Arno Schmidt in Wimmelbildern
Susanne Fischer publiziert mit „Julia, laß das!“ die Zettel zu Schmidts unvollendetem Roman „Julia, oder die Gemälde“
Von Martin Lowsky
Arno Schmidt (1914–1979) hat die intensive Planung für sein letztes Werk, den Dialogroman Julia, oder die Gemälde, im Jahr 1975 begonnen. 1979 war die Niederschrift zu zwei Fünfteln erfolgt, als Schmidt ein Schlaganfall traf, der zu seinem Tode führte. 1983 hat die Arno Schmidt Stiftung das Fragment als Kopie des Typoskripts veröffentlicht, und 1992 hat sie es im Neusatz in die Gesamtedition von Schmidts Werken, die sog. Bargfelder Ausgabe, integriert. Schmidt hatte das Werk mittels 13 300 Zetteln vorbereitet. Die Arbeit mit solchen Notizen war bekanntlich ein Kennzeichen seines späten Schaffens. Bei seinem berühmtesten und umfangreichsten Werk Zettel’s Traum hat er diese Arbeitsweise schon im Titel angedeutet, auch wenn dort mit ‚Zettel‘ in erster Linie eine Figur bei Shakespeare gemeint ist, der Weber Zettel (im englischen Original Bottom) im Sommernachtstraum. Den 13 300 Zetteln zu Julia widmet sich nun die Publikation von Susanne Fischer, und zwar in der Weise, dass sie gut 400 von ihnen vorlegt mit einer reichen Kommentierung, die sich auf diese Auswahl, aber auch auf das gesamte Korpus bezieht.
Dieses Buch bildet also mehrere hundert Zettel ab, die aus farbigem Papier sind, und hinzu kommen an die 30 Fotos in gedämpfter Tönung von Jan Philip Reemtsma, die Schmidts Haus, Arbeitszimmer und Schreibtisch zeigen. Wer unbefangen durchblättert, erlebt das Buch als ein visuelles Kunstwerk, als ein Produkt der Op Art. Viele kleine Zettel-Rechtecke mit schwarzen Mustern (der minuziösen Handschrift Schmidts) kennzeichnen die meisten Seiten, gedruckte Absätze umgeben diese Rechtecke, und es gibt die Seiten der Fotos, die geometrisch konstruiert anmuten und auf denen Wände, Tischplatten und Buchrückseiten die Hauptelemente sind. Das Ensemble der Blätter dieser Publikation bietet einen ästhetischen Genuss.
Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Beim genaueren Blick auf dieses Kunstwerk ist man getrieben, die Schrift auf den Rechtecken zu entziffern. Manche Seite wird dann zu einem Wimmelbild von Buchstaben und Wörtern. Man liest etwa:
„Schüsse fallen : das Morgengefecht, das die Bürger unsrer guten Stadt Hagenau alltäglich …“, „merkwürdiges Nachtgewitter mit St. Elms Flämmchen“, „Jesus a seafearing man : auf Cypern“, „… und Reich-Ranitzky [!], der allgegenwärtige Philister, …“, „durch die übervielen Uni-Gründung[en] wird ein heilloses ProfessorenProletariat gezüchtet“, „Kater : ‚Ahriman Mirza, der Fürst der Finsternis‘ springt auch aus d Bilde hervor, und wieder hinein“, „beim Anblick des großen Klaviers – dessen tief dunkelbraunes Holz glänzt – überlege ich, ob ich“, „da kann man schön scheißen“, „Du kannst während des Fickens keine Conversation anknüpfen“, „Goethe’s ‚Mailied‘ vertont von Beethoven : giebt es etwas Temperamentloseres ? Verdeppteres ? (Selbst wenn Peter Schreier singt)“, „sie spreizt, er spritzt“, „Gestalten meiner Bücher gefallen Mir im persönlichen Umgang gar nicht!“, „und diese ewige Hausarbeit! das iss ja um Grüne Seife und Waschblau zu fressen!“, „Freud contra seine ‚Schüler‘“
Also Gegenständliches, Persönliches, Kulturgeschichtliches, Obszönes schwirren wild durcheinander, man erkennt zunächst keine Zusammenhänge – so als sollte das Ganze als konkrete Wortkunst begriffen werden.
