Der niederländische Literaturherbst 2022

Von Rob van de SchoorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rob van de Schoor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei erfolgreiche Präsentationen der niederländischen Literatur als gemeinsamer Ehrengastauftritt Flanderns und der Niederlande auf der Frankfurter Buchmesse (1993 und 2016) haben die niederländischsprachige Literatur seit den 1990er Jahren zu einer festen Größe des deutschen Übersetzungsmarktes werden lassen. Die aktuellen Entwicklungen des niederländischen Buchmarkts werden von deutschen Verlagen aufmerksam beobachtet, nahezu alle erfolgreichen Autorinnen und Autoren fanden in den letzten Jahren auch den Weg in die deutschen Buchläden. Die folgende Übersicht über wichtige Neuerscheinungen des niederländischen Literaturherbstes 2022 stellt Prosa und Lyrik von zwölf Autorinnen und Autoren vor. Unter ihnen sind arrivierte, auch in Deutschland bekannte Namen wie Lieve Joris oder Leon de Winter neben jüngeren Autorinnen wie Femke Brockhus oder Iduna Paalman, die am Beginn ihrer literarischen Karriere stehen und für Deutschland noch zu entdecken sind.

Prosa

Der beeindruckendste Roman, der im Herbst 2022 in den Niederlanden erschienen ist, ist zweifellos Schemerleven von Jaap Robben. Der Autor  debütierte 2014 mit Birk, einem Roman über ein Kind, das allein mit seiner Mutter auf einer einsamen Insel lebt (deutsche Übersetzung: Birk, 2016).  Die Protagonistin von Schemerleven, Frieda Tendeloo (Rufname Ietje), ist eine selbstbewusste, nachdenkliche Frau von 81 Jahren, die gerade ihren Mann Louis verloren hat, mit dem sie mehr als 30 Jahre verheiratet war. Das Haus, in dem sie zusammengelebt haben, wird kurzerhand und ziemlich gefühllos leergeräumt von ihrem Sohn, der sich lieber um seine Arbeit und seine schwangere Freundin kümmert und für seine alte Mutter nur ein paar sentimentale Ergüsse übrig hat. Frieda zieht in ein kleines Altenwohnheim, wo sie von jugendlichen Pflegern gewaschen und angezogen wird, die wenig Geduld mit ihrer Verlegenheit und Scham haben. Ein tätowierter junger Pfleger, der ihr unter der Dusche unerwartet einen Waschlappen ins Gesicht drückt, bekommt von ihr einen harten Schlag. Der Leser versteht erst im Laufe der Geschichte, woher die Wut und die Angst kommen, die Frieda haben zuschlagen lassen. Es handelt sich um eine traumatische Erinnerung an die Geburt ihres ersten, tot geborenen Kindes: Die Nonne, die sie während der Geburt grob behandelte, hatte ihr auch einen Waschlappen ins Gesicht gedrückt, um zu verhindern, dass die Mutter ihr totes Kind sieht. Es wurde schnell in ein Tuch gewickelt und weggetragen, die Mutter sah nur seine Füßchen, ein Anblick, der sie ihr ganzes Leben lang begleitete und jetzt, am Ende ihres Lebens und allein zurückgeblieben, einen überwältigenden Kummer in ihr auslöst.

