Kamerad Fühmann

(1963)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Im Kriegsgefangenenlager wurde er gefragt, ob er Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen sei. „Ich hob den Kopf und sagte laut: ,Ja, ich war in der SA!‘“[1] – Hiermit ist bereits auf den wohl wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Phänomens Franz Fühmann hingewiesen.

Er wurde 1922 in einer böhmischen Kleinstadt als Sohn eines Apothekers geboren. Aufgewachsen sei er – wird von ihm berichtet –·in einer Atmosphäre „von Kleibürgertum und Faschismus“. Als Gymnasialschüler bewunderte er Hitler. Er liebte, er vergötterte ihn. Stolz trug er die braune Uniform. Am 1. September 1939 meldete er sich spontan zur Wehrmacht. Aber erst später wurde er eingezogen. Er war lange und an vielen Fronten Soldat, in Rußland vor allem und in Griechenland. Den 9. Mai 1945 erlebte er in seinem heimatlichen Bezirk. Von einem einzigen Gedanken war er damals besessen: „Weiter, nur weiter, nur von den Russen weg!“ Es ist ihm nicht gelungen: „Ich war westwärts gelaufen, die Richtung hatte gestimmt, doch nun waren die Russen auch schon im Westen; der Weg in die Freiheit war zugekeilt!“[2]

Die nächsten vier Jahre verbrachte er in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern. Im Herbst 1947 wurde ihm ein Vorschlag gemacht: „Ich hatte in unserer Baracke im Waldlager immer die Kriegsgefangenenzeitung vorgelesen, eine Tätigkeit, die, was ich nicht wußte, in der Sowjetunion einem eigens dafür eingesetzten Politagitator zukam, und so hatte mich zu meiner Verblüffung der Politoffizier unseres Lagers eines Tages gefragt, ob ich gewillt sei, einen Lehrgang an einer Antifaschule mitzumachen.“[3] Er war, wenn auch ohne Enthusiasmus, bereit, die antifaschistische Schule zu besuchen. Damit hatte sich das Schicksal des Schriftstellers Fühman entschieden.

Einst sah er einen Sinn seines Lebens. Er glaubte an Ideale. Er hatte eine Aufgabe, die zu erfüllen war. 1945 war seine Welt zusammengebrochen. Dem enttäuschten und betrogenen, dem verbitterten und verzweifelten jungen Mann bot der Lehrgang der „Antifaschule“ etwas, worauf er nicht mehr zu hoffen wagte, wonach er sich aber im Grunde gesehnt haben mußte: neue Ideale. Mit gefühlvoll-dunklen, mystisch verbrämten Worten hatte man ihn einst verführt: mit Blut und Boden, Erbgut und Rasse, Volksgemeinschaft und Lebensraum, Führerprinzip und Herrenvolk. Hier indes wurde nicht geraunt und nicht beschworen, sondern deduziert und argumentiert. Das Vokabular, das er jetzt zu hören bekam, war sachlich, nüchtern und trocken. Solche Begriffe wie „Materialismus“ und „Klassenkampf“, „Produktionsmittel“ und „Mehrwert“, „Kapitalismus“ und „Diktatur des Proletariats“ ließen sich wissenschaftlich exakt definieren.

Die makellose Klarheit und Logik der Lehre, die hier dargelegt wurde, faszinierte den jungen Kriegsgefangenen. Übertreibt man, wenn man von einer Offenbarung spricht? „… und als ich dann die ersten Lektionen über politische Ökonomie gehört hatte, war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Hier war ja die Antwort auf all die Fragen, die mich immer bewegten …“[3] Auf einmal gab es keine Rätsel mehr, alle Phänomene standen in einem kausalen Zusammenhang, die Vergangenheit ließ sich erklären, die Zukunft voraussehen. Wie ein Ertrinkender nach einem ihm hingeworfenen Rettungsring greift, so klammerte sich Fühmann an den Marxismus. Später bekannte er, „… daß mir erst heim Studium des Marxismus die Stationen meines Lebens bewußt geworden waren und daß die Kriegsgefangenschaft für mich die Sinngebung meiner Existenz bedeutete.“[4]