Doch wir wissen, dieses Material hat eine Funktion; es waren Schmidts Formulierungsbruchstücke für die Abfassung von Julia. Es wird uns in drei Rubriken dargeboten: Zuerst 70 Zettel (von 5000), die zu dem niedergeschriebenen Teil von Julia gehören; sodann die 26 Zettel, die Arno Schmidt an seinem letzten Arbeitstag vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte; und schließlich 350 (von 8 300), die Schmidt für die weitere Ausarbeitung vorgesehen hatte.
Am verlockendsten, insbesondere für Schmidt-Kenner, ist die letzte Rubrik. Wie wollte er seine Julia zu Ende führen? Diese Frage müsste sich jetzt beantworten lassen, es sollten sich doch Auskünfte ergeben, die das mit Leben füllen, was Schmidt in seinem 1. Entwurf festgehalten hatte, der schon 1983 mit dem Fragment gedruckt worden war; Notizen wie „Überfahrt zur Insel“, „Seeräuber?“, „Schiffbruch?“, „Begegnungen mit den Gestalten meiner Bücher“ liest man dort. Doch der Leser, der in das neue Material eindringt, wird diesbezüglich nicht befriedigt. Er spürt rasch, was Susanne Fischer schon zu Anfang darlegt: „Die Zettel verraten nicht, wie es in und mit dem Buch weitergegangen wäre.“ Schon das Material der ersten Rubrik, für die ja die Niederschrift vorliegt, zeigt, wie unzuverlässig und lückenhaft die Zettelinhalte sind: So erscheint der Frühstücksraum des Hotels in Bückeburg – in dem die Julia-Handlung einsetzt und der mehrfach der Ort von Gesprächen ist – hier als „Wirtshaus“, und die im Roman beschriebenen Wohnverhältnisse der Abiturientin namens Zweitausendeins, dieses schäbige, bildungsferne und doch zauberhafte Milieu, in das ein literarisch gebildeter Student einzieht, erscheinen gar nicht auf den Zetteln. Sie weisen eher auf geplante Gespräche im Roman hin als auf Handlungsabläufe – wie überhaupt dieser Roman, wir haben ihn einen Dialogroman genannt, auf vielen Seiten fast nur Gespräche, Statements, Reflexionen und Visionen der Personen anführt und die Handlung lediglich in kleinen Zwischentexten, sozusagen Regieanweisungen, unterbringt. Außerdem informieren die Zettel insofern lückenhaft, als sie nicht sagen, welchen Romanfiguren jeweils die Gesprächsfetzen in den Mund zu legen sind. Man darf sich darüber nicht wundern, denn klar ist: Arno Schmidt schrieb den Roman nieder, nicht indem er seiner Vorbereitung, also seinen Zetteln, genau folgte, sondern indem er mit ihrer Hilfe seine Kreativität weiter entfaltete und zugleich erzählerische Konsistenz anstrebte. Ein anstrengender Weg dichterisch-romanhaften Gestaltens führt also vom Zettelkasten zum literarischen Werk selbst.
Bleiben wir bei der dritten Rubrik, denn sie ist für uns der Ersatz für den nicht geschriebenen größeren Teil des Romans. Susanne Fischer legt dar, dass Schmidt einige dieser Zettel als Registerkarten gedacht hat; sie enthalten so etwas wie Zwischenüberschriften. Diese lauten beispielsweise: „Küsse“, „Weg zum St. Meer“ (das Steinhuder Meer ist gemeint laut früherer Anspielungen), „Strand / FKK“, „Bootsfahrt / Weg zum Anleger“, „Die Blumenkrater“. Die letzte Registerkarte enthält „Dix ans plus tard“ [Zehn Jahre später]. Das alles sind zwar einigermaßen konkrete Stichwörter, aber was wirklich passiert, melden sie nicht. Und doch sind die 350 Exemplare dieser dritten Rubrik eine, möchte ich sagen, köstliche Lektüre. Sie machen uns nämlich in spannender Weise mit den internen Eigentümlichkeiten von Arno Schmidts Julia, oder die Gemälde bekannt; sie führen uns, um ein berühmtes Wort von Thomas Mann zu gebrauchen, ‚den Geist der Erzählung‘ vor.
