Teilnehmende Beobachtung: kein Platz für Esther

In Alexandra Riedels „Sonne Mond Zinn“ tanzt die Sehnsucht nach dem Ich im Du zwischen Toten

Von Sabrina HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabrina Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Erde zu Erde, Asche zu Asche und so weiter, dasselbe Ritual immer und immer wieder.“ Gustav nimmt teil an der Anteilnahme. Die wenigen Stunden, die Riedels schmaler Roman umfasst, erzählt ein Sohn. Es ist ein Sohn ohne Vater, dessen Mutter ohne Vater aufwachsen musste. Es ist der Sohn einer Mutter, deren Vater gerade gestorben ist. Es ist der Sohn, dessen Mutter bereits gestorben ist und die gerade deshalb anwesend ist, in Abwesenheit des Vaters. Gustav lässt als Erzähler das Abwesende anwesend sein: seine Mutter namens Esther Zinn sowie die Wahrhaftigkeit einer echten Liebe zwischen Eltern und Kind.

Die Handlung von Sonne Mond Zinn lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Gustav Zinn erfährt vom Tod des Großvaters, fährt zur Beerdigung und beobachtet die trauernde Familie, zu der er nicht gehört. Der tote Anton Hamann hinterlässt seine Frau Isolde und die beiden Söhne Anselm und Ulrich. Esther fehlt, heute und auf allen Fotos im Haus. Gustav steht im Abseits: Er beobachtet, sieht, berichtet. Er erzählt Gegenwärtiges, Vergangenes und Imaginiertes und stellt es nebeneinander. In dieser Verflechtung von Gesehenem, Gespürtem, Erlebtem und Gewünschtem entstehen Portraits von Esther Zinn und ihrem Vater, der in den Sternen und der Poesie seine Tochter sucht, auf der Erde und im Leben jedoch fehlt und schweigt. Stille Leiden. Schweigende Sterne.

Durch den Einsatz eines solchen Ich-Erzählers betreibt Alexandra Riedels Debüt eine ,teilnehmende Beobachtung‘: „Ich stand da und sah zu“.  Darin liegt seine Stärke. Die teilnehmende Beobachtung ist eine Methode der Feldforschung, sie stammt aus der Ethnologie und gewinnt Erkenntnisse über Verhaltensweisen und soziale Zusammenhänge. In dreizehn Miniaturkapiteln macht Riedels Roman in lakonischem Ton und aufs Wesentlichste reduziert die Leser:innen zu Anteilnehmenden – nicht an der Beerdigung oder an der Trauer, sondern an Gefühlen des Fremdseins sowie am Schmerz, der durch einen abwesenden und unbekannten Vater verursacht wird und der eine ewige Sehnsucht bedingt. Melancholisch, nachdenklich fängt der Text die Stimmung ein und nimmt seine Leser:innen mit in die Gefühlswelt des Sohns. Der wird von seinen Verwandten direkt erkannt, da er aussieht wie der Großvater in jungen Jahren. „Alles vererbt“, doch er weiß nicht woher. Die Erzählperspektive ist es auch, die den Roman zweifach lesbar macht: als ein Nachspüren in die Gefühlszustände eines verlassenen Kindes, dem noch als Erwachsener ein Teil seiner Herkunft fehlt und als Studie über eine Gesellschaft, die sich angewöhnt hat, an den Gefühlen vorbeizusprechen: „Bitteschön. Dankeschön. Draußen wurde Kaffee gereicht. Möchten Sie auch? Ich nickte und schaute mich um.“

So erweist sich die Beerdigungsgesellschaft als eine, die nicht über Trauer, Schmerz und Liebe spricht: „Man sprach über das Wetter, auch darüber, wie gut die Idee gewesen sei, ein Stück zu Fuß zurückzulegen. Wirklich schönes Wetter. Wirklich gute Idee.“ An dem Ort, an dem derartige Emotionen gesellschaftlich akzeptiert sind, scheint niemand zu trauern. Statt Trauer Totentanz. Das ist nichts Außergewöhnliches, in Riedels Text tritt es aber außergewöhnlich hervor, da inhaltlich ein ungeliebter Fremder in der Mitte steht und formal eine reduzierte, schmucklose Sprache genug Lücken lässt, die zu füllen sind.

