Das Gedächtnis des Leidens

In ihrem neuen Roman „Das Flüstern der Feigenbäume“ erzählt Elif Shafak vom Zypern-Konflikt

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Defne liebt Kostas. Kostas liebt Defne. Sie ist Türkin, er Grieche; am Vorabend des Bürgerkriegs der 70er Jahre auf Zypern. Die Grundzutaten für – noch eine – Romeo und Julia Geschichte? Elif Shafak konzentriert sich in ihrem jüngsten Roman auf eine andere Konfliktlinie. Denn wenn auch hier die Liebe den Tod überwindet, so kann sie doch nicht alle Wunden heilen. So wie Shafak sich schon dem Genozid an den Armeniern in dem Generationenroman Der Bastard von Istanbul (2006) genähert hat, so beginnt sie auch hier mit den Nachgeborenen: Ada Kazantzakis, die in London lebende Tochter von Defne und Kostas, beginnt im Geschichtsunterricht, ohne wirklichen Anlass und ohne es selbst zu verstehen, zu schreien. Sie kann gar nicht mehr aufhören, schreit sich heiser und spürt die bohrenden Blicke der Mitschüler: eine Irre!

In der Romanwelt von Elif Shafak löst dieser unkontrollierte Schrei ein breites Echo in den sozialen Medien aus: überall auf der Welt stellen sich Jugendliche auf und schreien einen Schrei unverstandener und vielleicht auch unverständlicher Wut. Vielleicht ist es eine der Schwächen des Romans, dieser Wut nicht intensiv genug nachzuspüren, denn möglicherweise führt sie ins Herz der Verunsicherung, die wir derzeit erleben. Aber vielleicht ist das auch nur eine der vielen Geschichten, die ein anderes Mal erzählt werden müssen, in diesem Roman, der so voll verschiedenster Schicksale ist. Etwa das Schicksal des Feigenbaums, der für die Familie Kazantzakis ein echtes Stück Zypern auf die kalte Insel bringt, auf der sie schließlich leben. Wie auch der Bastard von Istanbul ist auch Das Flüstern der Feigenbäume multiperspektivisch angelegt, nur dass hier mit dem Feigenbaum ein höchst ungewöhnlicher Erzähler zu Wort kommt. Als Baum, der in seiner süßen Frucht Paradies und Sündenfall verkörpert, bietet er den idealen Rahmen für den Handlungsverlauf.

In Zypern steht er mitten in einem beliebten Restaurant, das der geheime Zufluchtsort der jungen Liebenden ist. So wird er Zeuge von Glück, Verzweiflung, Kämpfen und beinahe Opfer eines verheerenden Feuers. Anders als in der Vorlage von Shakespeare, werden die Liebenden getrennt. Kostas wird zu einem Verwandten nach England geschickt, Defne erlebt die Schrecken des Bürgerkriegs hautnah – eine traumatische Verletzung, die sie nie überwinden wird. Nach Jahrzehnten begegnen sie sich auf Zypern wieder – er ist leidenschaftlicher Biologe geworden und sie arbeitet als Archäologin für das CMP, ein Komitee, das auf Zypern nach immer noch vermissten Personen sucht. Eine Suche, die nicht zuletzt dadurch angetrieben wird, dass die Wirte des Restaurants, in dem sie früher Zuflucht gefunden hatten, ebenfalls spurlos verschwunden sind. Auch sie hat eine verbotene Liebe geeint.

Das echte Leben erzählt seine Geschichte in Fragmenten, erklärt der Feigenbaum. Und so erfährt die Leserin über ein engmaschiges Netz verknüpfter Geschichten nicht nur von dem Leid der menschlichen Bewohner der Insel, das bis in unsere Tage reicht. In teilweise störend dozierendem Ton berichtet besonders der Feigenbaum auch von dem Schicksal der Singvögel, von wandernden Schmetterlingen und dem Pilzgeflecht der Bäume, mit dem sie Informationen aufbauen und ein gemeinsames Gedächtnis teilen können. So können sich die Bäume auch auf belastende Umweltbedingungen anpassen: „Diese Vorgänge beruhen auf einem gewissermaßen transgenerationalen Gedächtnis. Letztlich erinnern wir uns aus den gleichen Gründen, aus denen wir gern vergessen würden – um in einer Welt zu überleben, die uns weder versteht noch wertschätzt.“ Diese starke Verflechtung von menschlichem, tierischem und pflanzlichem Leben ist einerseits eine Stärke des Romans und bietet viele ungewohnte Perspektiven – andererseits wirkt Shafak hier oft idealisierend, als wären die Tiere und Pflanzen die besseren Menschen.

Dass jeder menschliche Konflikt immer auch Flora und Fauna bedroht und integriert, wird ebenso deutlich, wie die oftmals unfassbare Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Lebens und die zahllosen Wanderbewegungen von Tier und Mensch – fast immer sind sie durch Not oder Leid motiviert.

Derzeit erreichen täglich tausende Flüchtlinge aus der Ukraine Europa und auch Deutschland. Auch hier verläuft eine Konfliktlinie mitten durch ein Land, das geteilt werden soll. Auch dieser Konflikt schwelt schon lange. Elif Shafak zeigt in ihrem Roman scheiternde Formen des Miteinander in Zeiten von Krieg und Leid. Auch wenn ihr Roman den Kitsch nicht immer ganz vermeidet, bleibt die zentrale Einsicht, dass es immer viele Möglichkeiten gibt, eine Geschichte zu erzählen, und dass einseitiger Nationalismus, religiöser Fundamentalismus und binäre Logik aus Freund und Feind nie die Lösung sind, sondern immer die Ursache einer langen, traumatischen Geschichte des Leids. Auf faszinierende Weise gelingt es ihr dabei, die Erinnerung einer Familie mit den Geschichten einer Insel zu verknüpfen und eine rein anthropologische Perspektive zu verlassen. Die Gefährdung des Friedens, aber auch des Lebens ganz allgemein, kommen aus dem Inneren unserer Kulturen – jedoch ebenso die Fähigkeit zum Durchhalten, zum Weitermachen, zur Solidarität und zur Liebe.

Dass Shafak erzählerisch dabei keine neuen Wege mehr findet, sondern auch in ihren neuen Romanen mit multiperspektivischer Anlage arbeitet und sprachlich im Mainstream bleibt, sieht man dieser virtuosen Erzählerin immer wieder gern nach. Insbesondere, da es ihr mit der Integration einer pflanzlichen Erzählstimme gelingt, menschliches, pflanzliches und tierisches Erinnern zu verschränken, Wechselwirkungen und Ähnlichkeiten zwischen dem mannigfaltigen Leben auf unserem Planeten darzustellen und damit eine transhumane Perspektive einzunehmen, die in der Literatur noch selten substantiell gelingt. Sie erzählt nicht die Geschichte von Nationen, sondern von Lebensräumen, die umfassend, gerecht und ethisch verantwortungsbewusst teilen zu lernen die historische Aufgabe unserer Generation ist.

Titelbild

Elif Shafak: Das Flüstern der Feigenbäume.
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
448 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958637

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