Zwei besondere Narren

Peter Handke lässt sich in „Zwiegespräch“ auf eine Geisterbeschwörung ein und findet zurück ins unsterbliche Theater

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gewidmet ist der schmale Band den Schauspielern Otto Sander und Bruno Ganz. Beide repräsentierten ein Theater, das es nicht mehr gibt. Ich meine die West-Berliner Schaubühne in den 70er und 80er Jahren. Dort schuf der im Grunde konservative Regisseur Peter Stein ein absolut revolutionäres Theater. Als ob den Wundern immer auch etwas Paradoxes innewohnt, denn diese theatralen Provokationen standen zugleich für eine ästhetische Reinkultur in Perfektion. Sander und Ganz waren eine Zeitlang Teil dieses Wunders, zu dem noch viele andere Namen gehören. Es war nicht zuletzt auch ein Theater der Frauen: Edith Clever, Jutta Lampe, Corinna Kirchhoff, Libgart Schwarz (die lange mit Handke verheiratet war), Imogen Kogge, Tina Engel.

Wenn man so will, hat Handke einen abendfüllenden Dialog als Denkmal für die beiden Schauspieler und ihr untergegangenes Theater geschrieben. Denn die Erinnerungen der zwei alten Männer kreisen stets um das, was als der Kern jener Bühnenkunst bezeichnet werden darf – die Magie des Augenblicks wie die Magie der Sprache und das eine so überwältigend wie das andere.

„Soll das am Ende doch wieder ein Dramatisches Gedicht werden?“, fragt der eine. Natürlich, es ist ja längst eines und seine Besetzung haben wir vorneweg auf dem Blatt mit der Widmung gelesen. Wer möchte da nicht, dass eine Zeit komme, in der das Wünschen wieder helfe und die Erinnerung sich materialisiere? Es wird ein Wunsch bleiben. Durch das Prosagedicht lässt sich die Wunscherfüllung freilich mühelos herbeizaubern. „Daß wir zwei doch keine Ruhe geben! / Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht. / Na, zeitweise – sporadisch! – vielleicht doch.“ Und da fällt auch schon der Vorhang, um uns zu sagen: Alles Theater.

Am Anfang nehmen wir es noch für bare Münze und lassen uns auf die Illusion ein, wenn wir jene zwei Alten förmlich vor uns sehen, die irgendwo sitzen und beschlossen haben, es sei genug ins Leere geschaut und man wolle nun mit dem Reden beginnen. Zwei besondere Narren seien sie in ihrer Tagträumerei. Genau sie ist es, die Handke uns vor die Nase setzt – eine Tagträumerei. Weil sie die Narren weiterspielen wollen, fangen sie an, von Kindertagen und Großvätergeschichten zu erzählen – und sind selbst diese Großväter geworden.

Da erinnert sich beispielsweise der eine, wie er als Kind im Theater sitzt und auf der Bühne ein Haus erblickt. Sofort zieht es seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Aufregend war seltsamerweise nicht das Agieren der Schauspieler*innen, sondern das Dekor, dieses Kulissenhaus. Gebannt schaut der junge Theaterbesucher auf die Haustür, dass sie plötzlich aufgehe und ein Mensch heraustrete. Doch die Aufführung endet, ohne dass dies geschieht. Das Kind ist ganz im Bann der eigenen Vorstellung, „daß an dem Theaterhaus dort, dem alten, dem längst verjährten Gerümpel dort hinten sämtliche Türen und Fenster aufspringen und […] / – daß es ernst wird? / Ja, endlich ernst.“

Aus dem Kind wurde ein Mann, der im „Zickzack“ durch die Welt reiste und dem dabei ständig eben dieses Theatererlebnis begegnet. Immer wieder stehe er dann unversehens „vor so einer Hauskulisse, so einem Kulissenhaus“, immer irgendwo am Rand stehend – an einer Straße, an Eisenbahnschienen oder mitten auf einer Wiese. Es wiederholt sich die Empfindung, der Schein möge ernst werden, Fenster und Türen sich öffnen, Menschen aus ihnen heraustreten. „Und doch hat das Kindertheaterhaus seinerzeit hinten auf der Stadttheaterbühne mich auf den Weg gebracht. Bleibende Dankbarkeit dir, liebes Scheinhaus, überhaupt lieber Schein.“

