Neues zu Zeiterfahrung, Zeitnutzung und Zeitwahrnehmung in der Kinder- und Jugendliteratur

Ein Sammelband von Sebastian Bernhardt und Johanna Tönsing untersucht die Darstellung der Zeit in der KJL und Möglichkeiten des Unterrichtseinsatzes

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit-Forschung hat sich in den vergangenen Jahren in den Kultur- und Medienwissenschaften zu einem bedeutsamen Forschungsfeld entwickelt, nicht zuletzt, weil Phänomene wie Beschleunigung, Flexibilisierung, Entgrenzung und Virtualisierung nachhaltige Auswirkungen auf die vorherrschende Zeitkultur haben bzw. individuelle Lebensverläufe und Lebensrhythmen beeinflussen. Wissenschaftliche Großtagungen wie der Deutsche Germanistentag 2019 und Projekte wie das 2013 eingerichtete Schwerpunktprogramm 1688 der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem Titel „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“ belegen, dass dem Thema große Relevanz beigemessen wird. Sicherlich auch in der digitalen Welt hat sich die Art und Weise, wie Zeit erlebt und gelebt wird, gewandelt, mit der Folge, dass neue zeitliche Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata entstanden sind. Trotz dieser Relevanz sind zeitbezogene Fragestellungen in der Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik nach wie vor unterrepräsentiert, woran der von Sebastian Bernhardt (Deutschdidaktiker an der PH Schwäbisch Gmünd) und Johanna Tönsing (Grundschuldidaktikerin an der Uni Paderborn) herausgegebene Sammelband ansetzt.

Für die Kinder- und Jugendliteratur, so die beiden Herausgeber in der facettenreichen Einleitung, müsse die „Frage nach der konkreten Ausgestaltung, Nutzung und Wahrnehmung von Zeit“ intensiver betrachtet und beforscht werden, wozu der Sammelband „grundlegende Überlegungen“ vorstellen und didaktische Implikationen aufzeigen möchte. Das Sprechen über Zeit in der KJL könne aus wissenschaftlicher Perspektive besonders formal-semiotisch, semantisierend, diskursivierend und thematisch erfolgen. In literaturdidaktischer Hinsicht richtet sich das Interesse vorrangig auf den Erwerb und den Ausbau von Analysekompetenzen für genaue Textwahrnehmungen und die Reflexion der subjektiven Involviertheit, ferner „die Rekonstruktion semantischer Ordnungen in Texten“. Des Weiteren begünstige die Beschäftigung mit der Kategorie ‚Zeit‘ die Entwicklung eines Bewusstseins „in Bezug auf zeitgenössische Zeitnutzungserwartungen“ bei Schülerinnen und Schülern. Dies sei nicht zuletzt deshalb relevant, weil die kindliche Aneignung erwachsener Zeitnutzungsmodelle durchaus als nicht unproblematisch zu bewerten sei aus einer humanistischen Perspektive: Konflikte zwischen Effizienz-Denken und einem Leben „in den Tag hinein“ seien unvermeidbar.

Dieser Mehrfachadressierung entsprechend, ist der Sammelband in zwei Blöcke gegliedert: Die insgesamt vierzehn Beiträge, vorwiegend von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern verfasst, decken ein breites thematisches Spektrum ab. In der Mehrzahl folgen sie einem literaturdidaktischen Forschungsinteresse (erster Block), der kleinere Teil ist dem Diskurs der Kinder- und Jugendliteraturforschung zugeordnet (zweiter Block) und analysiert Phänomene wie Zeitgestaltung, Zeitnutzung bzw. Zeitwahrnehmung mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen.

