Unzeitgemäße Betrachtungen zur Kunst
Eduard Beaucamp analysiert in „Jenseits der Avantgarden“ die Kunst und den Kunstbetrieb heute
Von Thorsten Paprotny
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEduard Beaucamp, der bekannte Kunstkritiker und passionierte Kunstliebhaber, meldet sich zu Wort, über die Kunst der Moderne, über die Welt der Museen und über den Betrieb, in dem die Kunst oder Formen derselben heute auftauchen. Als langjähriger Zeitungsredakteur berichtet er über Erfahrungen mit dem täglichen „Schwall illustrierter Kunstinformationen“. Der „Dilettantismus“ sei eine Signatur der Moderne, insbesondere die politische oder politisch gemeinte Kunst:
Junge Künstler maßen sich heute an, für alles und jedes zuständig zu sein, sie gerieren sich als Gouvernanten und Weltgewissen. Picasso, Dix oder die Kollwitz bezogen ihre Glaubwürdigkeit, ihren Kredit nicht aus der Selbsterklärung zu Künstlern und aus moralischen Bekenntnissen, sondern aus dem hart erarbeiteten Gewicht und der Bedeutung ihrer Werke.
Beaucamp also kritisiert den „expandierenden Kunstbetrieb“, die Kunstpublizistik habe sich „unkritisch mit den Angeboten des Betriebs und dem Markt“ arrangiert. Hat die Kritik noch eine Stimme? Wagt ein Kunstkritiker tatsächlich, ein begründet kritisches Wort über zeitgenössische Kunst oder über Kunstausstellungen zu äußern? Und wird das, so dürfen wir erwägen, als explizite Kritik überhaupt gedruckt oder publiziert werden? Ernüchtert bemerkt Beaucamp: „Die Lenker des Kunstbetriebs, die Kuratoren, die Kulturpolitiker, auch die Künstler selbst und ihre Händler meiden dezidierte Urteile und Bekenntnisse und domestizieren die Kritiker am liebsten zu affirmativen Gefolgsleuten.“
Eduard Beaucamp, der furchtlose Kritiker, äußerte sich nicht selten eindeutig und skeptisch, etwa gegenüber Künstlern wie Anselm Kiefer, Gerhard Richter oder Jeff Koons. Damien Hirst sei als „Oberspekulant“ aufgetreten und habe sich auf dem Markt inszeniert:
Er übersprang die traditionellen Vermittler, die Galerien, und damit das Regelwerk des Marktsystems, und belieferte die Auktionsbühne ohne Umwege direkt aus dem Atelier. Doch Hirst zwang seine ausmanövrierten Händler zugleich zum Mitbieten, wenn sie das Desaster vermeiden wollten, dass die Hirst-Preise einbrechen und sie auf ihren Lagerbeständen sitzen bleiben. […] Das Ergebnis war überwältigend – nicht etwa künstlerisch, sondern marktstrategisch. Es scheint also: Wir sind in ein neues Kapitel der Moderne eingetreten, in die kapitalistische Moderne. Dabei haben wir nicht mehr mit L’art pour l’art, sondern mit purem Marktroulette ohne ästhetischen Mehrwert und ohne Bedeutung zu tun.
Im Rückblick kommt Beaucamp auf die Avantgarden zu sprechen, auf das Denken und die Arbeiten einzelner Künstler oder ganzer Schulen, die nach der „Reinheit von Form und Farbe“ strebten, nach der „Allmacht der Rationalität“ oder der „Herrschaft der Irrationalität oder des Zufalls“. Das größte Ziel war die „Alleinherrschaft der Phantasie“, verbunden mit der „Überwindung einer bedrückenden und als unrein empfundenen Wirklichkeit und Geschichte“. Was bleibt? Am Ende, so Beaucamp, wurden in den „Imaginationen und Abstraktionen der Künstler“ auch alle Unterschiede aufgehoben, der Kunstbegriff wurde entbehrlich, ja überflüssig. Und heute? Die „stagnierende Ästhetik“ wurde an den „pulsierenden Kreislauf unseres Wirtschaftssystems angeschlossen“. Das „Renditedenken“ erfasste den Kulturbetrieb. Die Kunst war ermüdet, durch „modernes Management und Marketing“ sollte sie neu belebt werden. Der Kunstkritiker und -kenner äußert sich als Kritiker der bestehenden Gesellschaft:
Kunstqualität definiert sich über den Preis, die Bedeutung eines Künstlers über seine Vernetzung. Leider gehören heute auch die ehrgeizigsten Museen zu diesem Betriebssystem. Sie sind längst keine höchsten Instanzen und Autoritäten mehr. Sie haben das kritische Bewerten, Auswählen und Abwarten aufgegeben und sind, unter gesellschaftlichem Druck und Zwang zu Quotenerfolgen, zu zentralen Instrumenten der Kunstzirkulation geworden.