Dank der neuen Heilslehre konnte er den einst in den Reihen des Nationalsozialismus begonnenen Kampf fortsetzen – unter anderen Vorzeichen, auf anderer Ebene und mit anderer Zielsetzung. Wieder sah er eine Aufgabe, die zu lösen war, aber größer und herrlicher aIs jede andere – denn die neue Heilslehre prophezeite und versprach die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Neuordnung·und Erlösung nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Menschheit. Der noch gestern die Uniform der SA·getragen, konnte heute das beglückende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer weltweiten Bewegung ahnen, welche die revolutionäre Romantik mit einem philosophischen System verband und den uralten Traum von der gerechten Gesellschaft zu verwirklichen im Begriff war. Natürlich: um ganz in den Genuß dieses Gefühls zu kommen, mußte Fühmann zunächst einmal dem Zwang der Kriegsgefangenschaft entrinnen. Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1949 schuf die Voraussetzungen hierzu, denn jetzt wurden alle diejenigen Gefangenen rasch entlassen, deren fortschrittliche Anschauungen eine tatkräftige Beteiligung am Bau des ersten deutschen Staates der Arbeiter und Bauern erhoffen ließen. Im Dezember 1949 kam Fühmann nach Deutschland.

Seine ersten Gedichte waren 1942 in der Lyrik-Reihe eines Hamburger Verlages erschienen. Nun wurden, bald nach seiner Rückkehr, seine neuen poetischen Versuche gedruckt – in der Monatsschrift Aufbau, dem damals repräsentativen literarischen Organ der DDR. Es folgten viele weitere Veröffentlichungen und 1953 die erste Sammlung: Die Nelke Nikos. In diesen Gedichten zeigte sich Fühmann als Todfeind des Nationalsozialismus, als Anhänger der Sowjetunion und Patriot der DDR, als Bewunderer des Marxismus und Sachwalter des Weltproletariats. Er lieferte eben jene Propagandastrophen, die von ihm, dem Absolventen·der „Antifaschule“, erwartet wurden. Aber ich glaube nicht, daß er sie nur deshalb verfaßt hatte, um der Gunst des Regimes teilhaftig·zu werden und sich die literarische Karriere zu erleichtern. Es waren ehrliche Verse, aus denen Trauer, Schuldbewußtsein und Klage sprachen. Fühmann schrieb mit dem Eifer des Neophyten – aber er wollte sich wirklich  bewähren. Er dichtete mit der Inbrunst des betrogenen Liebenden, der erlöst aufatmete, weil er für seine Gefühle wieder ein Objekt gefunden hatte – aber er liebte es wirklich.

Allerdings verdankte er der „Antifaschule“ zwar neue Gedanken, hingegen keine neue poetische Sprache. Daher drückte er seine Empfindungen und Ideen zunächst in der Sprache von gestern aus:

Nimm unsre Hände, Deutschland, Vaterland, nimm das
glühende Herz voll Liebe und Haß, vernimm die
Stimme unbändigen Willens: Ja wir
kommen zu schaffen, zu kämpfen, zu tragen dich
Deutschland, Land unsrer Liebe, durchs Reifen der Zeit.

Und wir bringen dir, heiliges, anderes Deutschland
unsere Leben als Quader zum Bau deiner Zukunft. 

In einem·Lied mit dem Titel Auftakt heißt es:

Rauschen die Blätter der Birken,
rauschen die Blätter im Buch.
In den gewaltigen Winden
rauscht unser Fahnentuch.

Und in einem Poem Aufbau-Sonntag:

Lieder singen vom Kampf und vom Sieg:
Wir baun das Deutschland von morgen!

Viele dieser Gedichte Fühmanns aus den frühen fünfziger Jahren zeugen von seinem gewiß aufrichtigen Wunsch, sich einzureihen und sich anzuschließen, von seiner abermaligen Bereitschaft zur Unterordnung und zur Gefolgschaft. Er ruft:

Formt jetzt vor uns die Züge
deutscher Erneuerung.

Das Gedicht Porträt eines Angehörigen der FDJ schließt er mit den Worten:

Wir begreifen es selbst nicht, wenn wir ein Planjahr des Lebens
schon in Wochen vollziehn – doch warum auch begreifen –
wir tun es!

Das alles, „die Stimme des unbändigen Willens“, das in „gewaltigen Winden“ rauschende Fahnentuch, die Lieder „vom Kampf und vom Sieg“, die „Züge deutscher Erneuerung“ und schließlich die rührende Versicherung, es sei überflüssig, zu begreifen, was man tut – das alles ist, schlicht gesagt, unverfälschte NS-Lyrik aus der Feder eines Mannes, der mit dem Nationalsozialismus nichts mehr zu tun haben wollte und ihn – kein Zweifel kann hier bestehen -– zutiefst haßte. Man hatte ihn in der „Antifaschule“ nur „umfunktioniert“: Daher schrieb er HJ-Gedichte mit FDJ-Vorzeichen.