Das Kind stammte nicht von Louis, sondern aus einer  Liebesbeziehung mit einem zehn Jahre älteren verheirateten Mann, Otto Drehmann, den sie beim Schlittschuhlaufen auf der zugefrorenen Waal bei Nimwegen im kalten Winter des Jahres 1963 kennengelernt hatte. Frieda war damals Anfang zwanzig. Als sie merkt, dass sie schwanger ist, zeigt sich die Halbherzigkeit von Ottos Liebe. Er will seine Frau nicht aufgeben, behauptet sogar, dass seine Ehe durch seine Beziehung zu Frieda besser geworden sei. Er bringt sie zum Arzt und drängt auf eine Abtreibung, doch sie will nichts davon wissen. Schließlich, als ihre Eltern die Schwangerschaft entdecken und sie aus dem Haus werfen, ist sie völlig auf sich allein gestellt. Die Beschreibung der gesellschaftlichen Ausgrenzung des unverheirateten schwangeren Mädchens entlarvt schmerzhaft die engstirnige katholische Moral, die in den 1960er Jahren Verhalten und Denken in der Provinzstadt Nimwegen bestimmte. Dazu passt die unmenschliche Behandlung, die ihr während und nach der Geburt im Canisius-Krankenhaus zuteilwird. Sie wird von den Nonnen gedemütigt, die ihr sagen, dass sie froh sein solle, dass ihr Bastardkind nicht lebend zur Welt gekommen sei. Eine Patientin erzählt ihr, was wahrscheinlich mit ihrem Kindchen passiert ist: Ungetaufte tote Babys werden oft heimlich in die Särge von Verstorbenen gelegt, damit sie in geweihter Erde begraben werden können.

Der Roman ist eine Hommage an die Frauen, die Mütter, die vor kaum einem halben Jahrhundert stillschweigend die erniedrigendsten Schrecken erlitten. Von den Eltern und der Familie verleugnet, wurden sie von Freunden und Nachbarn mit Verachtung gestraft. In einer Zeit, in der sich jeder gekränkt fühlt, ruft Ietjes Geschichte zur Besinnung auf. Dass sich die lebenslange stille Trauer einer Mutter nicht nur zwischen den Buchdeckeln eines Romans abspielt, zeigt ein Zeitungsartikel des Journalisten und Biografen Joep Boerboom in der Nimwegener Tageszeitung De Gelderlander (19.11.2022), der unter dem Eindruck des Romans Schemerleven zustande gekommen ist. Der Artikel trägt den Titel „Ich weiß nicht einmal, ob sie begraben ist“: Mit diesen Worten erzählt Boerbooms Vater seinem Sohn von dessen 1967 totgeborener Schwester. Bei seinem Versuch, mehr über das Schicksal des Kindes herauszufinden, entdeckt er, wo sie begraben ist und kann dem Vater das Grab zeigen. Seine Mutter ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot, sie hat nie erfahren, was mit dem Kind geschehen ist.

Das sehnsüchtige Verlangen nach etwas, was man nie gekannt hat, ist auch Gegenstand eines anderen Romans, der in diesem Herbst erschienen ist: Swansdale von P.F. Thomése, dem in Deutschland 2004 mit seiner autobiografischen Novelle Schattenkind ein Bestsellererfolg gelang. Sein neuer, „unholländischer“ Roman Swansdale spielt in England und wird von englischsprachigen Figuren bevölkert. Das junge Mädchen Elsa Dalberg, das ohne Mutter aufwächst, macht Bekanntschaft mit dem heranwachsenden Percy Bergdahl, der seinen Vater nie kennengelernt hat. Beide phantasieren über den fehlenden Elternteil: Elsa glaubt lange Zeit, dass ihre Mutter noch lebt, der aus Amerika stammende Percy glaubt an den Mythos, dass sein Vater ein Kriegsheld war, der in Vietnam gefallen ist. Es ist ein Roman über Schuld, Scham und Reue, über verzweifelte Versuche, die Vergangenheit ungeschehen zu machen und in Traumwelten zu leben. Das Leben nimmt unterdessen seinen schicksalhaften Lauf.

Während man manchmal Trost bei Leidensgenossen finden kann, deren Leben zusammenzupassen scheinen wie Elsas und Percys spiegelbildliche Familiennamen, wird die Vergeblichkeit aller Bemühungen, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, schmerzlich deutlich, wenn sich die Vergangenheit der Eltern in der Gegenwart der Kinder wiederholt.

