Stil und Eleganz

Mit „Der Nagel im Kopf“ erscheint Paul Nizons Journal der Jahre 2011 bis 2020

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wohl kaum ein anderer mitteleuropäischer Autor hat das Genre des Journals in den letzten Jahrzehnten derart zum Glänzen gebracht wie Paul Nizon. „Ich bin ja ein unverbesserlicher Tagebuchschreiber und Ich-Chronist“, charakterisiert er sich selbst am 1. April 2016. Begegnungen und Gespräche, reale und fiktive, Erinnerungen natürlich, Assoziationen, Träume und Alpträume, Musikstücke, Filme oder Lektüren finden ihren Platz in seinen Journalen. 92 Jahre alt ist der in Bern geborene, seit Jahrzehnten im geliebten Paris lebende Künstler jetzt, und allein deshalb ist klar, dass sein sechster, die Jahre 2011 bis 2020 reflektierender Journalband ein Alterswerk genannt werden darf. Aber Der Nagel im Kopf ist mehr. Die Schweizer Kindheits- und Jugendjahre vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg sind erstaunlich präsent, und die Anfänge literarischen Schreibens und Publizierens sind es auch – Canto, Paul Nizons wunderbares Rom-Buch von 1963, das ihn bekannt machte und auch heute noch begeisterte Leserinnen und Leser findet, scheint gerade erst erschienen zu sein. Der Nagel im Kopf enthält viel Autobiografisches, verwandelt in mehr oder minder brillante, stilistisch immer ungeheuer elegante Autofiktion – schließlich sei er, Nizon, ja auch einer der „Erfinder des Autofiktionsbegriffs“. Schreibt er selbst.

Dass die Biografie des Autors im neuen Band so plastisch wird wie vielleicht niemals zuvor, ist ein Gewinn. Der Nagel im Kopf, der auch seine Poetologie umspielt und neu beleuchtet, kann zugleich mit Fug und Recht als detaillierte und aufschlussreiche Werkbiografie verstanden werden. Doch nicht nur Nizon-Fans kommen hier der „Grundverlorenheit“ des eminenten Dichters erheblich näher – das neue Journal bietet gerade auch Nizon-Einsteigern sprachtrunkene und schöne Prosafragmente, die man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur oft vergeblich sucht. Viele von ihnen gehören zu einem Romanprojekt, das Paul Nizon vor sechzig Jahren begonnen und bis heute nicht vollendet hat. 1960 hatte er in Rom das italienisch-französische Holocaust-Filmdrama Kapò über ein 14-jähriges Mädchen im KZ gesehen. Vor dem Kino war er auf eine junge Italienerin namens Maria gestoßen. „Eine Koinzidenz zwischen Entsetzen über das soeben Gesehene und dem Versprechen eines Liebesabenteuers“, erläutert der Herausgeber Wend Kässens. „Der Erzähler entscheidet sich für die Liebe, verdrängt die Schrecknisse des Films“. Maria, „hochgetürmtes Honighaar über rotem Ledermantel“, bleibt ein Leben lang präsent – schon in Canto taucht sie auf, und in den Journalbänden danach ist mehrfach vom „Salve Maria“-Stoff die Rede. Der Nagel im Kopf verdankt eben diesem Maria-Projekt einige sprachlich betörende Passagen. 

„Meine Vorstellung von Literatur ist das Versprachlichen dessen, was ist und in und um mich ist“, notiert der Dichter am 14. Juni 2011. „Natürlich hoffe ich mit der Alltagsabwicklung den existenziellen Nerv freizulegen. Mit anderen Worten: Mein Schreibprogramm zielt auf Literatur im höchsten Sinne des Wortes, ist aber gleichzeitig […] eine Selbstrettungsaktion. Hier liegt auch mein Kreuz“. Über Nizons „Literatur als Selbstrettungsaktion“, die der „Vatervakanz“, dem „Familienschwindel“ und der gesellschaftlichen „Enge“ das Schöne entgegensetzen soll, ist eine Menge Interessantes zu lesen. „Man musste sich ein schönes Leben erfinden, um das wirkliche aushalten zu können“, schreibt er am 3. Januar 2013. „Man musste das eigene Leben zurechtlügen. O sole mio. O Schönheit“. Die sich selbst durchleuchtende Introspektion und das „Belauschen des inneren Bewusstseinsstroms“, die seine Romane wohl mehr prägen als ausgesprochener Handlungsreichtum oder prägnante Charaktere, werden durch solche Bemerkungen gewiss verständlicher. Sein Schreiben – und manchmal auch sein Leben – versteht Paul Nizon zuallererst als Dienst an der Schönheit. Sein Verständnis von Kunst ist ein emphatisches – am 23. Juli 2015 notiert er: „Kunst ist für mich wirklich der Schlüssel zum Leben (der Schlüssel des Lebens) und ferner die einzig denkbare und wünschbare Aufgabe (für den Lebenden)“.

