Tabus, Zensursysteme, Moral und Gewalt
Ein Gespräch mit dem Mainzer Film- und Kulturwissenschaftler Marcus Stiglegger
Von Sascha Seiler

Prof. Dr. Marcus Stiglegger ist ein Experte zum Thema kulturelle und gesellschaftliche Tabus. Wir sprachen mit ihm über den Ursprung gesellschaftlicher Tabus, die starken kulturbedingten Unterschiede in Bezug auf den Prozess der Tabuisierung sowie den Umgang mit Tabus in Film und Literatur.
literaturkritik.de: Wie würden Sie den Begriff des Tabus definieren?
Marcus Stiglegger: Das Tabu ist zunächst einmal ein Verbot. Tabus können, da sie gesellschaftlich definiert sind, sehr unterschiedlich sein, je nachdem in welcher Kultur man sich befindet. Deshalb hat das Tabu etwas von einem willkürlichen Verbot, es ist nicht immer rational nachvollziehbar. Und wenn man sich in einer Gesellschaft befindet, die man nicht gut kennt, kann es sein, dass man auch unbewusst Tabus bricht, indem man die Regeln und somit auch die Tabus nicht kennt. In dem Sinn ist das Tabu ein gesellschaftlich definiertes Verbot, das nicht immer unbedingt rational nachvollziehbar ist.
literaturkritik.de: Wie gründen sich Ihrer Meinung nach Tabus in der Kulturgeschichte?
Stiglegger: Jede Kultur hat ja quasi Ursprungsmythen, von denen sie sich herleitet und damit verbundene Rituale und Ideen des Heiligen, des Unantastbaren. Dieses Heilige ist oft verbunden mit Meidungsgeboten. In Indien z.B. gelten Kühe als heilig, somit ist es ein Tabu, eine Kuh zu töten. Das ist ein Verbot, welches in unserer Kultur völlig undenkbar ist, da wir ja eine ganze Fleischindustrie auf dem Töten von Rindern aufgebaut haben. Aus den Ursprungsmythologien der indischen Kultur heraus ist zwar erklärbar, warum Rinder einen heiligen Status besitzen, und deshalb unantastbar sind. Gleichzeitig zeigt dies die Willkür dessen. Manche Tabus, z.B. das Inzesttabu, tauchen in unterschiedlichsten Kulturen auf, sie haben etwas Universales, dies wird jedoch unterschiedlich begründet. Manchmal biologistisch, also mit dem Vermeiden von Erbschäden, aber auch durch eine Gesellschafts- und Familienstruktur, die traditionell vorgegeben ist. Bestimmte Konstellationen sind erwünscht, während andere Konstellationen innerhalb der Verwandtschaft als Verbindungen undenkbar sind. Das ist etwas, was sich auch auf diese Tabu-Strukturen auswirkt.
literaturkritik.de: Wie kann man erklären, dass gewisse Tabus im Laufe der Jahrhunderte verhandelbar wurden, während andere fest zementiert sind?
Stiglegger: In traditionellen Gesellschaften und Kulturen halten sich Tabus länger als in säkularen Kulturen, die sich entfernen von ihren religiösen, mythischen Wurzeln und damit neue Systeme an die Stelle der alten Orientierungssysteme treten lassen. Wenn wir uns in der westlichen Welt umsehen, sind das völlig andere Tabus, mit denen wir mittlerweile konfrontiert sind, als in den traditionellen Gesellschaften; z.B. in der katholischen Kirche gab – beziehungsweise gibt – es ein Scheidungstabu. Oder in der islamischen Welt, in der die Abbildung oder gar das Lästern des Propheten als ein zum Teil tödlich zu ahndendes Tabu gilt, was ja bekanntlich auch zu den Anschlägen auf Charlie Hebdo geführt hat. Wir haben auch in der gegenwärtigen Welt sehr unterschiedliche Bezugssysteme, und je traditioneller diese Systeme sind, desto gewichtiger und langlebiger sind die ursprünglichen Tabu-Strukturen. Das heißt nicht, dass wir in unserer Gesellschaft keine Tabus haben, sie werden nur anders definiert und sind zum Teil ganz anders beschaffen.
literaturkritik.de: In Kunstformen wie dem Kino, wahrscheinlich nochmal mehr als in der Literatur, gibt es traditionelle Tabus, die lange Zeit maßgebend waren. Was wären da Ihrer Meinung nach die zentralsten?