Es ist bemerkenswert, dass Thomése es schafft, neben seinen ernsten, perfekt konstruierten Romanen auch urkomische Bücher wie die so genannte Tilburg-Trilogie zu schreiben, drei humorvolle Romane um die Tilburger Kultfigur J. Kessels: J. Kessels: The Novel (2009), Het Bamischandaal („Der Bami-Skandal“, 2012) und Ik, J. Kessels („Ich, J. Kessels“, 2018). Hinter dem manchmal gewollt plumpen Humor dieser Bücher verbirgt sich jedoch eine spielerische, poetologische Bedeutungsebene. In Ik, J. Kessels (der Titel ist eine Anspielung auf den berüchtigten, auch in Deutschland sehr erfolgreichen Roman Ik, Jan Cremer (1964, dt. Ich, Jan Cremer, 1964) steht die Frage im Mittelpunkt, wem eine Romanfigur eigentlich gehört. Dem Autor oder jedem, der ihn adoptieren – oder stehlen – möchte?

Thomas Verbogt ist der Verfasser eines beeindruckenden Œuvres, von dem mit dem Roman Wenn der Winter vorbei ist (2020; nl. Als de winter voorbij is, 2015) eine erste Übersetzung ins Deutsche vorliegt. In diesem Herbst erschien sein jüngster Roman Maak het mooi („Mach es schön“), in dem das Ich (der Schriftsteller) auf sein Leben (in Nimwegen) und seine Lieben zurückblickt. Die Einsicht, dass alles, was einmal war, noch existiert und dass es eine nie endende Aufgabe ist, das Leben in Erinnerungen „schön zu machen“, rückt das erzählte Leben in ein melancholisch-schönes Herbstlicht.

Mit Blick auf das Thema von Ik, J. Kessels könnte man argumentieren, dass die Frage, wem das Leben und die Vorstellungen eines Schriftstellers gehören, wer der Eigentümer ist, auch in dem Roman De gebeurtenis („Das Ereignis“) des flämischen Autors Peter Terrin aufgeworfen wird. Terrin, von dem bisher drei deutsche Romanübersetzungen vorliegen – die vierte ist für das Frühjahr 2023 angekündigt –, legt mit De gebeurtenis einen postmodernen Roman vor, der sich einer eindeutigen Interpretation entzieht – ein Roman in einzelnen, sich teils ergänzenden Geschichten, die immer aus einer anderen Perspektive erzählt werden. Manchmal scheinen sie dem Gehirn des toten Schriftstellers Willem entsprungen zu sein, dessen „upgeloadeter“ Geist als iHead weiterlebt, manchmal erzählen sie die Wirklichkeit von Personen, die nach Belieben in die Geschichten ein- und ausgehen. Zu Beginn des Romans erfährt man: „Willems Gedanken zu dem Roman, die von Juliette in Notizbuch 19 aufgeschrieben wurden – Juliette ist Willems Assistentin, der der Schriftsteller seine Romane diktiert, der er aber auch Schreibanweisungen gibt – wurden von Olga Tokarczuk geliehen.“ Dabei geht um folgendes Zitat:

Es ist unmöglich, in einer Geschichte einen konsistenten, geradlinigen Verlauf von Ursache und Wirkung zu konstruieren. Das ist bestenfalls eine Annäherung an unsere Erfahrung. Stattdessen ist es notwendig, ein Ganzes aus verschiedenen Teilchen zusammenzusetzen, die alle Verbundenheit aufweisen. Konstellation, nicht Abfolge, trägt die Wahrheit in sich.

Diese poetologische Aussage der polnischen Nobelpreisträgerin kann bei der Lektüre dieses komplexen Romans als Orientierungshilfe dienen.