Fühmann vermochte diese Ausgangspositionen seines Dichtens in der DDR zu überwinden. Er hat mit der Zeit in der Lyrik wie in der Prosa einen eigenen Ton gefunden, er gehört mit Recht zu den führenden Schriftstellern der dortigen Welt. Unverändert blieb jedoch das gläubige Verhältnis zur DDR und zum Kommunismus, die disziplinierte Unterordnung. Er befolgt alle Wünsche und Anweisungen seiner Auftraggeber, und seine Arbeiten lassen so gut wie nie darauf schließen, daß er es nur widerwillig tut. Wie einst der begeisterte Rückkehrer aus der Kriegsgefangenschaft ist auch der reife und mehrfach preisgekrönte Dichter folgsam. Er hört nicht auf; der Propaganda der DDR zu dienen.

Vergeblich wird man in seinen Arbeiten die leisesten Anzeichen der Unzufriedenheit oder gar der Revolte finden. Die Skepsis ist seine Sache nicht. Als sich im „Tauwetter“-Jahr 1956 die literarische Opposition in der DDR regte, als eine Anzahl von Schriftstellern zumal der jüngeren Generation, sich entschieden gegen die dogmatische Kulturpolitik wandte, veröffentlichte Fühmann in der Zeitschrift Aufbau das Gedicht Narrenfreiheit …, in dem er meinte:

Heut sind da sehr unabhäng‘ge
Geister im Narrengewand,
die streben heraus aus der Enge
von Alltag und Vaterland,
hoch am Himmel, im Samte der Wolke
sehn sie der Freiheit Heim,
dort, ferne von ihrem Volke
verschwenden sie Rhythmus und Reim
den Weltgeist zu offenbaren in einsamster Sinnesbrunst;
sie halten sich für die Nachfahren
der Narren, wenn sie für ihre Kunst
laut schrein nach der Freiheit, die ihnen
erlaubt, in Phantasmagorien
zu verleugnen das Denken, das Dienen,
der fordernden Zeit zu entfliehn.

Als Ende 1956 Wolfgang Harich und seine Freunde verhaftet wurden, war Fühmann mit einem Poem Die Demagogen zur Stelle, in dem er verkündete:


und mit Geläute kommen
Maskierte, ein kleiner Zug,
mit Sprüchen, schönen, frommen,

Das ist der Demagogen
Schar, die sich vorm Volke verneigt.

Als sich alle prominenten Autoren der DDR weigerten, die Verhältnisse in der DDR schönfärberisch darzustellen, als Anna Seghers es vorzog, eine Erzählung aus der Zeit der Französischen Revolution zu schreiben (Das Licht auf dem Galgen, 1961), als Willi Bredel sich mit der Vergangenheit seiner Heimatstadt Hamburg beschäftigte (Unter Türmen und Masten, 1960), als Bodo Uhse zum Schauplatz eines neuen Buches das ferne Mexiko wählte (Sonntagsträumerei in der Alameda, 1961 ), als Eduard Claudius es für angebracht hielt, mit Märchen und Erzählungen aus Syrien, Vietnam und Laos aufzuwarten (Das Mädchen ,Sanfte Wolke‘, 1962), als Stephan Hermlin vollkommen verstummte – da verfaßte Fühmann eine große Reportage über eine Schiffswerft in Rostock (Kabelkran und Blauer Peter, 1961) und schilderte im selben Jahr in einem zweiten Buch (Spuk, 1961) den heroischen Alltag der Volkspolizei in der DDR. Seine Ehre scheint wiederum Treue zu heißen.

Aber dieser Franz Fühmann, der vertrauensvoll seinen jeweiligen Führern zu folgen pflegt, hat Talent. Es wird in seiner Lyrik deutlich, in der man neben zunächst primitiven und später verkrampften Propagandastrophen auch Verse finden kann, die aufhorchen lassen. Sowohl der erwähnte Band Die Nelke Nikos als auch die spätere Sammlung Aber die Schöpfung soll dauern (1957) enthalten einige originelle Balladen, in denen Motive aus alten deutschen Märchen und Sagen auffallen. Fühmann ist bestrebt, diese Motive rationalistisch zu deuten und durch bisweilen überraschende Assoziationen in die Gegenwart einzubeziehen.