Der andere beginnt sich an den Großvater zu erinnern, dessen Geschichten sich unversehens zu Geschichtsdramen weiten, wenn der Große Krieg von 1914 in den Blick kommt wie „ein Vorwurf für einen österreichischen Shakespeare“. Dabei kommt heraus, dass hinter der „Großvaterverklärungsgeschichte“ eine nur schlecht camouflierte Wahrheit der Grausamkeit steckt. Weshalb im Erzähler der Wunsch entsteht: „Kein ‚Und‘ mehr zu euch Dunkelmännern.“ Die Wahrheit ist nämlich, dass der Großvater ein gewalttätiger Mensch, ein Folterer und Quäler war.

Das erzählte Beispiel von der auf dem Rechen aufgespießten Schlange, die einen ganzen Tag lang einen Todeskampf führt, illustriert das und enthält zugleich eine über die bloße Grausamkeit hinausgehende andere Wahrheit. Dass nämlich der Junge, der das damals sah, gar nicht genug davon bekam – „du hättest dem Sterben des großväterlichen Opfertiers in Ewigkeit zuschauen können“. Wir tun das im Theater unentwegt. Alle Tragödien liefern eine Anleitung, das Leid der anderen zu „genießen“. Und wie oft bestätigt der Lebensalltag unseren obszönen Voyeurismus?!

Handkes Zwiegespräch findet auf den vielzitierten Brettern, die die Welt bedeuten, statt, daran besteht kein Zweifel, und es ist eines, in dem ständig von eben dieser Bühne die Rede ist. Das ist offensichtlich, wenn plötzlich die Rolle des Fortunatus Wurzel als Aschenmann aus Ferdinand Raimunds Zaubermärchen Der Bauer als Millionär zitiert wird. Oder wenn an die Magie der Sprache erinnert wird, die in jenem untergegangenen Theater einmal so mächtig war. „In deinen Theatern war die Dramenzeit die Dramensprachzeit, wenn nicht überhaupt die Sprachzeit, die Zeit der Sprache, die Zeit der Sprache ‚Sprache!‘, fürs erste jedenfalls vorbei. War? Ist?“ Doch der Antwortende will davon nichts wissen: „Blödsinn. Noch so eins deiner Hirngespinste. Und weg mit dem!“ Die Wahrheit freilich ist, dass es diesen Schaubühnen-Sprachkult gab und dass heute auf der Bühne anders gesprochen wird.

Erinnern kann man nur Vergangenes und was nicht anwesend ist, weshalb damit immer auch die Erkenntnis von Abwesenheit und Verlust verbunden ist. Und schon laufen wir Gefahr, in die Falle der Sentimentalität zu tappen: „Wie hat das Theater seinerzeit doch – nicht geschockt, vielmehr rechtschaffen weh getan. Theater, Zeit der Kindschaftsgefühle, des Furcht-und-Zitterns.“ Aber dem Theater wohnt nun mal als Wahrheitskern das Vorübergehen, die Vergänglichkeit inne. Es ist und bleibt Augenblickskunst, bei der sich nicht die Frage stellt, ob es einmal besser war. Es war nur anders. Deshalb trifft Handke am Ende doch daneben, wenn er die aus dem Englischen stammende Formulierung, etwas habe seinen Moment verloren (He lost his momentum), auf das Theater anzuwenden versucht. Es ist nicht aus der Bahn geraten. Sondern auch heute heißt es: „Das Leben ist erschienen. Wie es einzig auf dem Theater erscheinen konnte.“

Titelbild

Peter Handke: Zwiegespräch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
64 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225363

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