Die in Deutschland noch unbekannte Autorin Femke Brockhus beschreibt in ihrem zweiten Roman Kleine haperende vluchten („Kleine stotternde Flüge“), was einem jungen Vater und seinem neugeborenen Kind widerfährt, wenn die Mutter kurz nach der Geburt das Weite sucht. Die Ratlosigkeit und Verzweiflung des verlassenen jungen Mannes kommen in einer Überlegung zum Ausdruck, die auf postmodernistische Weise die Grenze zwischen Realität und Gedankenexperiment verschwimmen lässt:

Die Situation ist die eines kranken Scherzes, ein Experiment, bei dem das Baby gezeugt wird, die Eltern langsam in ihre neuen Rollen schlüpfen, die Mutter dann aus der Situation herausgenommen wird und das Verhalten des Vaters studiert wird: seine Bewegungen werden verfolgt, seine Gedanken abgehört, sein Körper in steilen Ausschlägen von Müdigkeit, Adrenalin und Kummer am Monitor überwacht. Die Wissenschaftler beobachten mit angehaltenem Atem die Leere, die langsam Vakuum zieht.

Der Leser darf wählen, was die junge Mutter bewogen hat, wegzugehen: Ist es „eine Geschichte über eine tragische Liebe, über die Flucht vor der Mutterschaft oder aber über die Entwicklung der Vaterschaft, über Scheitern und Triumph“, oder ist es „ein Bericht über Schöpfungsdrang, enttäuschte Ambitionen, Sehen und Gesehen-werden-Wollen“, wie Bo van Houwelingen in ihrer Besprechung des Romans (De Volkskrant, 22.10.22) fragt. Die junge Frau ist Schriftstellerin, sie hatte gehofft, sich in ihrem neuen, abgelegenen Haus ungestört der Kunst widmen zu können.

Der auch bei uns in Deutschland nicht unumstrittene Erfolgsautor Leon de Winter genießt wegen seiner rechtsgerichteten politischen Ansichten und seiner kompromisslosen Pro-Israel-Haltung bei den meisten Rezensenten in den Niederlanden kein großes Ansehen mehr. Das zeigt sich an den Kritiken seines neuen Romans Het lied van Europa („Das Lied von Europa“). Die Dystopie spielt im Jahr 2030, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich größer ist als je zuvor und die Revolte der Unzufriedenen durch die Errichtung eines autoritären, „woken“ Regimes niedergeschlagen wird. „Europa“ ist der Name der Volksheldin, die zur Ikone der murrenden Massen geworden ist. Volkskrant-Rezensentin Bo van Houwelingen konstatiert, dass die Figuren im Laufe der Geschichte „immer mehr so klingen, als würden sie eine Kolumne von Leon de Winter vorlesen“. So verlautbart eine von ihnen: „Die Macht hüllte sich in die neuen Gewänder der neuen Hohepriester der Woke-Kirche“.

Die flämische Autorin Lieve Joris hat sich weltweit einen Namen als Reiseschriftstellerin gemacht. Auch in Deutschland ist sie zu Beginn der 2000er Jahre mit Titeln wie Die Sängerin von Sansibar (2001), Das schwarze Herz Afrikas (2002), Der Tanz des Leoparden (2003) oder Die Stunde der Rebellen. Begegnungen mit dem Kongo (2008) erfolgreich gewesen. Mit ihren letzten beiden Büchern Terug naar Neerpelt („Zurück nach Neerpelt“, 2018) und dem im September 2022 erschienenen Hildeke kehrt sie zurück in ihre flämische Heimat. Hildeke ist ein autobiografischer Roman über die Betreuung und Pflege der Schwester der Autorin, einer Frau mittleren Alters mit Down-Syndrom, und ihres dementen Vaters. Die Spannung zwischen der ersehnten Anwesenheit jetzt, am Ende des Lebens der beiden, und der Abwesenheit in den Jahren davor, in denen die Autorin viele Reisen unternommen und sich lange im Ausland aufgehalten hat, sorgt für Gewissensnöte, die nur zum Teil durch die Gewissheit aufgefangen werden können, dass jeder sein eigenes Leben leben muss.

