Lesen in der Corona-Krise – Teil 22

Einfach immer wieder anfangen: In dem Buch „Hauskonzert“ portraitiert Florian Zinnecker die Klarheit und Ehrlichkeit des musikalischen und politischen Wirkens von Igor Levit

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Igor Levit im März 2020 seine „Hauskonzerte“ begann, ahnte er nicht, welche Reichweite und welche Bedeutung sie erhalten sollten. Er kaufte ein Stativ für sein Handy, setzte sich daheim an den Flügel und startete einen Stream auf Twitter. Jeden Abend spielte er. Hunderttausende Menschen hörten zu und fühlten sich durch den Lockdown getragen. In einer Zeit der Einsamkeit, der sozialen Isolation und der Ängste erzeugten die Konzerte ein neues Gefühl der Gemeinschaft, sie gaben Halt und Hoffnung. Zuschauer tauschten sich in Chats aus, es wurde sich für das nächste Konzert online verabredet. Die Hauskonzerte wurden zur Konstante in einer scheinbar zusammenbrechenden Welt. Florian Zinnecker, stellvertretender Ressortleiter der Wochenzeitung Die Zeit, begleitete Levit durch die Konzertsaison 2019/20 und hinein in die Pandemie, in der die Wahrnehmung der Kultur im öffentlichen Raum weitgehend auf das Internet beschränkt ist – bei Levit auf „Hauskonzerte“.

Aus ihren Gesprächen entstand ein bemerkenswertes Buch. In Chat-Form mit Spiegelstrichen sind Gesprächsausschnitte zitiert. Rückblicke auf die Anfänge, Ablehnung und Ängste sind als Einschübe eingestreut. Schnitt. Levit während Plattenaufnahmen. Schnitt. Levit in Talkshows. „Transzendental-Etüden“ und schließlich das minutiöse Protokoll der Vexations, die er in einem rund vierundzwanzigstündigen Konzertmarathon spielte. Das Buch besteht aus vielen Teilen, die sich zu einer Komposition fügen. Die Gliederung übernehmen Hashtags. Zinneckers Beschreibung des Hörerlebnisses dreier Beethoven-Sonaten in der Elbphilharmonie ist fesselnd und von auskomponierter Geschwindigkeit. Hier finden Zeichensysteme der Musik und der Online-Kommunikation harmonisch zueinander. Tempi und Sprachform variieren. Das Buch spiegelt in seiner Form die Rastlosigkeit des Pianisten wider, dessen musikalisches und politisches Wirken ebenso untrennbar verwoben sind wie die Abschnitte des Buches. Im Konzertsaal ruhig, im Leben am Handy, im Gespräch manchmal sprunghaft. 

Der international ausgezeichnete Pianist wird von Selbstzweifeln begleitet. Er fragt sich, ob das, was er gerade tut, richtig ist. „Igor macht sich vieles schwerer, als er müsste.“ Der Leser lernt einen zugleich völlig erschöpften und nicht ausgelasteten unruhigen Menschen kennen. Zwischen gewollter Hektik und Sehnsucht nach Ruhe, Abstürzen und Erfolgen bewegt sich Igor Levit. Er sei dabei, sich selbst zu finden und auf dem Weg, Ideen auszuprobieren und auch wieder zu verwerfen. „Ich werfe einen Gedanken in die Luft und sehe erst dann, was er mit mir macht, wie er sich entwickelt und welche Tragweite er hat“, sagt Levit. Twitter hilft ihm dabei – erst recht während des Corona-Stillstands, in dem er manchmal „ertrinkt in Langeweile“ und zugleich vor Tatendrang kaum stillhalten kann. „Er ist sich selbst zu wenig und zu viel zugleich“, schreibt Zinnecker. Wer monatelang im Home-Office arbeitet und mit der Außenwelt vor allem über eine Videokamera und Social Media verbunden ist, kennt diese Zerrissenheit. „Es gibt keine richtige Art, damit umzugehen, nur sehr viele falsche“, resümiert der Autor. Doch Levits Biografie gibt eine Antwort: Man muss einfach immer wieder anfangen. Nicht aufgeben.

