Großes Leiden als Quelle hoher Kunst?

Helena Adler überwältigt mit weiterem aus dem Leben der Infantin.

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie bei Adlers grandiosem Zweitling Die Infantin trägt den Scheitel links aus dem vorvergangenen Jahr handelt es sich auch bei Fretten – der Roman steht im Oktober dieses Jahres auf Platz 1 der ORF Bestenliste – um einen stark autobiographisch grundierten Roman.

Fretten – „fret/ten“ steht im Süddeutschen und Österreichischen für „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wund reiben“ – knüpft aber nicht nur genremäßig, sondern auch inhaltlich und ästhetisch an Die Infantin an. Das zeigt sich nicht nur an der ihresgleichen suchenden, der zugleich drastischen, sensiblen, kompromisslosen, bilder- und stupend erfindungsreichen Sprache, an den blitzartig erhellenden Perspektiven und Fokussierungen sowie an den atemberaubend-präzisen Figuren- und Landschaftsbeschreibungen. Es zeigt sich auch darin, dass hier die Kapitel im Sinne medialer und inhaltlicher Interaktion nach mehr oder minder berühmten oder auch kaum oder gar nicht bekannten Gemälden benannt sind – zwei davon sind sogar von der Autorin selbst.

Schließlich wird, im zum Schluss schonungslos offenen, um Künstler und Kunst kreisenden 20. Kapitel „Ein Kanarienvogel unter Karnivoren“, sogar davon berichtet, wie die von den Einheimischen zur „Edelweißenklave verschandelte“ Heimat, in der Die Infantin spielt, auf das Buch reagierte: „Man wechselte die Straßenseite und die Gesichtsfarbe, wenn ich dorthin zurückkehrte, wo ich aufgewachsen war.“

Fretten, gewidmet „mein[em] geliebte[n] Kind“, besteht neben einer knappen Art ‚Einleitung‘ aus drei Teilen. Kapitel zwei bis vier handeln von der Kindheit der Ich-Erzählerin, Kapitel fünf bis vierzehn von deren Jugendjahren und Kapitel fünfzehn bis einundzwanzig – sie machen das halbe Buch aus – von deren Mutterschaft. Dabei stellte es kein Problem dar, Kindheit und Jugend einerseits und Mutterschaft andererseits ganz unabhängig voneinander zu lesen. Das lässt an der Passgenauigkeit der Gattungsbezeichnung „Roman“ leichte Zweifel aufkommen. Als ob die Autorin Einwürfen dieser Art hätte vorbeugen wollen, stellt sie am Ende der Kindheits-Kapitel als „Berichtbestatterin meiner Gegenwart“ fest:

Das frische Blut in meinen Adern sei der rote Faden in meinen Geschichten […]. Mehr als ums Überleben, die Welkwehmut und den Existierzorn geht es nicht. Und wem der Sinn nach etwas anderem steht, der erblinde an diesem Text, der verschlucke sich an seiner eigenen Zunge, der erhänge sich am fehlenden Handlungsstrang und folge in gerader Linie dem kurzen Prozess von Leben und Tod.

Nun muss man sich gewiss nicht gleich erhängen, nur weil es in Fretten statt einem mehrere Handlungsstränge gibt, zumal das Buch tatsächlich trotz „Welkwehmut“ und „Existierzorn“ doch jenen hochvitalen „roten Faden“ eines außergewöhnlichen Ichs hat.

