Mordende Gärtner, goldener Klempnerberuf oder die Freiheit über den Wolken

Einige Neuerscheinungen würdigen das Werk von Reinhard Mey zu seinem 80. Geburtstag

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Olymp der deutschen Liedermacher hat er längst einen der einflussreichsten Plätze eingenommen. Ein Sänger und Texter, der zunächst in zwei Ländern Karriere machte: als Frédérik Mey in Frankreich und als Reinhard Mey in Deutschland. Seine Lieder und Chansons, die sich durch satirisch-ironische und liebevolle Texte und eingängige Melodien auszeichnen, zählen längst zu den Klassikern des Genres.

Geboren wurde Reinhard Mey am 21. Dezember 1942 in Berlin, wo er bis heute noch lebt. Der Vater war Jurist, die Mutter Lehrerin und er hatte noch eine vier Jahre ältere Schwester. Mit zwölf Jahren bekam er Klavierunterricht, während er sich das Gitarren- und das Trompetenspiel selber beibrachte. Mey besuchte das Französische Gymnasium in Berlin, wo er 1963 das französische Baccalauréat und das deutsche Abitur absolvierte. Als Austauschschüler und Ferienkind lebte er mehrfach bei einer französischen Familie in einem Dorf in der Ardèche. Bereits während der Schulzeit sammelte er mit gleichgesinnten Freunden in einer Skiffle-Band erste Bühnenerfahrungen. 1964 folgte dann der erste prägende Auftritt beim Festival Chanson Folklore International auf der Burg Waldeck im Hunsrück. Es war auch das Jahr, in dem mit Ich wollte wie Orpheus singen sein erstes eigenes Lied entstand, das allerdings erst drei Jahre später auf dem gleichnamigen Album veröffentlicht wurde.

Nach dem Abitur hatte Mey eine Lehre als Industriekaufmann begonnen; doch die Liebe zur Musik hatte längst die Oberhand gewonnen. Um die Eltern zu beschwichtigen, begann er im Mai 1966 an der Technischen Universität Berlin ein Studium der Betriebswirtschaft, das er jedoch nach sechs Semestern abbrach, um sich ganz seiner Musikleidenschaft zu widmen.

1967 startete Mey als Newcomer für Deutschland beim renommierten Song-Festival im belgischen Knokke – mit Erfolg, denn er erhielt seinen ersten Plattenvertrag in Frankreich. Ende der 1960er-Jahre lebte er, seit 1967 (bis 1976) mit der Französin Christine Solleau verheiratet, immer wieder in Paris. Dort etablierte er sich als Chansonnier und konnte erste Alben veröffentlichen. Gleich seine erste Platte Frédérik Mey, Volume 1 wurde mit dem Prix International der Académie de la Chanson Francaise ausgezeichnet.

Trotz zwei weiterer Alben (Ankomme Freitag, den 13. (1969) und Aus meinem Tagebuch (1970)) ließ der künstlerische Durchbruch in Deutschland noch auf sich warten. Zunächst tingelte der Liedermacher (teilweise gemeinsam mit Hannes Wader) durch Kneipen, Clubs und kleine Theaterbühnen oder machte gelegentlich mit kleinen Radio- und Fernsehauftritten auf sich aufmerksam. Mit dem Doppelalbum Reinhard Mey live und der Single Der Mörder ist immer der Gärtner nahm dann 1971 seine Karriere auch in Deutschland Fahrt auf. Im selben Jahr ging er auf große Tour und die folgenden drei Alben wurden mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.

Seither reihten sich neue Alben und Tourneen in dichter Folge aneinander. Meist im Abstand von drei Jahren erschien ein neues Album mit einer begleitenden Tournee, die ihn durch Deutschland und zahlreiche Nachbarländer führte. Es war stets ein Phänomen: große und ausverkaufte Konzerthäuser, auf der Bühne nur ein Mann, der mit seiner Gitarre eine einzigartige Atmosphäre schuf und das Publikum in seinen Bann zog. Ein Teil seines Publikums ist dabei mit dem Sänger älter geworden, aber jüngere Fans sind nachgewachsen und auch sie finden sich in seinen Liedern wieder. Seine Popularität hielt auch im neuen Jahrtausend an; Alben wie Einhandsegler (2000), Nanga Parbat (2004), Bunter Hund (2007), Mairegen (2010) oder Mr. Lee (2016) waren besonders erfolgreich und wurden mit der „Goldenen Schallplatte“ ausgezeichnet.

