Verniedlichtes Grauen
Dave Eggers hat mit „Every“ eine sehr düstere, aber dennoch unfassbar komische Fortsetzung seines Erfolgsromans „The Circle“ geschrieben
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDave Eggers’ Roman The Circle, 2015 erschienen, war ein weltweiter Erfolg, weil es dem bekanntermaßen sprachlich wie stilistisch limitierten Autor gelang, ein dystopisches Gesellschaftsporträt zu zeichnen, das, wie alle guten Dystopien, so nah an unserer alltäglichen Realität war, dass alles in diesem Buch vorstellbar, ja sogar naheliegend erschien. The Circle handelt vom titelgebenden Tech-Giganten, ein bewusst nur schwach verschleiertes Facebook, der sich anschickt, die digitale Herrschaft über die Menschheit zu übernehmen. Im Mittelpunkt steht die junge, etwas unbedarfte Angestellte Mae Holland, der es gelingt, nach und nach hinter die Kulissen des Unternehmens zu blicken und seine wahre Motivation zu entschleiern. Das Erschreckende dabei ist, dass es sich bei The Circle keinesfalls um ein im klassischen Sinne skrupelloses Wirtschaftsunternehmen handelt, das nur auf Ausbeutung und Kapitalgewinn aus ist, sondern um eine durchaus auf nachhaltigem ökologischen Denken basierte Firma, bei der sich Idealisten und neoliberale Strippenzieher hinter den Kulissen einen Kampf liefern (den die Neoliberalen natürlich schon von Anfang an für sich entschieden hatten). Am Ende des sprachlich äußerst ungelenken Romans steht ein klischeebehafteter Showdown, was wieder einmal bewies, dass sich bei keinem zweiten Autor mangelndes schriftstellerisches Talent und gute Absichten so neutralisieren wie bei Dave Eggers.
Vier durchwachsene Romane später knüpft Every genau da an, wo The Circle aufgehört hat und zeigt ein Unternehmen, das nicht nurmehr nach der Weltherrschaft zu greifen gedenkt, sondern diese längst erreicht hat. Doch auch das ist dem nach zahlreichen Fusionen – unter anderem mit dem nur als „Dschungel“ bezeichneten Amazon – in ‚Every‘ unbenanntem Konzern, der mittlerweile unter der Leitung jener Mae Holland, der Heldin aus The Circle, steht, nicht genug. Was Every anstrebt ist die vollständige Vernichtung der Privatsphäre und einen Kontrollapparat, der Orwells 1984 auf vielfache Weise in den Schatten stellt. Das Schockierende, und leider auch äußerst Realistische, an der Geschichte: Anders als bei Orwell steckt hinter der Diktatur kein totalitärer Staat, der sich die Menschen mit Gewalt unterwirft, sondern die Bereitschaft, sich jeder auch noch so absurden App nicht nur freiwillig, sondern begeistert zu unterwerfen und dabei die Kontrolle über sein eigenes Leben abzugeben – und mit jenen scheinbaren Optimierungen des Alltags zu glücklicheren, vor allem aber: politisch korrekteren Menschen zu werden.
Hier liegt das Perfide an Every, dem Unternehmen, und gleichzeitig der große Reiz an Eggers’ Roman, der diesen zu einer solch größeren Leistung als The Circle macht: Während Every die Menschen mit einem totalitären Überwachungssystem fast vollständig unter Kontrolle hat, geschieht dies stets in der Annahme, das Richtige, Nachhaltige, politisch Korrekte zu tun. Indem sich sowohl die ‚Everyones‘, wie die Mitarbeiter des Unternehmens genannt werden, als auch der ebenso unter Kontrolle stehende Rest der Weltbevölkerung (Liberia ist der einzige Staat auf der Erde, der sich der digitalen Rundumüberwachung entzieht), immer mehr dem Diktat der ökologischen, sozialen und persönlichen Selbstoptimierung unterwerfen, schwindet nach und nach ein weiteres Stück Freiheit, bis am Ende nichts mehr übrig bleibt. Selbst als Wohnung dient den Mitarbeitern irgendwann nur noch eine hochtechnisierte Schlafröhre, in der ein penetrantes Computerprogramm einen alle fünf Minuten daran erinnert, dass man jetzt doch bitte endlich einschlafen soll, um das nächtliche Schlafoptimum zu erreichen.