Wytske Versteeg, eine vielbeschäftigte niederländische Essayistin und erfolgreiche Romanautorin – in Deutschland debütierte sie mit dem in mehrere Sprachen übersetzen Roman Boy (2013, dt. 2016) – untersucht in ihrem neuen Roman Het gouden uur („Die goldene Stunde“) die gegenseitigen (Macht)Verhältnisse zwischen dem Flüchtling Ahmed, dem Wachmann in einem Folterlager (Tarik) und der Sozialarbeiterin Mari. Die drei Figuren, oder vielmehr die drei Rollen, die sie spielen, sind schicksalhaft miteinander verbunden. In den Worten des Volkskrant-Rezensenten: „Diejenigen, die Hilfe bekommen, werden ohnehin ein wenig gedemütigt, diejenigen, die Hilfe geben, tun dies für sich selbst.“ (De Volkskrant, 13.10.2022)

Maarten Asscher, ehemaliger Direktor der berühmten Athenaeum Buchhandlung in Amsterdam und Miteigentümer des traditionsreichen Verlags Van Oorschot, betätigt sich seit Langem als erfolgreicher Erzähler, auch in Deutschland, wo fünf seiner Bücher in Übersetzung vorliegen. Seinen neuesten Roman De schaduw van een vriend („Der Schatten eines Freundes“) bezeichnet der Rezensent Onno Bloem als ein „Sittenbild voller essayistischer Abschweifungen und augenzwinkernder Anspielungen auf die politische und gesellschaftliche Aktualität“ (De Volkskrant, 26.11.2022). Der Roman erforscht die Grenzen der Freundschaft; der Titel des Romans ist einem Essay von Montaigne entnommen: „Jemand wäre schon glücklich, wenn er auch nur den Schatten eines Freundes kennenlernen würde“. In diesem Roman bekommt das Wort „Schatten“ eine düstere Konnotation, als sich herausstellt, dass ein Mitglied einer Studentenverbindung in Leiden rechtsradikales Gedankengut vertritt; eine Entwicklung, die die Freundschaft auf eine harte Probe stellt.

In akademischen Kreisen wird in den letzten Jahren die Frage erörtert, ob die niederländische Literatur nach dem Vorbild der angelsächsischen in das Stadium der „Postpostmoderne“ eingetreten ist. Ein Stadium, das Abstand nimmt vom Zynismus, der Verweigerung eines Standpunkts, dem Misstrauen, das „große Worte“ in Anführungszeichen setzt. Die im Herbst 2022 erschienenen Romane und Erzählungen bestärken die Vermutung, dass diese „Metamoderne“, die sich von Skeptizismus und Ironie abwendet, ohne in Naivität zu verfallen, tatsächlich Fuß gefasst hat. Die hier besprochenen Bücher von Jaap Robben (Schemerleven), P. F. Thomése (Swansdale), Lieve Joris (Hildeke), Wytske Vertseeg (Het gouden uur) und Maarten Asscher (De schaduw van een vriendschap) scheuen nicht davor zurück, die Tiefe mit „großen Worten“ zu ergründen, und setzen sich ohne Zurückhaltung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen auseinander. Die gleiche Entwicklung ist auch in der Poesie zu beobachten.

Lyrik

Mit Spannung wurde das Erscheinen des ersten Gedichtbandes von Rob van Essen erwartet, einem Autor, der mit seiner Prosa – Romane und Kurzgeschichten – großen Erfolg hatte. Für seine Kurzgeschichtensammlung Hier wonen ook mensen („Hier wohnen auch Menschen“, 2014) erhielt er den J.M.A. Biesheuvel-Preis und für den Roman De goede zoon (2018; dt. Der gute Sohn, 2020) den Libris-Literaturpreis. Die Erzählungen in Een man met goede schoenen („Ein Mann mit guten Schuhen“, 2020) zeigen, was passiert, wenn Menschen mit anderen als den ihnen vertrauten Realitäten konfrontiert werden. Die Entscheidungen, vor die sich Van Essens Figuren gestellt sehen, ähneln dem Weg, den der Schriftsteller sucht. Beim Schreiben eines Romans oder eines Gedichts erwägt und verwirft der Autor schließlich ständig Szenarien aus einer Sammlung von Möglichkeiten.