Hierzu Genaueres. Man hat Julia als einen romantischen Roman bezeichnet, da hier, im Schloss von Bückeburg, ein Mädchen aus einem Gemälde in den dreidimensionalen Raum hinaustritt. Es ist ein magischer Vorgang, den im Roman nur die männliche Hauptperson wahrnimmt, die offenbar ein Nachfahre mancher Figuren bei E. T. A. Hoffmann ist. Dieser romantische Zug setzt sich bis zum Ende fort; den Zettel mit dem aus dem und ins Bild springenden Kater haben wir schon zitiert, zu erwähnen wäre auch dieser Zetteleintrag: „‚Komm mit ins Bild!‘ (ins zweidimensionale ewige Leben?)“. Schmidt „fand immer wieder Möglichkeiten, in seiner Literatur einen Raum zu schaffen, der den Naturgesetzen nicht unterworfen war“, merkt Susanne Fischer an. Zugleich ist Julia als realistischer Roman gedacht; realistisch in dem Sinne, dass er keine Tabus kennt (siehe die sexuellen Sujets vieler Zettel) und immer wieder das Banal-Alltägliche erörtert, realistisch sogar im Sinne von Theodor Fontanes Roman Der Stechlin, nämlich dass von den Figuren das Weltgeschehen und die Generationenkonflikte kritisch diskutiert werden. Und Schmidt lässt die unterschiedlichsten Menschen reden! Der Blick in die vorhin zitierten Zettel zeigt sofort diesen Realismus. Man erlebt hier auch, dass eine Person die „FKK“ eine „Niggerkultur“ nennt.
Eine Besonderheit von Schmidts Julia ist, dass sie ein selbstreflexiver Roman ist, also das literarische Schaffen im Erzählen selbst thematisiert. So spricht Schmidt, wie wir gesehen haben, von „Gestalten meiner Bücher“, und zu nennen wäre noch dieser Zettel: „Überlegung : ob der Autor nicht die sortierten Zettel/Materialien hinten, am Buchende, mitliefern sollte ?“ So gesehen ist die vorliegende Publikation genau im Sinne Arno Schmidts oder zumindest der Person, die im Roman diese Frage aussprechen darf! Und in vielerlei Hinsicht ist Julia auch ein autobiografischer Roman; im Krieg war Schmidt in Hagenau im Elsass stationiert und Hagenau erscheint, siehe unseren ersten zitierten Zettel, hier wieder. Ein eigenes Thema wäre natürlich der Humor des Romans samt seinen selbstironischen Elementen; er durchzieht ebenfalls den Fundus, was sich nebenbei in der eigenwilligen Orthografie zeigt.
Um zusammenzufassen: Mit etwas Anstrengung lassen sich die vorgelegten Zettel nacheinander flüssig lesen. Ihre Fülle ist nicht so beliebig, wie es zunächst anmutet. Sie erklärt uns in besonderer Art den Dialogroman, auch wenn sie über seinen Handlungsverlauf kaum etwas verrät. Sie deutet nach und nach auf vielfältig schillernde Weise an, wie reichhaltig in erzählerischer, gattungstechnischer und geistesgeschichtlicher Hinsicht das Werk werden sollte. Und sie zeigt uns in kleinen und oft winzigen Formulierungen ein kolossales poetisches Sichaustoben, eine gewaltige Schaffenslust eben, zu der auch Obsessionen, enge Sichten, Vorurteile und schließlich die Selbstverspottung gehören.
Nur einen Bruchteil von insgesamt dreizehntausend Objekten legt uns Susanne Fischer vor; aus der Vielseitigkeit des Vorgelegten schließen wir, dass Fischer sehr gut ausgewählt hat. Zu loben ist auch das elegante Design und der vortreffliche Farbdruck dieser Publikation; und speziell zu rühmen ist, dass in einem Anhang sämtliche abgebildeten Zettel in Transkription vorgelegt werden. Die Leser und die Forscher werden also vorzüglich bedient. Und sogar der Titel ist gut gewählt. Er lautet „Julia, laß das!“ Das ist einstmals Schmidts Arbeitstitel für seinen Julia-Roman gewesen, und wenn Fischer diesen Schmidt’schen Titel jetzt für ihr Werk entleiht, so ist das eine sehr geschickte Hommage an ihren Meister.
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