Stiglegger: Zunächst muss man sagen: Auch die Filmgeschichte ist international völlig unterschiedlich zu bewerten. Wir haben, je nachdem in welchem kulturellen Kontext wir uns befinden, unterschiedliche Tabu-Strukturen auch in der Produktion und in der Bewertung von Filmkunst. In der westlichen Kultur bestanden vor allem sogenannte Darstellungstabus. Diese waren oft mit dem Zeigen expliziter Nacktheit, expliziter Gewalt und negativ konnotierter religiöser Symbolik verbunden. Dies ist nicht in allen Ländern gleich gehandhabt worden. Im skandinavischen Raum wurde Nacktheit immer schon wesentlich liberaler gehandhabt als in den westlichen Ländern, weshalb in den 1950/60er Jahren die sogenannten Schwedenfilme als „Ersatzerotik“ benutzt werden konnten, obwohl diese Filme gar nicht dazu intendiert waren.
Gleichzeitig ist es so, dass sich vieles verändert hat mit den Zensursystemen, die sehr stark auf Tabus beruhten. Der Hays Code, der in den USA als Zensur-Basis ab Mitte der 1930er Jahre eingeführt wurde, veränderte die Darstellung von Gewalt, Sexualität und Drogengebrauch in amerikanischen Filmen signifikant. Dazu gibt es so genannte „Pre-Code“-Filme, die herauskamen, bevor der Hays Code installiert wurde. Das waren Filme wie Scarface zum Beispiel, in denen Gewalt dann noch deutlicher dargestellt wurde, als es danach der Fall war. Und auch Filme wie Ben Hur aus den 1920er Jahren, ein Stummfilm und die erste Verfilmung des Romans, hatte Nacktszenen und explizite Gewalt. Diese Tabu-Strukturen bezüglich der visuellen Darstellung von solchen Bereichen haben sich immer wieder verändert. Mit dem Abschaffen des Hays Codes (1967) veränderte sich das amerikanische Kino sofort wieder. Ähnliche Strukturen haben wir in Deutschland mit dem Einfluss der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. In diesem Kontext spielten dann plötzlich politische Tabus eine wichtige Rolle, denn nach der Entnazifizierung wollte man um jeden Preis das Wiederaufleben von Nazi-Propaganda und Ideologie in den Medien verhindern und deshalb ist damit ein Tabu der Nachkriegszeit in Deutschland verbunden, welches besonders ernstgenommen wurde. Jedes Land und jeder kulturelle Komplex hat seine eigenen Tabu-Strukturen mit eigenen Schwerpunkten. Vieles, was man in Deutschland problemlos zeigen kann, kann man zum Beispiel im Hollywood-Kino nicht, im Bollywood-Kino in Indien schon gar nicht. Obwohl dort mit Gewalt wieder anders umgegangen wird usw.
literaturkritik.de: Wo ist das Tabu eher moralischer Natur? Gibt es da gerade zeitgenössisch Grenzen und Unterschiede?
Stiglegger: Dinge, die nicht in den Bereich staatlich gesetzter Zensur fallen würden, sind zum Beispiel Körpertabus, wie die Darstellung und Thematisierung von Ausscheidungen. Das kommt in Filmen vor – wird also nicht verhindert – aber beim Publikum bewirkt das natürlich auch individuelle Reaktionen – und dabei ist eben auch wichtig, dass Tabus individuell unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn zum Beispiel in dem neuen Film Benedetta von Paul Verhoeven die beiden Hauptdarstellerinnen auf der Latrine zu sehen sind und sich dort lautstark über Ausscheidungen unterhalten, dann ist das mit Sicherheit eine Form von Tabubruch, der aber nicht den offiziellen institutionalisierten Verbotsbereich betrifft. Genauso das Thematisieren von bestimmten politischen Kontexten, von bestimmten Herkünften, also zum Beispiel der unterschiedliche Umgang mit Migrationshintergründen in Gangster- und Polizei-Filmen, welcher durchaus als grenzüberschreitend betrachtet werden kann, wenn damit Rassismen verknüpft sind. Darauf reagiert auch das Publikum jeweils unterschiedlich (empfindlich), was im Kontext natürlich Sinn macht. Die Kunstwerke haben ja einen bestimmten Grund, dies auch vorzuführen. Genauso das Darstellungsverbot von Mohammed in der islamischen Welt. Dort gibt es ein kurioses Phänomen rund um den Film Mohammed – Der Gesandte Gottes, indem der Protagonist nie direkt zu sehen ist, die Geschichte wird indirekt erzählt. Das ist dann zum Beispiel ein Einhalten dieses Tabus, während der amerikanisch basierte Film, eigentlich ein Amateur-Film, Die Unschuld der Muslime, der im Internet verbreitet wurde, als absoluter Affront gegen und Beleidigung der islamischen Welt gewertet wurde, da er die direkte und diffamierende Darstellung wählt. Dieser überschritt das Tabu auf eine offensive Weise, aber im Sinne der amerikanischen Free-Speech-Doktrin ist es überhaupt kein Problem, das dort ins Internet zu stellen. Man findet das zum Teil heute noch. Das ist aber ein Fall, in dem in islami(sti)schen Kontexten wahrscheinlich die Todesstrafe verhängt werden würde.
