lesern denn doch Einiges an Denk- und Vermittlungsarbeit zugemutet, zumal den wenigsten Sayers Textfassung nicht vorliegen wird, geschweige denn überhaupt bekannt sein dürfte.

Gut nachvollziehbar sind auch von Müllers ausführliche Deutungen der Passagen der Commedia, in denen Dante die Musik den Himmelssphären zuordnet und Entwürfe zur Weltdeutung gibt. „Musik der Stimme, Gesang, gilt dem Dichter und Visionär Dante […] als Bindeglied des Menschen mit den Mächten der Vollendung von Schöpfung und Sinnlichkeit.“ Von Müllers Interpretation des „Höllen“-Teils der Commedia, die bei Dante scheinbar ohne Vergleichsbezüge zur irdischen Musik auskommen müsse, ist in diesem Zusammenhang durchaus neu und gelungen, wenn er auf die „burlesken“ Begleittöne der Höllenreise von Dante und Vergil eingeht, die sich nach und nach als ein „groteskes Zerrbild einer militärischen Marschkolonne“ entpuppten.

Der Modernität Dantes kann von Müller auch im Kapitel „Geld“ auf originelle Weise nachgehen, wenn er die Nachwirkungen der Commedia in Georg Simmels Philosophie des Geldes beschreibt und Literatur und Erkenntnisse der Soziologie zusammenführt. Der Verfasser kann seine Überlegungen durch den Einbezug von Simmels wenig bekanntem Dante-Essay Dantes Psychologie von 1884 näher belegen und anhand der Begegnung der Dante-Figur aus der Dichtung mit den Wucherern im achten Höllenkreis seine Argumentation nachvollziehbar konkretisieren. Diese Ausführungen zu Dantes früher Diagnose einer kapitalistischen „Habsucht“ zählen zu den lesenswertesten der ganzen Studie.

Von Müllers Exkurse zu (toten) Dichtern und Schriftsteller/innen fallen umfangsbedingt leider zu knapp aus, hier hätte man gern mehr gelesen, so zum amerikanischen Dichter Ezra Pound, der Dantes Lyrik zu den Höhepunkten der neueren Poesie zählte und selbst formal an die Kanzonen anknüpfte. Auch T.S. Eliot als Bewunderer Dantes und besonders Jorge Luis Borges, der in Dantes Dichtung einen „exemplarischen Zugang zur Vernunft poetisch-metaphysischen Beschreibens der Welt“ sah, werden leider nur gestreift. Abschließend wendet sich von Müller dem Autor Hermann Broch zu, dessen Roman Der Tod des Vergil in der Tradition Dantes als ein „Flüchtlingsepos“ gewertet wird, der sich als Nachfahre in den Spuren Dantes „als Pathologe einer tiefen politischen Krise“ bewege. Zu kurz auch das kleine Kapitel über „Lagerliteratur“, hier wird der Schriftsteller Arno Schmidt, für den Dantes Werk wohl mehr als ein bloßer Anlassgeber zu einem nicht mehr ausgeführten Seitenstück seiner frühen Nachkriegsprosa gewesen ist, leider allzu knapp abgehandelt; denn Dantes „Realismus, der ihn in die Tiefen menschlicher und gesellschaftlicher Abgründe“ führte, war möglicherweise ein wichtiger Impuls auch für Schmidts Spätwerk. Leider fallen auch die Würdigungen Hannah Arendts und Primo Levis, die sich beide – jeder auf unterschiedliche Art und Weise – mit den Abgründen des Bösen beschäftigt haben, deutlich zu knapp aus. Gerade zu diesen „Imaginationen“ hätte sich der Rezensent mehr erwartet.

Das neue Buch Achatz von Müllers ist trotz dieser kleinen Lücken ein informativer Abriss der Wirkungen Dantes über die Zeiten und ihre Abgründe hinweg. Durch den Verzicht auf Fußnoten und Anmerkungen im Text ist dem Verfasser ein interessant zu lesender Essay gelungen. Mit ihren knapp 200 Seiten ist seine Studie sehr kompakt, manches hätte einer ausführlicheren Darstellung bedurft. Erwähnenswert ist der originelle Literaturanhang, da er kapitelbezogen Pfade zur Vertiefung in verschiedenste Richtungen ermöglicht.

Titelbild

Achatz von Müller: Dante. Imaginationen der Moderne.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
222 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835350335

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