Was so rigoros wie schneidig vorgetragen wird, zeugt von der scharfsichtigen Beobachtung, aber auch von der kritischen Analyse, die der versierte Kritiker Beaucamp zu einer energischen Kritik der Kultur- und Kunstindustrie werden lässt. Die eine Leserin oder der andere Leser mag verständig nicken, an eigene Erfahrungen mit der heutigen Kunst denken oder sich begründet fragen, ob es künstlerische Originalität somit auch unter den gegebenen Bedingungen überhaupt noch geben kann. Andere aber mögen skeptisch erwägen, ob die pointierten Darlegungen Eduard Beaucamps, die zwar stimmig klingen, auch stimmen mögen. Im Ganzen wirkt dies überzeugend, die Herrschaft der Ökonomie ist ersichtlich, und dass auch Künstlerinnen und Künstler ihr verfallen oder sich in sie einfügen, verwundert nicht. Aber nicht wenige werden sich an Verborgenes erinnern, an Ausstellungen in kleinen Galerien, möglicherweise auch in Museen, die nicht mit den großen und allergrößten Meistern werben und das Kunstwerk nicht dem Kunst-Act opfern, sondern sich Zeit nehmen für Kunst und Ausstellungen einfach Ausstellungen sein lassen. Ja, auch in der Kunst gibt es einen Hang zum „freiwilligen Konformismus“ – aber vielleicht auch mehr als das? Kunstliebhaber und Kunstkritiker mögen das immer noch hoffen.
Zu Recht kritisiert Eduard Beaucamp indessen das deutsche Kunstgeschichtsbild:
Bis heute übersieht man am liebsten, dass der Osten ein schwieriges, aber auch bedeutendes und eigenständiges Stück Kunstgeschichte hinterlassen hat, das sich freilich aus anderen Traditionen der Moderne, aus denen der Menschenbildern und Realisten, bildete und der staatlichen und parteilichen Repression abgetrotzt werden musste. Man hat den Beitrag des Ostens lange pauschal unter das Verdikt einer Diktatur- und Staatskunst gestellt und nur das gelten lassen, was westlichen Avantgarde-Vorstellungen entsprach.
Diese – man darf es vielleicht ruhig provokativ sagen – arrogante, selbstgewisse Art des Denkens drückte sich darin aus, dass das allgemein verbreitete Vorurteil bestand und besteht, dass „alle erfolgreiche, womöglich repräsentative Kunst im Osten parteilich manipuliert, korrupt und unterwandert sei – frei und selbstbestimmt sei dagegen nur die der Emigrierten und Dissidenten“. Der Kritiker widerspricht dem entschlossen. Beispiele für die hohe Qualität der Kunst, die in der DDR entstanden ist, nennt Beaucamp, so etwa Bernhard Heisig, einen Vertreter der neuen deutschen Historienmalerei aus Leipzig, der in seiner Bildsyntax die „Virulenz einer Geschichte“ aufzeige, die nicht vergehe, ebenso die „Wiederkehr der Gewalt“ und das „permanente Weltgericht der Weltgeschichte“. Im Gegensatz dazu stehe Werner Tübke:
Er erlebte die Geschichte als Welttheater, als ein Spiegelkabinett, in dem die Epochen rotieren, ihre gleichbleibenden Determinanten offenbaren und sich wechselseitig erschließen. So kann er im Thüringer Panorama der Bauernkriege, der Glaubenskämpfe und Herrschaftskonflikte das Drama des zerrissenen Jahrhunderts der Moderne abhandeln.
Bei aller Kritik an der Zeit zeigt sich der Kunstkritiker doch auch als Liebhaber von „Oasen der Schönheit“, die inmitten einer „recht rüden Urbanität“ platziert seien – die „öffentlichen und privaten Museen“: „Die Mehrung ihrer Schätze verstärkt den Vitaminhaushalt der Gesellschaft.“ Wer das Schöne anschaut, bestaunt und bewundert, bildet sich nicht schulisch, sondern blüht auf von innen her, dankbar und froh über die Eindrücke, die gewonnen werden können – noch immer. Berechtigterweise übt Eduard Beaucamp an vielen Eigenheiten und Auswüchsen des Kunstbetriebs in der Gegenwart energisch Kritik. Zugleich aber, auch das zeigt sein hohes Engagement, wirbt er so mit Leidenschaft für eine Begegnung mit der Schönheit der Kunst, die den spröden Alltag und damit auch das Leben aller Betrachter nur bereichern kann. Beispielhaft sei darum eine Erinnerung Beaucamps genannt, als er von einer „Sternstunde in Rom“ erzählt: „Während der Restaurierung der Decke durften wir auf das Gerüst der Sixtinischen Kapelle klettern und ganz oben eine Lünette auf Augenhöhe studieren. Wir schauten Michelangelo gleichsam über die Schulter und entdeckten in der Freskoschicht ein Haar vom Pinsel des Divino.“
Eduard Beaucamps anregender Band sei zur Lektüre empfohlen – allen, die über den Kunstbetrieb heute kritisch nachdenken möchten, allen, die die Kunst schon oder trotzdem noch immer lieben, und allen, die die Kunst von gestern, heute und morgen besser kennen und lieben lernen möchten.
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