Dass dem so sein wird, kann man schon vor Lektürebeginn den vorangestellten Motti von Virginia Woolf, Franz Kafka, Frida Kahlo und abschließend Adalbert Stifter entnehmen, deren auf Existenz und Schöpfertum abzielendes erstes in den Haupttitel dieser Besprechung eingeflossen ist und deren viertes an die zuvor zitierte Widmung anknüpft: „Das Mutterherz ist der schönste und unverlierbarste Platz des Sohnes, selbst wenn er schon graue Haare trägt – und jeder hat im ganzen Weltall nur ein einziges solches Herz.“

Bevor jedoch vom Mutterherz der Ich-Erzählerin die Rede sein soll, Blicke in deren Kindheit und Jugend zunächst. Während das „Das irdische Paradies“ überschriebene zweite Kapitel vom „Urvertrauen“ der sich selbst u.a. als ausgesprochen phantasievoll beschreibenden Ich-Erzählerin spricht, entwirft das komplementäre dritte Kapitel „Die Erfindung der Ungeheuer“ ein ganz anderes Bild: „Statt Stolz blähte mich […] Herkunftshader. […] Nichts gab Halt, aber alles nach“ ist da bspw. zu lesen. So lebt denn das Kind zugleich in „mindestens zwei“ Welten, in einem der Natur zu verdankenden „Gefilde der Seligen“ und in einer Realität der Erwachsenen, „die brutal, voll Dreck und Kadaver“ ist. Von daher erschafft es sich „Unterwelten und Nebenwelten“, „ein Bestiarium […] deformierter Gestalten und grotesker Schattenwesen“. Dann, im vierten Kapitel „Das Gelbe Haus“ und im Alter von zehn Jahren, die immer deutlicher werdende Erkenntnis, in einer Un-Familie zu leben:

Es gab nur eine Sprachfamilie, der wir zugehörig waren, und das war die des Wütens und Scheltens. […] Wer uns etwas anhaben wollte, wurde rufgemordet. […] Am Ackerboden waren wir zu Hause und weiter hinab als in unsere Jauchegrube ging es nicht.

Was nimmt die Ich-Erzählerin in Akten der Anverwandlung mit aus dieser Kindheit in ihre Jugend, in der sie „auf Kriegsfuß mit Leib und Leben“ steht, in ihr Erwachsensein dann auch? U.a. die Liebe zu „Ungetüme[n]“ und „Unverstandenen“.

Von solchen „Ungetüme[n]“ und „Unverstandenen“ handeln jene Kapitel, die der Jugend der Ich-Erzählerin und deren ‚peer-group‘ gelten, dazu von ach so weit verbreiteten Ungetümen jener Art erzählen, die sich und ihresgleichen Normalität und Gesundheit und Gutwilligkeit und was nichts alles – Unzutreffende – attestieren.

Das alles kann hier allenfalls andeutungsweise wiedergegeben werden. Aber wer jemals Adlers „Halbwüchsige[n], Verwilderte[n]“, „Nichtige[n]“ und „Entwurzelte[n]“ aus der Provinz begegnet ist, der wird, sofern er nicht selbst ein Abgestorbener oder ein Unhold ist, nie wieder in ein unbesonnen-selbstgerechtes Granteln und Verurteilen über die rebellierende, provozierende, gewalttätige und zuweilen auch kriminelle Jugend verfallen. Er wird dies umso weniger können, als diese Jugend im Buch auch wahrhafte und wehrhafte Moral zeigt.

Darüber hinaus lässt Adler in inhaltlich Widerwille, Abscheu und Grausen hervorrufenden, doch sprachlich berauschenden Kapiteln auch jenes ‚Gegenprogramm‘ Gestalt werden, das das Leben vieler Jugendlicher schon früh zu einer „Endstation“ werden lässt: Da sind die „Dorfasseln und ihre Ehegatterer“ beim zur „Nerzmantelshow“ verkommenen Friedhofsbesuch zu Allerheiligen, die „Taranteltrutschen“ rund um die Mutter und deren „Happening der Heuchelei“ in der heimischen Küche, die übergriffig-geilen „Gestrigen“, die im „Heurigen“ sitzen und vermeinen  „Kulturgut, Brauch und Tradition“ zu pflegen oder die „Oberschicht“ in ihren „Bonzenbordell[s]“, in denen „gehurt und geheuchelt, geschmiert und gekrochen, gefälscht und geblendet“ wird. 