Seit 1977 ist Reinhard Mey in zweiter Ehe mit Hella Hennies verheiratet; aus der Beziehung stammen die drei Kinder Frederik (*1976), Maximilian (1982-2014) und Victoria-Luise (*1985). Das einschneidende Erlebnis der Vaterschaft verarbeitete er in dem Album Menschenjunges (1977). Nach der Familiengründung konzentrierte sich Mey auf seine deutschsprachige Karriere.

Trotz zunehmender Routine zeigte sich Mey stets experimentierfreudig, sodass fast jedes Album eine andere Seite des Liedermachers sichtbar machte. Stets hellwach für die Zeichen der Zeit wurden seine Lieder ab den Achtziger zunehmend politisch. Aber Mey ist weiterhin der melancholische Chansonnier, der große Geschichtenerzähler geblieben, der „große Archivar des Alltags“, wie ihn einmal das Musikmagazin für Ärzte tonart bezeichnete. Mey beschrieb sich selbst einmal so:

Lieder sind meine Chronik. Sie sind Erlebtes und Erdachtes, aus Hoffnungen und Ängsten entstanden, aus Beobachtungen, Glück und Unglück gemacht. Lieder sind meine Tagebucheinträge und die Alben, in denen ich sie sammle, sind wie die Jahresringe eines Baumes, an denen sich die Wetter und der Lauf der Jahreszeiten ablesen lassen, Frühjahrsregen, Hitze der Sommertage, Hagelschlag, Herbststürme und eisiger Frost. Lieder sind mein Leben, meine Arbeit, meine Freude, Anfechtung und Trost. Ich bin dankbar, dass ich schreiben und singen kann.

Daher sieht sich der Gitarrenbarde eher als Wort- denn als Tonkünstler: Die Texte entstehen immer zuerst am Schreibtisch, ins Tonstudio geht es erst Wochen, ja Monate später. So sind im Laufe der Jahrzehnte rund 500 Chansons entstanden, von denen viele autobiographische Züge tragen. In einigen Liedern (Ikarus, Alleinflug, Lilienthal’s Traum oder Über den Wolken) spiegelt sich seine große Leidenschaft zur Fliegerei wider, wobei das Sehnsuchtslied über die Freiheit, die über den Wolken grenzenlos sein muss, seit fast fünfzig Jahren sein Erkennungszeichen ist. 1973 hatte Mey die Privatpilotenlizenz sowie 1976 die Instrumentenflugberechtigung erworben .Seine umfangreiche Diskografie umfasst neben zehn französischsprachigen Alben bisher 28 deutschsprachige Studio- und 17 Live-Alben. Nicht nur für seine künstlerischen Leistungen sondern auch für sein gesellschaftliches Engagement, u.a. für die Kinderkrebshilfe oder die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, wurde Mey mehrfach geehrt.

Mit Das Haus an der Ampel erschien 2020 sein bisher letztes Studioalbum, das sechzehn Songs vereint – darunter ein Duett mit Tochter Victoria-Luise. Für das Doppelalbum hat sich Mey etwas ganz Besonderes einfallen lassen: auf Disc 1 wurden die Songs mit zahlreichen Musikern aufgenommen, während Disc 2 „als Skizzenbuch“ die Liedern in einer ursprünglichen und schlichteren Form nur mit Gitarre und Gesang präsentiert. Damit gewährte Reinhard Mey einen seltenen Blick auf ihre Entstehung.

Nach fünf Jahren (auch bedingt durch die Corona-Pandemie) ging Reinhard Mey im Oktober 2022 noch einmal auf Tournee; jeden Abend wollte er noch einmal die Atmosphäre der Bühne in sich aufnehmen. Dabei wusste er, es gibt keinen Bonus aus all den vorhergehenden Tourneen, „keine Garantie aus dem Triumph von gestern.“ Und so absolvierte Mey sechszehn Stationen von Wetzlar über Leipzig, Stuttgart, München und Berlin bis nach Wien.

