Großes Kino, das auf Antwort wartet

„Einer der Spiegel des Anderen“: Zum Briefwechsel zwischen Gretha und Ernst Jünger

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht denken Sie erstmal, den Ehebriefwechsel eines berühmten Schriftstellers zu veröffentlichen, ist eine germanistische Pflichtübung – ein eitles Bemühen um Vollständigkeit, kombiniert mit dem Gespür dafür, wo sich auch periphere Dokumente noch monetarisieren lassen. Manchmal mögen Sie mit einer solchen Vermutung Recht haben. Hier nicht. 

Um es flapsig zu sagen: Der Briefwechsel zwischen Gretha Jünger und ihrem Mann Ernst ist ganz großes Kino: ein Kriegsdrama vor dem Hintergrund von Flächenbombardements und Eroberungszügen; zarte Romanze und brutale Eifersuchtstragödie; Familiensaga und Künstlerporträt. Ein Buch, das man mit angehaltenem Atem liest.

Das liegt an vier Personen. Da ist zunächst der Jahrhundertautor Ernst Jünger, nicht nur Weltkriegs-, sondern überhaupt Kriegsweltchronist, der allen, die ihn aus seinen Tagebüchern, Essays und Romanen kennen, hier so begegnet, wie sie ihn kennen. Er schreibt, wie er schreibt, auch an seine Frau. Andere Rezensionen haben wohlwollend bemerkt, dass Ernst Jünger hier, mehr oder weniger erstmals, als Familienvater auftritt und damit in neuem Licht erscheine. Das stimmt wohl mit Bezug auf die Themen des Briefwechsels, nicht aber den Tonfall. Auch nach Jahren der Abwesenheit im wehrmachtbesetzten Paris heißt es allenfalls lapidar über den ältesten Sohn: „Gern würde ich auch Ernstel sehen. Ich habe das Gefühl, daß ich mich mit ihm beschäftigen muß.“ 

In die Zeit der Trennung der Eheleute fallen Jüngers Affären in Paris, vor allem mit der ebenfalls verheirateten Sophie Ravoux. Ernst Jünger verarbeitet dieses Verhältnis im Tagebuch, das er dann seiner Frau zur Verwahrung ins Haus schickt. Die folgende, nie mehr zu Ende kommende Auseinandersetzung profiliert Gretha Jünger als selbstbewusste, hellsichtige, einfühlsame Frau, große Autorin, ihrem Briefpartner ebenbürtige Stilistin. Wie sie über Nähe und Vertrauen, Liebe und ohnehin immer nur begrenzt mögliche, aber ehrlich anzustrebende Gegenseitigkeit schreibt, hat mich tief berührt. Der Adressat der Briefe fühlt sich ertappt, wehrt sich aber gegen vermeintliche Zudringlichkeiten, beteuert seine Verbundenheit, hat es aber offensichtlich schwer damit, diese sprachlich konkret auszugestalten.

Es steht dem Rezensenten nicht zu, über Gefühle oder die Wahrhaftigkeit ihres Ausdrucks zu spekulieren; wie aber beide Briefpartner aufeinander eingehen, wer auf wessen Wünsche, Vorschläge, Vorhaltungen wie antwortet, das lässt sich ermessen. Gretha, kurz vor Silvester 1942: „Du wirst dank Deiner Eigenart nie in das Wesen Anderer eindringen können, und es bleibt der olympische Raum. Finden wir uns damit ab. Den Menschen in mir wirst Du nie verlieren; als Frau habe ich mich Dir entfremdet“. Ernst, im Antwortbrief aus dem Kaukasus: „Übrigens habe ich in den letzten Tagen oft an Dich gedacht, denn ich wurde häufig durch guten Kaffee erfreut, da man jetzt die Vorräte aufbraucht und mit ihnen nicht sparsam ist.“ Wer gehofft hat, dass sich das Bild des kühlen Autors Jünger – er flaniert durch Paris, seine Frau macht ihm zu Hause die Steuer, während wortwörtlich die Hütte brennt – auf Basis des Briefwechsels zurechtrücken lässt, wird enttäuscht.

Ich sagte, am Faszinosum dieses Buches seien vier Personen beteiligt. Die anderen beiden sind Anja Keith und Detlev Schöttker, die aus dem überlieferten Briefkorpus ein knappes Fünftel ausgewählt und so an der Lesedramaturgie des vorliegenden Bandes mitgewirkt haben. Im Hinblick auf die Editionsprinzipien fällt vor allem auf, dass es Vor- und Nachwort und sechs kurze, einordnende Zwischentexte gibt, aber keinen Stellenkommentar. Das sehr ausführliche, kommentierte Personenverzeichnis soll dessen Rolle übernehmen, so heißt es. Diese Entscheidung ist mutig, denn beim Lesen der Briefe fragt man sich recht oft, was gemeint ist. Die Paratexte können diese Fragen nicht immer beantworten. Zwei Möglichkeiten ergeben sich dann: Man kann die umfangreiche Sekundärliteratur zu Ernst Jünger heranziehen, Biographien und Personenregister, Werkkommentare und andere Briefeditionen. Und man kann innehalten und sich überlegen, was eigentlich gewonnen ist, wenn man die eine oder andere Anspielung auf ein spezifisches Faktum beziehen kann. Werde ich dem Briefwechsel oder den Anliegen der beiden Schreibenden dann besser gerecht? Nicht unbedingt. Sich ansprechen zu lassen, ohne abzulenken, ist eine Tugend. Genau das zeigt das Briefgespräch selbst; dass das durch die Editionsprinzipien subtil unterstrichen wird, ist bemerkenswert.

Titelbild

Gretha Jünger / Ernst Jünger: Einer der Spiegel des Anderen. Briefwechsel 1922-1960.
Hg. und mit einem Nachwort von Anja Keith und Detlef Schöttker.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.
720 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783608939538

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