Saustall und Paradies in einem

Bora Ćosić entwirft in „Operation Kaspar“ eine groteske Parabel auf ein zwiegespaltenes Europa

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fristgerecht zu seinem 90. Geburtstag am 5. April 2022 ist vom serbischen Autor Bora Ćosić auf Deutsch ein 24 Jahre alter Text erschienen, der eine faszinierende Aktualität bewahrt hat. Operation Kaspar veranschaulicht auf so schillernde wie skurrile Weise, was Ilma Rakusa in ihrer Würdigung des Autors in der NZZ vom 5. April geschrieben hat: In seinen Büchern „gehen Geschichte und Wahnsinn, Slapstick und Sprache eine tragikomische Verbindung ein“.

Operation Kaspar ist ein dreiteiliges Kammerspiel. Ein Erzähler verfasst einen Bericht über zwei Menschen, einen Mann mit Hut und eine Frau im Unterrock, die „in einem Raum voller Unordnung“ hausen, einem „Saustall“, wie es auch heißt. Die beiden Menschen bewegen sich träge, ja sie wirken „häufig wie mitten in der Bewegung erstarrt“. Alles um sie herum starrt vor Schmutz und Verkommenheit, die dreckigen Fenster wurden seit langem nicht mehr geöffnet.

Der Erzähler beobachtet die beiden, als ob es sich um Labormäuse in einem einsehbaren Käfig handelt. Er protokolliert ihr Tun respektive Nichtstun und versucht immer wieder auch, in ihre Köpfe zu blicken und ihre Gefühle und Beweggründe zu erahnen. Mit schneidender Lakonik kommentiert er zwischendurch das Beobachtete.

Ein Menschenleben, das auf diesem Planeten ohnehin nicht vorgesehen ist, könnte ereignislos verstreichen, und das wäre die glücklichste Ereignisfolge, die dem Fall einen Teil seiner Schwere nehmen könnte.

Woher der Schmutz und die Apathie rühren, bleibt verborgen. Armut und Arbeitslosigkeit mögen Gründe dafür sein. Auch äußere politische Umstände könnten mitspielen, vor allem als der Mann sich nicht mehr nur für Pferdewetten interessiert, sondern mit einer rostfleckigen Schere Bilder von „nahen und fernen Kriegen“ aus Zeitungen auszuschneiden beginnt. Und dann entdeckt er unter dem Bett auf einmal einen Koffer aus Presspappe. Schon „das Öffnen des Koffers, der Blick ins Innere ist bereits eine Art Reise“, kommentiert der Erzähler. Womit würden sie ihn füllen, was wäre es wert, mitgenommen zu werden? Die Frage erscheint unlösbar, und so verlassen die beiden mit leerem Koffer und ohne Papiere ihre Wohnung – „egal wohin die Reise geht“.

Später werden sie auf einer fremden Straße aufgegriffen. Niemand versteht ihre Sprache, weshalb sie zuerst in eine ordentliche Zelle, schließlich zu einem Professor Daumer gebracht werden. Ein Namensgefährte von diesem ist aus der Geschichte des Nürnberger Findlings Kaspar Hauser bekannt. Mit Professor Daumer beginnt nun die titelgebende ‚Operation Kaspar‘. Sein Garten ist ein Paradies und Schauplatz für das idealistische Experiment an den beiden Geflüchteten. Hier sollen sie Kultur erlernen, indem sie Pflanzen kultivieren. Glücklich geht die Geschichte trotzdem nicht aus.

Bora Ćosić hält alles in der Schwebe, mit einer hochauflösenden Genauigkeit erzeugt er Bilder von grotesker Unwirklichkeit. In welchen geografischen Räumen bewegen sich die Menschen? Was genau will uns seine Geschichte erzählen? Wahnsinn und Slapstick sind diesem schrägen, schmalen Roman tief eingeschrieben. Die vermutlich im Süden gelegene Wohnung der beiden wird mehrmals mit „Europa“ gleichgesetzt. „Wie er da im Zimmer sitzt, in Europa, mit Hut“, heißt es einmal, als müsse er „in der verbrauchten Zimmerluft Europas ersticken“. Doch auch der nördlich gelegene Garten ist Europa, mit diesem sehr deutschen Professor Daumer. Die lähmenden Zustände in einem restlos verkommenen Süden respektive die idealisierte kultivierte Schönheit im Norden werden demnach durch den Begriff Europa miteinander verklammert, um die Fragilität der kontinentalen (Un-)Ordnung zu veranschaulichen.

Diese Unschärfe wird zusätzlich kontrastiert durch die Sprache, die oft flatterhaft und sperrig wirkt, doch dahinter ein gewieftes Kalkül erahnen lässt. Anfänglich wird mit einer schneidenden Schärfe und Präzision protokolliert, die die Szenerie ins Surreale kippen lässt. Gegen Ende fällt der Erzähler dann in einen eleganten Plauderton, der den lieblichen Garten ebenso wie Daumers rühriges Experiment mit munterer Begeisterung beschreibt. Zweifach entzieht sich Bora Ćosić so den vorschnellen Deutungsmustern. Er mag sich nicht für eine klare Botschaft hingeben. Mit eindrücklich nachwirkenden Bildern und voller assoziativer Anspielungen, zeichnet er ein zwischen abgründigem Pessimismus und erwartungsfrohem Optimismus oszillierendes Bild des Kontinents, der durch Ungleichheiten und Vorurteile zerschnitten wird und das Durcheinander längst für ordentlich hält. „Früher oder später gewöhnt man sich an das Zimmer des eigenen Lebens, nicht anders als man nach einiger Zeit gegen den eigenen Geruch unempfindlich wird“, heißt es gleich eingangs.

Operation Kaspar ist durch die Balkan-Kriege geprägt. Der russische Überfall auf die Ukraine verleiht dem Buch unfreiwillig eine neue Aktualität. So wie im Stall des Mannes mit Hut und der Frau im Unterrock schaut es vermutlich in weiten Gebieten der Ostukraine aus. Es ist die literarische Meisterschaft des literarischen Avantgardisten Ćosić, dass sein tiefsinniges Buch von 1998 nochmals wie von heute klingt. Die Übersetzerin Brigitte Döbert hat das Ihre dazu beigetragen, dass dies auch im Deutschen eindrücklich gelingt. In ihrem Blog hat sie geschrieben, wie mühsam, manchmal quälend die Aufgabe gewesen sei. Doch die Arbeit hat sich gelohnt.

Titelbild

Bora Ćosić: Operation Kaspar. Roman.
Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
128 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783895616174

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