Igor Levit erhielt 2020 das Bundesverdienstkreuz für seine Hauskonzerte und für seinen Einsatz gegen Antisemitismus und andere Arten des Menschenhasses. Zwischen die verdienten Gratulationen mischten sich Kritiker, deren Worte entsetzen. Im Buch wird die unerträgliche Kritik von Helmut Mauró im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung erwähnt, welche hernach von vielen Leserinnen und Lesern als antisemitisch empfunden wurde. An der sich rasch entwickelnden Debatte beteiligten sich unter anderem auch Alice Weidel, die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, und etliche im Buch unerwähnte Kritiker wie Hartmut Welscher. Welscher polemisierte mit Blick auf Levits Twitter-Aktivitäten, die Auszeichnung verstärke die Marktlogik, wer am meisten sende, werde auch gehört. Er warf Levit unter der Überschrift Ein Meister der Selbstinszenierung im Deutschlandfunk „die permanente Kuration der eigenen Singularität“ vor.

Die Kritiken sind teilweise in der berechtigten Angst begründet, dass die kostenlosen Streams dem Konzertbetrieb das Geschäft entziehen und die direkten Interaktionen auf Twitter Interviews ersetzen könnten. Schließlich klagte Hartmut Welscher beispielsweise an anderer Stelle, dass „Musikjournalismus heißt, dass man sich fürs Prekariat entscheidet, weil da im Moment so wenig bezahlt wird, dass man eigentlich kaum davon leben kann.“ Zinnecker begrüßt hingegen in seinem Buch, jeder könne beim Streaming nun selbst entscheiden, ob ein Programm interessant ist oder nicht. Man braucht niemand aus dem Kulturbetrieb um Erlaubnis fragen. Wer will, hört zu. Was im Buch wenig Beachtung findet, ist die Beobachtung, dass das Online-Publikum hierfür nur teilweise bereit ist, auch Geld zu bezahlen – und die Lücke nicht dauerhaft mit staatlichen Hilfen geschlossen werden kann. Mit fortschreitender Dauer der Pandemie wird dieses Problem immer größer.

Für Igor Levit stand aber laut Florian Zinnecker in der Feuilleton-Debatte zu seiner Auszeichnung etwas völlig anderes im Vordergrund: Dass ein Kritiker „die Deutungshoheit über Igor an sich genommen“ hatte. Mauró habe ihm erklärt, wer er zu sein habe und, „dass ihm nicht zustehe, zu sein, wer er zu sein glaubt“. Kritiker wie Mauró, Welscher und andere werfen ihm Oberflächlichkeit und Inszenierung vor. Sicherlich ist der Ausnahmepianist Igor Levit auch ein Meister darin, die Klaviatur des Internets zu nutzen. Doch „ich spiele keine Rollen“, betont Levit im Gespräch und beteuert, er mache einfach sein Ding. So spielte er ein Konzert im Dannenröder Wald, direkt an der Schneise, die für den Autobahnbau geschlagen wurde. Er spielte Oh Danny boy, sein Beitrag zum #DanniBleibt-Protest, auf YouTube gepostet von Greenpeace. Politischer Protest, sicht- und hörbar, einfach und klar. Oder die Tortur der Vexations – „18 Töne, zwei Variationen aus jeweils 18 Harmonien, dies alles 840 Mal“ –, ein „Schmerzensschrei der Kunst“ während der Pandemie. Die Besonderheit seiner Aktionen und Tweets liegt wie die der Hauskonzerte in ihrer Einfachheit und ihrer schonungslosen Ehrlichkeit.

Hauskonzert ist ein Buch über einen großen Künstler, über Musik und ihre Rezeption, aber es ist noch viel mehr. Es ist ein Buch über den Zustand unserer Gesellschaft – kurz vor der Corona-Krise und in der unmittelbaren Gegenwart. Es lässt offen, wie Deutschland aus der Krise heraustreten wird, wenn Menschen wieder ohne Angst gemeinsam in einem Raum sitzen dürfen. Igor Levit twitterte Weihnachten 2021 eine Antwort in seinem typischen Stil, knapp, deutlich, auf den Punkt: „Ist schon ein sehr okayes Land, dieses Deutschland. Es lohnt sich, das Gute und Verbindende hier zu stärken und zu wahren und dafür zu streiten und zu kämpfen.“ Es geht weiter, nichts ist vorbei, wir sind noch hier.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

Titelbild

Igor Levit / Florian Zinnecker: Hauskonzert.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
299 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446269606

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