Acht Aufsätze fokussieren mit unterschiedlichen literarischen Texten und für unterschiedliche Altersstufen (von der Primarstufe bis zum DaF-Unterricht) Annäherungen an die Zeitnutzung in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Am Beispiel ausgewählter literarischer Texte finden sich Untersuchungen zur Ausgestaltung von Zeit und von darauf basierenden unterrichtlichen Vermittlungsperspektiven. Klassische einzeltextbezogene Analysen zu Meike Haberstocks Kinderbuch Anton hat Zeit – aber keine Ahnung, warum! (2015), zu Stephen und Lucy Hawkings Sachbuchromantrilogie Der geheime Schlüssel zum Universum (2007-2013), zu Tamara Bachs Jugendroman Jetzt ist hier (2007) sowie zu Michael Endes Momo (1973) stehen neben Medienanalysen zu Bilderbüchern, einer Graphic Novel, zu dem Adoleszenz-Film Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot von Philip Gröning sowie der TV-Serie Dark.

Besonders innovativ ist dabei sicherlich die Berücksichtigung von Barbara Yelins und Thomas von Steinaeckers Graphic Novel Der Sommer ihres Lebens (2017), der ein aus literaturdidaktischer Sicht wenig beachtetes Medium im Bereich der Zeitdarstellung betrachtet. Die beiden an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd arbeitenden Deutschdidaktikerinnen Eva-Maria Dichtl und Henriette Hoppe berücksichtigen in ihrem Beitrag explizit die Besonderheiten des Mediums Graphic Novel und nutzen die entsprechende Ausgestaltung zeitlicher Ordnung und narrativer Ungleichzeitigkeiten für ambitionierte Unterrichtsvorschläge. Auch die filmdidaktischen Überlegungen von Florian Wobser zu Grönings dreistündigem Film geben vielfältige Impulse für einen mediensensiblen Unterricht, der gerade für die Sekundarstufe I methodisch hilfreich sein könnte. Die Arbeit mit Filmauszügen und die detaillierte Betrachtung zweier Filmszenen liefern Hinweise für exemplarische Lernarrangements, „um einerseits die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit der SchülerInnen durch ein Close Reading des Filmzitats unter Einbezug aller medialen Besonderheiten des Films zu fördern und andererseits anhand der ausgewählten Passagen das Konzept der Heterochronie und seine Ausgestaltung im Medium Film zu beleuchten“.

Die sechs Beiträge im zweiten Teil des Bandes stehen unter einer literaturwissenschaftlichen Prämisse: Es geht um die Ausgestaltung von Zeit als Thema, Motiv und Phänomen, nicht nur in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur. Es finden sich fundiert entfaltete Beiträge zur Zeitsemantisierung in Kirsten Boies Roman Ringel Rangel Rosen (2010), zur Zeitgestaltung in der Mädchenbuchserie Pucki aus den 1920er bis 1930er Jahren sowie damit vergleichend in Cornelia Funkes Kinderbuchserie Die Wilden Hühner (ab 1993), ferner eine Relektüre von Michael Endes Die unendliche Geschichte (1979) und Momo (1973), zu Cornelia Travniceks Roman Chucks (2014), zu Tonke Dragts Die Türme des Februar (1973) und schließlich zum Roman Erebos (2010) von Ursula Poznanski.

Die Zusammenstellung und Ausrichtung der einzelnen Beiträge des Sammelbandes zeichnen sich durch eine gelungene Mischung aus theoretisch-konzeptioneller Zeitbetrachtung, didaktischer Konzeption und Methodisierung sowie phänomenologischer Gegenstandsausschärfung aus. Es wird deutlich, welche vielfältigen Rollen und Funktionen die Zeit in der Kinder- und Jugendliteratur wahrnehmen kann und wie facettenreich die Figuren, Reflexionen und Lebensmodelle ausgestaltet sein können, wenn es um Zeitnutzung einerseits und Zeitverschwendung andererseits geht. Besonderes Markenzeichen des Sammelbandes ist die Berücksichtigung von Graphic Novel und von Bilderbüchern, wodurch der Blick auf die Zeitdarstellung in Bild-Text-Medien gerichtet wird und Impulse für zukünftige Forschungsanstrengungen an der Schnittstelle von Kinder- und Jugendliteraturforschung einerseits sowie Literatur- und Mediendidaktik andererseits gegeben werden.

Titelbild

Sebastian Bernhardt / Johanna Tönsing (Hg.): Zeitnutzung in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Perspektiven.
Frank & Timme Verlag, Berlin 2021.
348 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783732906734

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