Die „Schreibpassion in den Fingern“ war diesem Künstler, der auch Kunstkenner, -historiker und -kritiker ist und ganz nebenbei seiner „Musiktrunkenheit“ als wichtigem Faktor seines Schaffens nachgeht, von Anfang an wichtiger als ein konkretes Thema, eine konzise Fabel oder gar ein beherztes Engagement für soziale Belange. Wobei Paul Nizon durchaus ein politischer Mensch ist, was zum Beispiel seine Notizen vom 14. Dezember 2013 zum wieder sehr aktuell gewordenen Heimatbegriff deutlich machen. Oder seine am 26. Februar 2015 festgehaltene Reaktion auf die Solidaritätsmärsche nach dem Terroranschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo.

Auffällig ist, dass Paul Nizons Journalnotizen im Laufe der Jahre weniger und kürzer werden – die Jahre 2017 bis 2020 beanspruchen nur gut fünfzig Buchseiten. Das verheerende Feuer in der Kathedrale von Notre-Dame im April 2019 wird betroffen registriert, die Corona-Pandemie ein Jahr später wird nur noch summarisch erwähnt. Zunehmend betrachtet sich der Autor als eine Art aussterbende Spezies. Speziell in Bern: „Bern ist in der Alt- und Unterstadt ein leeres Stadtmuseum, kein Leben auf den Strassen, nur japanische und anderweitig exotische Stadtbesucher, Touristen“, heißt es am 23. März 2016. „Alles blitzsauber und aufgeräumt, nun, das (bisschen) Leben findet in ein paar Aussenquartieren statt […] Man wird in der musealen Luft hier selber zum Artefakt oder Exponat oder Überbleibsel“. Die Todesnachrichten häufen sich, Alice Vollenweider, Jörg Steiner, Heinz F. Schafroth – „die Generation dünnt aus“ –, und die ausführlichen Gespräche über Literarisches und Politisches finden oft nur noch mit Verstorbenen statt, etwa mit Elias Canetti oder Konrad Farner. Die neuen Kommunikationsmittel, mit denen eine vorschnelle und oft nur scheinbare „Wissensdemokratie“ einhergeht, überfordern und nerven ihn: „Ich glaube, es ist zum ersten Mal, dass ich mich von der gesellschaftlichen Veränderung vergessen, überholt und im Stich gelassen fühle“. Es scheint so, als komme die Welt dem Dichter jedes Jahr ein wenig mehr abhanden – das Alter schlägt zu, unerbittlich.

Was bleibt? Man hat Paul Nizon immer schon Narzissmus, Eitelkeit, Arroganz und Ruhmsucht attestiert, und er hat dazu auch Stellung genommen. Warum diese nicht unbedingt sympathischen Züge seines Wesens zum 90. Geburtstag hin stärker werden, versteht man nach der Lektüre von Der Nagel im Kopf besser als zuvor. Man kann es für vermessen und selbstgefällig halten, wenn ein Dichter, der seiner eigenen Meinung nach den Nobelpreis für Literatur schon lange verdient hat, unumstößlich davon überzeugt ist, dass er „aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken“ sei und dass dies „auch für den französischsprachigen Raum“ gelte. Man begreift aber auch: Die Frage nach seiner künstlerischen Bedeutung und seinem literarischen Überleben, die Paul Nizon gerade im hohen Alter umtreibt, gehört unverbrüchlich zum Kern und Sinn seiner gesamten Existenz, „so als wäre Überleben das einzige literarische Kriterium für Güte, Grösse, Schönheit, BEDEUTUNG. Sonst alles für die Katz […] Ich hatte keinen anderen Lebenssinn“. Wie immer man das bewerten mag – man wird Paul Nizons Leben und Schreiben seinen Respekt nicht versagen. Mit Der Nagel im Kopf hat er uns erneut einen wunderschönen Anlass dafür geliefert. 

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien zuerst in viceversaliteratur.

Titelbild

Paul Nizon: Der Nagel im Kopf. Journal 2011-2020.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
263 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429617

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