Am 21. Dezember 2022 feiert Reinhard Mey seinen 80. Geburtstag. Zu diesem Jubiläum legte der Schweizer Musikwissenschaftler und Komponist Michael Schneider bereits im Mai die erste Reinhard Mey-Biografie vor. (Eine Ausnahme bildete bisher die Autobiografie Was ich noch zu sagen hätte (2005) in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Bernd Schroeder). Es ist jedoch keine konventionelle Biografie, vielmehr unternimmt Schneider, den die Songs von Mey seit seiner Jugend begleitet haben, unter dem Titel Meylensteine, eine musikalische Zeitreise zu seinem Idol. Anhand von 60 ausgewählten Liedern und der 28 Alben fächert er die wichtigsten Lebensstationen des Künstlers auf. Der Autor geht jedoch nicht chronologisch vor, sachkundig bündelt er thematisch verwandte Lieder zu einem Kapitel und analysiert sie dann auch musiktheoretisch.

Für Schneider ist Mey „eine Art Seismograf, Chronist und Zeitzeuge“, der alles beobachtet und dann zur Feder und Gitarre greift, wenn ihn etwas bewegt. Seine handgemachten Lieder sind zwar Lieder ihrer Zeit, aber dennoch zeitlos. Das Geheimnis von Meys lyrischen Texten ist, dass er es schafft, Persönliches allgemein gültig werden zu lassen. Ein weiteres Anliegen des Autors ist es, die wichtigen Themen (Frieden, Unrecht, Identität oder Tierschutz) „herauszumeiseln“, die Mey neben seinen Alltagsbeobachtungen anspricht. Mit seiner Biografie will Schneider auch eine neue Rezeption in Gang bringen.

Außerdem würdigen zwei Reclam-Neuerscheinungen das Phänomen Reinhard Mey. In der Reihe 100 Seiten wirft der Literaturwissenschaftler und Kenner der deutschen Liedermacherszene Oliver Kobold einen Blick auf die lange Karriere des Sängers und zeigt, was den Künstler so unverwechselbar macht. Zunächst erinnert sich der Autor an einen Kinobesuch aus der Grundschulzeit, wo Mey in dem französischen Zeichentrickfilm Lucky Luke – Sein größter Trick die Synchronstimme dem Saloonsänger Bill lieh. Danach beleuchtet er fundiert und doch unterhaltsam den künstlerischen Weg von den Anfängen auf Burg Waldeck hin zu den ersten populären Erfolgen, um anschließend alle (auch die französischen) Alben und einzelne Live-Konzerte des Liedermachers näher zu betrachten. In dem Kapitel „Ich hab unzähl’ge Seiten vollgeschrieben“ widmet sich Kobold ausführlich den Liedtexten, die er in verschiedene Themengruppen unterteilt. Die 100 Seiten werden außerdem durch zahlreiche SW-Abbildungen und eine Diskographie ergänzt. Aber vor allem sind sie eine Anregung, wieder einmal Reinhard Mey aufzulegen und genauer hinzuhören.

Neben dieser Hommage hat Kobold auch einen Reclam-Band mit den bekanntesten Mey-Lied- und Song-Texten herausgebracht. Früher hatte man die Songtexte seiner Lieblingslieder mitgeschrieben; nun sind unter dem Titel Ich wollte wie Orpheus singen rund fünfzig Texte aus fast sechs Jahrzehnten versammelt – neben Klassikern wie Der Mörder ist immer der Gärtner, Ich bin Klempner von Beruf, Annabelle, ach Annabelle oder Über den Wolken auch der Titelsong Das Haus an der Ampel aus seinem letzten Album. Gesellschaftskritische Songs wie Sei wachsam oder das Friedenslied Nein, meine Söhne geb ich nicht, die von bedrückender Aktualität sind, sind ebenfalls vertreten. In seinem umfangreichen Nachwort (immerhin 15 Seiten), das einer kurzen Mey-Biografie gleichkommt, beleuchtet Kobold die Karriere und die Alben des Geburtstagskindes. Ergänzt wird die Neuerscheinung ebenfalls durch eine Diskographie.

Titelbild

Michael Schneider: Meylensteine. Reinhard Mey und seine Lieder.
2. Auflage.
Verlag rüffer & rub, Zürich 2022.
182 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783906304939

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Reinhard Mey: Ich wollte wie Orpheus singen. Lieder und Chansons.
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Oliver Kobold.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
143 Seiten , 7,00 EUR.
ISBN-13: 9783150143247

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Oliver Kobold: Reinhard Mey. 100 Seiten.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
100 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150206768

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