In dem Gedichtband Alleen de warme dagen waren echt („Nur die warmen Tage waren wirklich“) versucht Van Essen der erdrückenden postmodernen Vorstellung zu entkommen, dass alles bereits geschrieben ist, dass es keine Wahrheit gibt (in dem Gedicht „Die Wahrheit“) und dass das Leben mit hochgezogenen Augenbrauen und in angemessenem Abstand betrachtet werden muss (in „Die besten Tage“). Als alles schon geschrieben war, „zerfielen Schriftsteller / langsam zu Staub, der von achtlosen Füßen / der Mitbewohner über Fußböden zerstreut wurde/und später über die Straße“. Diese Möglichkeit wird im ersten Gedicht der Sammlung ausgelotet; alle folgenden Gedichte zeigen, dass es noch nicht soweit ist. Die Poesie bewirkt, dass derjenige, der an seine Jugend zurückdenkt, glaubt, dass nur die warmen Tage wirklich waren. Aber die Poesie ist auch beunruhigend; sie erforscht „The shape of things to come“, wie sie sich in den Nachrichten ankündigen, und sich nähern auf den drohenden „schwerfälligen Basstönen“ der Musik bei den Nachbarn; sie webt den verschwiegenen Gedanken „es wird Krieg geben“ ein in die fröhliche Präsentation des neuen Hauses in „ Wat leuk dat jullie even komen kijken” („Wie schön, dass ihr kurz vorbeischaut“):

hier kommt die Sitzecke hin und an dieser Wand
hatten wir an das Bücherregal gedacht, weil ja
wir haben immer noch Bücher haha hier kommt die Essecke
und dort gibt es Krieg und diese ganze Rückwand
wird eine Schiebetür, dann können wir bei schönem Wetter
auf die Terrasse

Es sind Gedichte über Abschied, schwindende Liebe („Vae Victis“, „Close watch (Nu is het diep genoeg)“, mit einem Verweis auf die Erzählung „Nu is het diep genoeg” („ Nun ist es tief genug”) in dem Band Een man met goede schoenen), Einsamkeit, Tod, „falsches Leben“, Entfremdung von der eigenen Vergangenheit, von den eigenen Erinnerungen – vergessene Erinnerungen ringen mit guten Erinnerungen. Poesie wird nicht dem Klischee gerecht, „dass sie uns in die Irre führt“ („ Betere tijden”), sie manifestiert sich in der Aufmerksamkeit für das scheinbar bedeutungslose Detail, für das, woran wir täglich vorbeigehen, ohne es zur Kenntnis zu nehmen.

Alles ist nun einmal vorhanden. Wenn ich denke,
bei großen oder kleinen Dingen, es macht keinen großen Unterschied,
wenn ich denke: Hierzu muss ich eine Meinung haben
[…], wenn kurz gesagt
meine Überraschung in Bedrängnis gerät und eine Meinung
erzwungen wird, sage ich zu mir selbst
während ich mir alles genau ansehe: Das ist die Wahrheit.
Und das hilft, denn es ist wahr.

Bei der Lektüre der Sammlung beginnen die Gedichte, sich miteinander zu verflechten, aber auch Verbindungen zu Van Essens Erzählungen und Romanen werden sichtbar. Es gibt Verweise auf Songtexte von Kate Bush und David Bowie – und zweifellos auf Musik, die ich nicht (er)kenne.