literaturkritik.de: Warum haben wir so große Tabuisierungen von Dingen wie Nacktheit und Gewalt im Kino, dafür in der Literatur praktisch überhaupt nicht?
Stiglegger: In der Literatur wird ja die Imagination der Leserschaft angesprochen. Das kann wie bei de Sade, Georges Bataille und anderen Surrealisten sehr explizit sein in der Beschreibung, und das kann durchaus auch Verbote mit sich ziehen. Denken wir an Henry Millers Opus Pistorum oder Anaïs Nins Das Delta der Venus, welche durchaus Beschreibungen enthalten, die man auch heutzutage noch als tabubrechend in der Literatur begreifen würde, indem dort zum Beispiel ein sehr wichtigstes Tabu in unserer Gesellschaft, die Hebephilie, pornographisch umgesetzt wurde. Das ist etwas, das auch in der Literatur ein Problem sein kann. Dies wird im Kino mehr problematisiert, weil der visuelle Ausdruck als unmittelbarer begriffen wird. Der Sehsinn wird anders gewertet als die Imagination beim Lesen, da man sich hier auch selbst zensieren könnte. Während beim Sehen erstmal jeder dasselbe sieht und dann damit etwas anfangen muss. Die missverständliche Idee, dass der Film immer eine Form von Realität repräsentiere, selbst, wenn sie inszeniert sein sollte, spielt dabei eine wichtige Rolle. Deshalb ist die Darstellung von expliziter Sexualität immer mit Pornographie-Verdacht behaftet, was in Deutschland immer noch eine Form von Tabu darstellt, obwohl Pornographie auch als Kunstform fest etabliert ist. Man würde trotzdem bei vielen Menschen ein Zurückscheuen vor einer Identifikation oder Verbindung mit der Pornographie feststellen.
literaturkritik.de: Also sollte Ihrer Meinung nach gar keine Unterscheidung gemacht werden zwischen dem Visuellen und der Literatur (vor allem, da das Argument des Wegsehenkönnens ja auch beim Streaming von Filmen mit Vorspulen etc. erreicht werden kann)?
Stiglegger: Ich denke, das geht mit der Herstellung von Bildmedien einher. Dass das, was man visuell abfilmt, eine vorfilmische Realität benötigt. Das gilt zwar nicht unbedingt für den Animationsfilm, aber eben für den Realfilm, da hier miteinander agierende Körper dargestellt werden, was Sexualität oder Gewalt betrifft. Wenn man die Grenzen zwischen Inszenierung und Realität erfolgreich verwischt, wie das ja einige Filme tun, die an den Rand des Semi-Dokumentarischen gehen, Mondo-Filme z.B., reißerische Dokumentationen, die andere Kulturen darstellen, um möglichst viel Sexualität, Gewalt und andere Schauwerte zu reproduzieren. Auch Gewalt gegen Tiere spielt hier eine wichtige Rolle. Diese Darstellungen übertreten definitiv Darstellungstabus, die mit dem Bild verbunden sind und nicht mit der reinen Imagination. Denn Literatur repräsentiert eine Vorstellung und das auf eine kodierte Weise, während Bilder diese unmittelbare Repräsentation suggerieren. Da sehe ich einen Unterschied.
literaturkritik.de: Wo würden Sie heute die größten Tabuisierungen in der Kultur sehen?