Die umfangreiche Dichtung Die Fahrt nach Stalingrad (1953), ein meist in freien Rhythmen geschriebener poetischer Bericht, schildert drei Begegnungen des Ich-Erzählers mit der Stadt Stalingrad: Er sieht sie zuerst als Soldat, dann als Kriegs-gefangener und schließlich als offizieller Gast. Drei Etappen einer Entwicklung sollen veranschaulicht werden. Hier finden sich außer pathetischen Ergüssen und unerträglichen Banalitäten, außer versifizierten Leitartikeln und pseudopoetischen Reportagen auch einige kurze Passagen, die immerhin als Versuche einer Auseinandersetzung des Autors mit seiner Vergangenheit bemerkenswert sind. Denn das ist Fühmanns großes Thema: das Erlebnis des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, die schmerzvolle Desillusionierung einer Generation.

In der stalinistischen Zeit wurde jedoch ein DDR-Schriftsteller, der sich diesem Themenkreis zuwandte, fast immer verdächtigt, er wolle sich der Gegenwartsproblematik entziehen und in die weniger heikle Vergangenheit ausweichen. So verzichtete Fühmann auf die – wie sich später herausstellte – ihn bedrängende Thematik. Erst als sich nach Stalins Tod eine Entspannung im Kulturleben der DDR spürbar machte, schrieb er die erfolgreiche Novelle Kameraden (1955), der die kleine Prosasammlung Stürzende Schatten (1959) folgte.

Wie die Lyrik, in der oft das Rhapsodische eine wichtige Rolle spielt, zeigt auch – in noch stärkerem Maße – Fühmanns Prosa, daß bei ihm stets der erzählerische Impuls dominiert. Zu welchem Thema er auch greifen und was er auch schreiben mag – Reportagen oder Erinnerungen, Berichte oder Skizzen –: alles verwandelt sich sofort in eine Geschichte. Er hat einen ausgeprägten Sinn für die Erfordernisse und für die Möglichkeiten der novellistischen Form. Insbesondere ist es ihm gegeben, Situationen und Fabeln zu erfinden, die schnell die wesentlichen Charakterzüge seiner Gestalten erkennbar machen und die behandelte Problematik wie von selbst ans Tageslicht treiben. Im Mittelpunkt stehen meist junge deutsche Soldaten, deren Mentalität das „Dritte Reich“ geformt hat und deren Konflikte in der Regel aus der Konfrontation mit nationalsozialistischen Verbrechen erwachsen.

Schon die Novelle Kameraden, deren Handlung 1941 an der deutsch-sowjetischen Grenze spielt, beweist, daß Fühmann konsequent und geschickt auf dramatische Pointen zusteuert und mit Überraschungseffekten aufwarten kann, die hier allerdings – zum Unterschied von einigen späteren Geschichten – mitunter nicht wählerisch sind. Psychologische Vereinfachungen und sprachliche Klischees, die vor allem in den Dialogen und im schwachen Mittelteil der Kameraden stören, hat er in den Stürzenden Schatten weitgehend überwunden.

Das Kernstück dieser Sammlung, Das Gottesgericht, ist, wie Kameraden, eine strenge, kunstvoll komponierte Novelle, der man die klassischen Vorbilder anmerkt. Erzählt wird von vier deutschen Soldaten, die 1943 in Griechenland nach Partisanen fahnden, jedoch nur den biederen griechischen Koch ihrer Einheit finden, den sie schließlich erschießen. Ihre Höhepunkte erreicht die Novelle in den inneren Monologen der beteiligten Personen – Fühmann bietet hier viele psychologische Details und Beobachtungen und bedient sich oft der Technik der Zeitlupe, die es ihm ermöglicht, auch winzige Regungen und Vorgänge zu erfassen.