Eine zweisprachige, niederländisch-deutsche Auswahl mit Gedichten der Lyrikerin Ester Naomi Perquin erschien 2021 unter dem Titel Mehrfach abwesend. Ihr deutscher Dichterkollege Nico Bleutge war besonders angetan von der Alltäglichkeit ihrer Stoffe (Deutschlandfunk Kultur, 23.06.2021). Auch in ihrem jüngsten niederländischen Gedichtband Ongevraagd advies („Ungebetene Ratschläge“) schreibt Ester Naomi Perquin erfrischend lesbare Gedichte mit einem unverkennbar weiblichen Blick. Niemand liest Beipackzettel, deshalb ist ihr Gedicht „Verzorgingstips“ („Pflegetipps“) mit Anleitungen für die richtige Pflege eines Mädchens eher spielerisch und überflüssig als bitter – auch wenn die Warnung vor schlechter Pflege nicht fehlt:

Setz ein Mädchen, das spricht, neben das Sprechen des Mannes.
Setz ein Mädchen, das etwas will, neben den Willen Gottes.
Setz ein Mädchen, das weint, kurz raus in den Regen.
Mädchen gehen nicht so leicht kaputt.

Sei nur auf der Hut vor Romantik. Die können
Mädchen nicht vertragen. Davon
werden Mädchen krank.

Eine Frau bringt ihre Wut zum Ausdruck und schreibt in zierlichen Buchstaben auf eine Papptafel, wen sie alles umbringen möchte. Diese Tafel stellt sie vor ihr Fenster – was sich wiederum nicht gehört. („Etikette“).

Die Lyrikerin Iduna Paalman wurde für ihren ersten Gedichtband im Jahr 2020 mit dem niederländischen Poesiedebutpreis ausgezeichnet. Nun erschien ihr zweiter Gedichtband mit dem Titel Bewijs van bewaring („Aufbewahrungsnachweis“). Darin geht sie der Frage nach, warum so viele Frauen von Historikern ignoriert oder vergessen wurden. Frauen wie Eunice Newton Foote (in dem Gedicht „Spelregels“, „Spielregeln“), die als erste auf die globale Erwärmung durch den Anstieg des Kohlendioxids in der Atmosphäre aufmerksam gemacht hat, oder „Hexen“ wie Hendrika Hofhuis und Anna Göldi (im Abschnitt „Het proces“, „Der Prozess“). Sie legt die „Wurzeln“ des Tagebuchs der Publizistin und Freidenkerin Geertruida Kapteyn-Muysken (1855-1920) frei, indem sie in einen Dialog tritt mit Sätzen aus diesem Tagebuch. Sie behandelt aber auch die verschiedenen „Nachweise“ (für die Zulassung, das Unvermögen, die Fähigkeit und das ‚fachmännische‘ Können), mit denen sich Frauen konfrontiert sehen.

In mehreren Gedichten geht es um Erfahrungen im Leben von Frauen in Gegenwart und Vergangenheit. Das Gedicht „Belastend materiaal” („Belastendes Material”) handelt von einer Vergewaltigung („existiere ich nur als Zeuge?“); die Schwierigkeit der Sexualerziehung durch schlecht aufgeklärte Mütter wird in „Barrièremiddelen I” („Barrieremittel I”) erörtert („Gott sei Dank/verstehe ich, was meine Mutter mir erzählte, denn es ist nicht viel, denn ihre Mutter/erzählte nicht viel, denn ihre Mutter noch weniger“). In „Barrieremittel II“ geht es um den Wunsch von Frauen im frühen zwanzigsten Jahrhundert nach Geburtenkontrolle, mit einem Auszug aus einem Brief von Mrs. Fleetwoord Millar aus Kanada an Aletta Jacobs („Ich liebe meine Kinder, aber o ich will keine mehr“). „Barrieremittel IV“ offenbart jedoch auch eine zweifelhafte Haltung der „founding mothers in de London Condom Wars”, Mrs. Philips und Mrs. Perkins. Seitdem „begann dem Vernehmen nach die Zügellosigkeit erst richtig“ – die Einverleibung der Frau in die „unverbrüchliche Gesellschaft“.