Stiglegger: Kinderpornographie ist ein Reizthema, das auch in dieser Ungenauigkeit der Definition besteht. Was sind Kinder? Was sind Jugendliche? Gibt es eine Anscheins-Jugendlichkeit? Die sogenannte „Teen-Pornography“ zum Beispiel ist ja im Idealfall mit Menschen über 18 Jahren gedreht worden, die aber jünger aussehen sollen, wodurch eine Anscheins-Jugendlichkeit entsteht. Das ist ein Grenzbereich, der Tabus berühren kann. Literaturverfilmungen, wie die Lolita-Verfilmung von Adrian Lyne, wurden massiv diskutiert. Das Thema Age Gap ist da ein wichtiger Punkt. Der extreme Altersunterschied zwischen Erwachsenen und Jugendlichen kann eben als Missbrauchsverhältnis gedeutet werden.
Dann haben wir starke Tabuisierungen was die Thematisierung von Rassismus betrifft. Wie weit kann man gehen in der reinen Darstellung von Rassismus?
Dann Identitätspolitik: Wer ist ‚befugt’, über welches Thema zu sprechen? Dies wird momentan intensiv diskutiert, meiner Meinung nach auch auf einer etwas unrealistischen Basis. Schauspiel wird dann ggf. infrage gestellt, wenn die Identität der Schauspielenden nicht mit ihrer Rolle übereinstimmt. So etwas wird sich nicht zu echten Tabus entwickeln, weil dies zu irrational ist.
Bestimmte sprachliche Tabus bestehen noch, zum Beispiel, dass bestimmte rassistische Begriffe nur noch kodiert wiedergegeben werden. Das bewirkt, dass ein Film, der ein Vorläufer für Django Unchained von Quentin Tarantino aus den 1970er Jahren war, ursprünglich das N-Wort im Titel enthielt und jetzt nur noch Boss heißt. Der Titelsong enthält dieses Wort aber immer noch im Refrain, was das Ganze noch absurder macht. Genau das sind Auswirkungen von Tabuisierungen in der Sprache, wie sie sich auf die Vermarktung von Medien auswirken können.
Euthanasie, freiwilliges Sterben und Sterbehilfe – dieser ganze Themenkomplex ist tabubelastet. Das heißt nicht, dass sie nicht dargestellt werden können – siehe Michael Hanekes Liebe,der einen Akt der Sterbehilfe darstellt und zwar nicht moralisierend –, aber es ist immer ein Bereich, der diskutiert werden wird.
Die Darstellung des alternden und kranken Körpers ist mit Sicherheit angestrebt als eine Form der Erweiterung der Perspektive im Sinne vom Abbau von Tabus, aber es gibt im Publikum immer noch einen großen Teil, der eher abgestoßen auf diese Art der Darstellung reagiert. Daran merkt man, dass diese Prozesse, in denen sich Darstellungsverbote verändern, sehr langwierig sein können.
literaturkritik.de: Spielt dann Gewalt überhaupt noch eine Rolle bei der Tabuisierung, sexualisierte Gewalt ausgenommen?
Stiglegger: Kann man sexualisierte Gewalt überhaupt rausnehmen? Das wäre ja dann die erste Frage. Es gibt ja speziell Fälle filmischer Darstellung, bei der extreme physische Gewalt in sexualisierter Form stattfindet und zwar zum Teil aufgeteilt wie in Rape-Revenge-Filmen. Hier wird erst eine sexualisierte Gewalt und dann eine Rachegewalt explizit dargestellt, die zum Teil aber auch eine negative Sexualisierung erfahren kann, durch gewaltsame anale Penetration des Täters usw. Auf der anderen Seite gibt es auch eine Art Overkill-Darstellung, wie man sie in dem russischen Actionfilm Hardcore findet. Dieser ist aus der Ego-Perspektive gedreht, in einem scheinbaren One-Take. Man ist dabei selbst in der Perspektive des Ausübenden massivster Gewaltakte, was als ähnlich skeptisch wie Ego-Shooter Spiele diskutiert wird.
Man kann also nicht alles bedenkenlos darstellen. Auch die Gewalt gegen Tiere, selbst wenn sie simuliert sein mag, überschreitet immer noch Tabus von einem großen Teil des Publikums.