Daß dieser Erzähler über eine beachtliche und mitunter souverän angewandte Ausdrucksskala verfügt und daß ihm die konventionellen realistischen Mittel nicht mehr genügen, wird in dem Band Stürzende Schatten unter anderem durch eine apokalyptische Vision mit dem Titel Traum 1958 dokumentiert. Auf dieses Prosastück bezieht sich eine recht ungewöhnliche, am Ende des Buches gedruckte Anmerkung des Autors: „Im Traum 1958 versuchte ich die Bildlogik des Traums als Gestaltungsmittel auszunutzen. Hinter scheinbar phantastisch-sinnlosen Bildern steckt, nimmt man die Bilder wörtlich, die furchtbare Realität. Wenn unser Held beispielsweise sieht, wie der Mann im Ledermantel und die Generäle die Bunkertür gewaltig hinter sich zuschlagen, dann drängt sich ihm das einmal vernommene und dann lange vergessene Nazi-Wort: ,Wir werden einmal die Tür hinter uns zuschlagen, daß die Erde aus den Angeln fällt‘ ins Erinnern. Wenn der Hinkende die Brust aufklappt und ein stillstehendes Herz zeigt, dann erinnert sich unser Held an das von ihm vergessene Wort eines Hinkenden: ,Mir blieb das Herz stillstehen, als ich die Wunderwaffen des Führers sah!‘ Jedes der Traumbilder ist auf diese Art zu verstehen und auch verständlich.“

Die schulmeisterlichen Erläuterungen sind ganz gewiß nicht nur an die Leser adressiert, sondern vor allem an diejenigen, vor denen Fühmann sich offenbar rechtfertigen muß, weil er es gewagt hat, sich literarischer Mittel zu bedienen, die mit der landesüblichen Definition des Begriffs „Realismus“ nicht ganz übereinstimmen. Übrigens vermochte der Selbstkommentar das Buch nicht vor den Angriffen der offiziellen Kritik zu schützen. Die·Monatsschrift Neue Deutsche Literatur bezeichnete Fühmanns novellistische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Kriegserlebnis als ungenügend. In schönem Deutsch wurde der Autor belehrt:

„Es fehlt den Erzählungen Fühmanns etwas für den Leser der Gegenwart schlechthin Unentbehrliches: Die Orientierung im Jetzt und Hier, die Anleitung zum Handeln, durch das allein die faschistische Vergangenheit wirklich überwunden werden könnte. Dazu aber bedurfte es eben mehr als nur der bloßen Entlarvung: Nur durch die Gestaltung ihrer tätigen Überwindung in unserer sozialistischen Gegenwart wird die faschistische Vergangenheit für den Leser als überwindbar erkannt, aber auch – angesichts der Situation in Westdeutschland – als noch zu überwinden bewußt.“[5] Besorgt meint die Rezensentin im Fazit, „das den Autor offenbar immer wieder bedrängende Thema der Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit verstelle ihm noch zu sehr den Blick, als daß er ihre machtvolle tätige Überwindung schon zu gestalten vermöchte. Vielleicht jedoch erweist sich diese Besorgnis schon durch Fühmanns nächstes Buch als unbegründet.“

Fühmann begriff die unzarte Anspielung auf seine politische Biographie und machte sich rasch ans Werk, um zu zeigen, daß er sich nicht auf die bloße Entlarvung beschränken wolle, vielmehr auch die Orientierung im Jetzt und Hier sowie die Anleitung zum Handeln und die Gestaltung der „machtvollen tätigen Überwindung“ der faschistischen Vergangenheit in der sozialistischen Gegenwart leisten könne. Es entstand jenes vorher erwähnte Buch über eine Rostocker Werft, eine Reportage, die sich immerhin von vielen ähnlichen Auftragsarbeiten, die in der DDR geschrieben werden, vorteilhaft unterscheidet: Während derartige Propagandatexte anderer Autoren mit künstlerischer Prosa keinerlei Berührungspunkte haben, vermag Fühmann seinem spröden Gegenstand einigen Reiz abzugewinnen, kleine Stimmungsbilder einzubauen und wenigstens in einzelnen Abschnitten die erwünschte Synthese von Literatur und Propaganda zu verwirklichen. Ja, Fühmann gelingt es sogar, den Alltag eines – natürlich vorbildlichen – Leutnants der Volkspolizei zwar schönfärberisch, doch lesbar darzustellen. Unter anderem läßt er den Leutnant ein Massengrab besichtigen, in dem 1945 halbwüchsige Volkssturm-Soldaten bestattet wurden. Die erschütternde Passage bestätigt wiederum, daß dieser Schriftsteller sich erst entfalten kann, wenn er auf die Vergangenheit zu sprechen kommt.