Der Plot selbst ist recht simpel gestrickt: Die junge Uni-Absolventin Delaney plant mit ihrem Wes, einem Computerfreak, der sich allerdings als Revoluzzer sieht und sich mit allen Mitteln der digitalen Kontrolle zu entziehen versucht, eine Infiltration von Every, um das Unternehmen von innen heraus zu zerstören. Ihr jahrelang minutiös geschmiedeter Plan: Immer absurdere, menschenverachtendere Apps erfinden, um der Menschheit deutlich zu machen, wie zutiefst verdorben dieses Unternehmen doch ist. Natürlich geht der Plan nicht auf, und der Roman ist einer Satire gleich so konstruiert, dass das Duo mit immer perverseren Ideen durchdringt, die aber leider von den Menschen als grandiose Erfolge gefeiert werden und dafür sorgen, dass das Unternehmen statt zu kollabieren immer mehr Macht gewinnt. Dazu lernen wir mit Delaney einerseits die verschiedenen Abteilungen von Every kennen, die alle niedliche Namen tragen, um das Grauen zu kaschieren, das von den hier verwalteten Apps ausgeht. So etwa die Abteilung, die millionenfach Erinnerungsobjekte verbrennt, weil Every den Menschen eingeredet hat, dass diese in der digitalen Cloud ja stets verfügbar seien und man sich deswegen von jeglichem physischen Ballast befreien muss.
Delaney und Wes’ Top-Erfindung ist jedoch eine Software namens „Friendy“, die es mit biometrischer Gesichtserkennung möglich macht, anhand eines raffinierten Algorithmus herauszufinden, ob das Gegenüber ehrlich zu einem ist. So kann man seine Freund*innen „testen“, ob sie es ernst mit der Freundschaft meinen, seine Ehepartner*innen, ob die Gefühle echt sind, usw. Friendy avanciert zur weltweit beliebtesten Software und hilft Every, seine Macht zu zementieren.
Natürlich kann man dem Roman vorwerfen, dass er auf fast 600 Seiten etwas repetitiv ist: Die Struktur wird von den neuen Apps, die Delaney und Wes erfinden, sowie von den verschiedenen Abteilungen, die erstere bei ihrem Trainee-Programm durchschreitet, vorgegeben. Am Ende kommt es zum – glücklicherweise kurzen – Showdown mit finalem, jedoch nicht besonders überraschenden Twist. Und trotzdem funktioniert Every deutlich besser als The Circle, weil er über dessen arg konventionelle Thriller-Struktur hinausdenkt und vor allem als bitterböse Gesellschaftssatire funktioniert, die sich oft selbst nicht allzu ernst nimmt, aber glücklicherweise niemals der durchaus naheliegenden Versuchung anheimfällt, sich dem drohenden Slapstick hinzugeben.
Wunderbar ist vor allem, wie Eggers die politische Korrektheit wie die identitätspolitisch motivierten Handlungen seiner Figuren genüsslich seziert, dem Leser aber gleichzeitig die Luft zum Atmen nimmt. Denn, so ist die brandaktuelle Kernaussage dieses Textes, die Diktatur droht nicht nur von megalomanischen Tech-Konzernen, einer ungebremsten Digitalisierung und der globalen rechtsextremen Gefahr, sondern auch im Kontext einer schonungslosen Ideologisierung des Lebens, in der die in sich hehren ökologischen und sozialen Ziele über alles gestellt werden, was das menschliche Miteinander ausmacht.
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