Als langer Monolog, angefüllt mit Gefühlen, deren Begriffe der Erzähler nicht benennt, erhalten Leser:innen also eine Art Beobachtungsbericht der Beerdigung, der zweifach durchbrochen wird: Zum einen durch den Dialog mit dem Du und zum anderen durch Erinnerungen, die entweder wahr sind oder zumeist jedenfalls wahr sein könnten. Konditionales Imaginieren. Möglichkeitssinn. Der Monolog des Sohns wird zum Dialog mit der abwesenden Mutter. In diesem Du liegt die Liebe, die ansonsten fehlt. Aus Liebe zur Mutter und tiefer Verbindung zum Gefühl des Vaterverlusts imaginiert der Sohn Situationen, Begegnungen, Umstände und Gründe, die das verlassene Esther-Kind trösten und den Vater teils entschuldigend im Geiste zu ihr rücken. Sterne verbinden die Getrennten.

Dabei deutet der Roman an, dass auch die übrigen Familienmitglieder unter dem Betrug des Vaters leiden. Enggeführt werden die unterschiedlichen Leidenszustände in der Betrachtung eines Gemäldes, einer Nordseekulisse, die in Gustavs Blick fällt und zu der er Unterschiedliches assoziiert. Während er zunächst an seine Mutter denkt – „Du und ich, wir waren damals oft am Meer“ – ist das Bild im Haus Hamann für ihn das „Abbild einer Ehe, zusammengefasst in einer einzigen Woge, könnte er denken. Die Ehe arm an Romantik und Heiterkeit. Von Anfang an.“ Ob ihm das Bild gefalle, will Ulrich später wissen, es „strotze nur so von Realismus, dabei sei sein Vater doch eher ein Romantiker gewesen.“ Hier treffen Impressionen auf Illusionen, Realismus auf Romantik. Hinter dem Leid gibt es Wahrheiten wohl nur im Plural. Isolde, die Witwe, ertrug die Affäre ihres Mannes und das Gerede darüber, weiß sich aber nicht anders zu helfen, als die Existenz des fremden Kindes zu leugnen. Ihr eigener Sohn Ulrich führt ihr diese Existenz jedoch jährlich vor Augen: Er wird exakt ein Jahr nach Esther geboren, die Halbgeschwister teilen den Geburtstag. Das entrückt ihn von der Mutterliebe. Ulrich spürt die Existenz der Halbschwester, sucht und beobachtet sie in der Kindheit, war ‚musilsch‘ in sie verliebt; er ist es, der die Gedichte des Vaters findet, die Esther gewidmet sind: die Rückseite des Mondes. „Guck mal, sagt der Vater, der Mond hat sich für uns umgedreht, offenbart uns sein dunkelstes Geheimnis […]. Vater und Tochter auf der Rückseite des Mondes.“ Poesie und Astronomie als Verbindungslinien zwischen Vater und Tochter. Gustav, der Sohn der Tochter, hebt sie aus, zeichnet ihre Konturen nach, der Mutter zuliebe, die von ihnen nichts wusste. Sonne, Mond, Zinn.

Einzig Anselm bleibt im Text unscharf. Als einziger teilt er keine Leidenschaft mit dem Vater und erhält zu wenig Kontur – obgleich über seinen Namen E.T.A. Hoffmanns Goldner Topf durch Riedels Text schimmert, dessen Geschichte zwar nicht in zwölf Vigilien, jedoch in zwölf kleinen Kapiteln erzählt wird, und der dann mit einem kurzen dreizehnten – bestehend aus der Todesanzeige Esther Zinns – endet. Bei Riedel bleibt jedoch die zweite Märchenwelt verwehrt, oder wird nur als Hoffnungsschimmer in der Mutter-Kind-Verbindung angedeutet. Manches Bild, das die Autorin dabei nutzt, wirkt zu gewollt: Der Holunderbusch steht einem Tollkirschenbaum gegenüber. Gustav pflanzt den Holunderbusch, von dem zuvor im Text oft die Rede war und der bei den Hamans keinen Platz fand, schließlich auf das Grab der Mutter. In Hoffmanns Text wird der Holunderbusch für Anselmus das Tor zum Wundbaren. Bei Riedel ist es nicht Anselm, der Sohn des toten Großvaters, der den Zugang zur Märchenwelt erhalten soll, sondern Esther, das uneheliche Kind. Obwohl alle Spiegel im Hause Hamann „mit schwarzen Tüchern verhängt“ worden waren, erhält Esther so durch den erzählenden Sohn im Nachhinein Zugang zur Poesie des eigenen Vaters.

Ob das jedoch für ein Atlantis oder gar Musils ‚anderen Zustand‘ reicht, bleibt offen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alexandra Riedel: Sonne, Mond, Zinn.
Verbrecher Verlag, Berlin 2020.
124 Seiten, 19,- EUR.
ISBN-13: 9783957324238

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