Es folgt der Sprung zum zweiten Romanteil, zur „Mutterschaft“ und dem „Mutterkostüm“, das sich die Ich-Erzählerin „gebaut, genäht und gezimmert“ hat, dem „Engelssturz“, als der Sohn ins Spital muss und die Mutter ausrastet vor Angst. Dieser Teil, der den ersten womöglich noch an Intensität und Sprachgewalt übertrifft, hätte eine eigene Besprechung und kein bloßes Anreißen verdient.

Und stehen die Leiden einer jungen Wöchnerin in ihrem „Krankenzimmer“ denjenigen anderer großer Leidenden in irgendetwas nach? Besuch von Müttern, „Stillnazis“, die sich „nicht nach mir, wohl aber nach dem Befinden der Nachgeburt“ erkundigen, die dazu raten, den Kindsvater „noch ins Wochenbett“ zu lassen:

Doch […] er tut sich schwer, fast wie beim ersten Mal, das Schlupfloch zur Kompensation seiner männlichen Unsicherheit zu finden. […] Da erinnert er sich an das Gezwinker des Oberarztes, der, zwischen den Beinen seiner Frau herumfuhrwerkend, ihm einen Vaginalstich der Sonderklasse […] versprach.

Was ist all dem entgegenzusetzen, was hält aufrecht, was nährt die Über-Lebensgier? Neben dem Schreiben ist es die grenzenlose Liebe zum Sohn. Der wird als „Heiliger“, als „Heiland“ gar apostrophiert, als einer, dessen „Exkremente wie Reliquien zu behandeln sind“.

Über solche Apostrophierungen kann man fürwahr streiten, wie man auch grundsätzlich hinterfragen kann, dass dem Sohn eine ‚Mission‘ – „Meine Idee von dir ist eine andere“ – auferlegt wird. Immerhin aber weiß die „Übermutter“, dass sie den Sohn nicht nur mit den Armen, sondern auch mit „Schlingen“ umschlingt.

Eingangs wurde auf die überragende, von entfesselter doch alles andere als unkontrollierter Fabulierlust getragene Sprachgewalt Helena Adlers hingewiesen. Ob es unzutreffend ist zu sagen, dass im Unterschied zur Infantin in Fretten Fabulierlust und Sprachgewalt zuweilen ein gar zu munteres Eigenleben führen? Ein Eigenleben, das an der Plausibilität der ein oder anderen Passage kratzt – Stichwort: Figurenrede – oder die Frage aufkommen lässt, ob nicht Sprachartistik Aussageintentionen wegtrumpft. Der Art nach häufiger anzutreffende Sätze wie „Die Mutter zitierte ständig aus der Bibel und brachte uns damit auf die Psalmen“ kann man mit Galgenhumor oder Sarkasmus in Verbindung bringen. Nicht abwegig wäre es aber auch, von bloßem Kalauern zu sprechen.

Selbst der gewiss damals schon eloquenten jugendlichen Ich-Erzählerin nimmt man nicht ab, dass sie ihrer Mutter und deren schnatternden „Gänse“-Freundinnen jene über eine Seite gehende und als solche brillante Stegreifmetzelei entgegengeschrien hat, die mit „‚Ihr mit euren Palliativgesichtern‘“ beginnt und die mit

Du Suhltraud, Sichtrude und Leidelinde. Du spielverderbender Gertrudhahn, du dauernörgelnde Störenfrieda, du heimliche Ingrind und Ingrant! Du schauspielernde Keinewahltraud, du Edeltraumichnicht, du hodenlose Hitlerike!“

endet.

Bleibt abschließend festzuhalten, dass Fretten jene Hoffnungen auf weitere große Literatur von Helena Adler eingelöst hat, die man nach Die Infantin trägt den Scheitel links hegen durfte. An dessen wohl Literaturgeschichte schreibende Vollendung reicht es allerdings nicht ganz heran.

Titelbild

Helena Adler: Fretten. Roman.
Jung und Jung, Salzburg 2022.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272718

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