Nach dem er mit den beiden Gegenwartsbüchern Kabelkran und Blauer Peter und Spuk den von der Kulturpolitik geforderten Tribut entrichtet hatte, glaubte Fühmann, zu dem Thema seines Lebens zurückkehren zu dürfen. Das Prosabuch Das Judenauto (1962) enthält eine Reihe von autobiographischen Episoden aus den dreißiger Jahren und der Zeit des Krieges. Die Inhaltsangabe ließ allerdings Schlimmes erwarten, da Fühmann jeden Abschnitt seines Lebens mit einem historischen Datum in Zusammenhang bringt, auf das er immer im Untertitel hinweist – so etwa: „1. September 1939, Ausbruch des Zweiten Weltkrieges“, oder: „22. Juni 1941, Überfall auf die Sowjetunion“, oder: „20. Juni 1944, Attentat auf Hitler“. Man mußte befürchten, Fühmann wolle hier lediglich die historisch-gesellschaftlichen Prozesse im Sinne des sozialistischen Realismus mit epischen Mitteln illustrieren, also den politischen Anschauungsunterricht nur durch individuelle Erlebnisse verdeutlichen.

Fühmanns Talent sprengt jedoch die starre Konzeption; die einzelnen Erinnerungen und Berichte gehen unmerklich in Geschichten über; die besten zeichnen sich durch Bildkraft und Beredsamkeit aus. Vortrefflich etwa die Schilderung des Tages, an dem die Wehrmacht, im Oktober 1938, ins Sudetenland kommt, meisterhaft auch das den Antisemitismus behandelnde Titelstück, eine in ihrer Art vollkommene Kurzgeschichte, die keinerlei Vergleiche in der deutschen Gegenwartsliteratur zu scheuen braucht.

Diesmal hat Fühmann auch versucht, der Rüge vorzubeugen, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verstelle ihm den Blick auf deren „machtvolle tätige Überwindung“. Daher schließt das Buch mit Episoden aus dem sowjetischen Kriegsgefangenenlager und mit den ersten Erlebnissen des Autors nach seiner Rückkehr. Aber wieder war die Kritik in der DDR nicht zufrieden. So schrieb Eduard Zak in der Wochenzeitung Sonntag: „Gegenüber der kritischen Wahrheit, die, in poetischer Verkürzung zwar, aber explizit den Hauptteil des Buches ausmacht, sind die beiden Schlußkapitel mit dem ganzen Gewicht der Wandlung befrachtet … Die wenigen Seiten können doch kaum das Gegengewicht gegen das Hauptanliegen des Werkes halten. Das Resümee erreicht nicht die poetische Dichte der kritischen Kapitel.“[6] Das ist richtig: der oberflächliche Schluß kann mit den vorangegangenen Kapiteln nicht verglichen werden. Der Kritiker des Sonntag hütet sich, nach den Gründen der plötzlichen Niveausenkung zu forschen.

1950 schrieb der Heimkehrer Fühmann in dem Gedicht Von der Verantwortung der Dichter:

Aber das Leben ist teuer,
wir ersetzen es nie.
Klar und ungeheuer
zwingt uns die Schuld in die Knie.

Anmerkungen

[1] Franz Fühmann: Das Judenauto – 14 Tage aus zwei Jahrzehnten, Berlin 1962, S. 152.

[2] ebenda, S. 138.

[3] ebenda, S. 174.

[4] ebenda, S. 180.

[5] Rosemarie Heise: Die Bürde der Vergangenheit, in: ,Neue deutsche Literatur‘, Heft 8 (1959), S. 132 ff.

[6] ,Sonntag‘ vom 17. Februar 1963.

Hinweise der Redaktion

Der Essay ist unter dem hier übernommenen Titel zuerst erschienen in Marcel Reich-Ranicki: Deutsche Literatur in West und Ost. Prosa seit 1945. München: Piper 1963. S. 422-433 (Taschenbuch-Ausgabe: Hamburg: Rowohlt 1970). – Neuausgabe ohne den Untertitel: Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1983. Hier S. 387-398 (Taschenbuch-Ausgabe: München: dtv 1985; 3., vom Autor neu durchgesehene Auflage 2002).

Die erneute Veröffentlichung in literaturkritik.de erfolgt mit Gemehmigung von Reich-Ranickis Erbin Carla Ranicki und seinem Nachlassverwalter hier sowie auch mit erweiterten Hinweisen im Rahmen der gesammelten Artikel von Marcel Reich-Ranicki über Franz Fühmann, die als Sonderausgabe von literaturkritik.de zum 100. Geburtstag von Fühmann erscheinen.

T.A.