Am Ende des Bandes lesen wir zwei knappe Gedichte: „Anna Nöhlensbrug“ über die Hebamme und Widerstandskämpferin Anna Nöhlens (1889-1942) und „Baanbrekend” („Bahnbrechend“), in dem zwei Astronomen, Maria Mitchell (1818-1889), Entdeckerin des Kometen C1847V1 und Maria Margarete Kirch (1670-1720), die als erste den Kometen C/1702H1 beobachtete, gemeinsam ein Glas Wein „auf meinem Balkon“ trinken und in den Nachthimmel schauen, „wo ein Licht stets größer/und runder“ sich zeigt: „Sieh, sagen sie und sie lachen/wie gefährlich, wie bahnbrechend/und sie trinken und sagen dann nichts“ – den Leser im Unklaren lassend, ob sie den Kometen oder sich selbst meinten.

Poesie, die die Aufmerksamkeit auf Frauen lenkt, die von der Geschichtsschreibung auf die dunkle Seite des Mondes verbannt wurden, unterstützt die Annahme, dass die niederländische Literatur im Jahr 2022 nach aktueller Bedeutung und Relevanz sucht.

Essay von Rob van de Schoor (Radboud Universität Nijmegen, NL), aus dem Niederländischen übersetzt von Heinz Eickmans.

Liste der besprochenen Neuerscheinungen

Prosa

Maarten Asscher: De schaduw van een vriend. Roman. Amsterdam: De Bezige Bij.

Femke Brockhus: Kleine haperende vluchten. Roman. Amsterdam: De Bezige Bij.

Lieve Joris: Hildeke. Roman. Amsterdam: Atlas Contact.

Jaap Robben: Schemerleven. Roman. Amsterdam: De Geus.

Peter Terrin: De gebeurtenis. Roman. Amsterdam: De Bezige Bij.

P.F. Thomése: Swansdale. Roman. Amsterdam: Prometheus.

Thomas Verbogt: Maak het mooi. Roman. Amsterdam: Nieuw Amsterdam.

Wytske Versteeg: Het gouden uur. Roman. Amsterdam: Querido.

Leon de Winter: Het lied van Europa. Roman: Amsterdam: Hollands Diep.

Lyrik

Rob van Essen: Alleen de warme dagen waren echt. Gedichten. Amsterdam: Atlas Contact.

Iduna Paalman: Bewijs van bewaring. Gedichten. Amsterdam: Querido.

Ester Naomi Perquin: Ongevraagd advies. Gedichten. Amsterdam: Van Oorschot.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Maarten Asscher: De schaduw van een vriend. Roman.
Bezige Bij, Amsterdam 2022.
288 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9789403121413

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Titelbild

Femke Brockhus: Kleine haperende vluchten. Roman.
Bezige Bij, Amsterdam 2022.
165 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9789403177717

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Titelbild

Lieve Joris: Hildeke. Roman.
Atlas Contact, Amsterdam 2022.
144 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9789045046969

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Titelbild

Jaap Robben: Schemerleven. Roman.
De Geus - Singel Uitgeverijen, Amsterdam 2022.
312 Seiten, 23,99 EUR.
ISBN-13: 9789044546194

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Titelbild

Peter Terrin: De gebeurtenis.
Bezige Bij, Amsterdam 2022.
224 Seiten, 23,99 EUR.
ISBN-13: 9789403181813

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Titelbild

P. F. Thomése: Swansdale. Roman.
Prometheus Uitgeverij, Amsterdam 2022.
384 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9789044651614

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Titelbild

Thomas Verbogt: Maak het mooi. Roman.
Nieuw Amsterdam, Amsterdam 2022.
304 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9789046830314

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Titelbild

Wytske Versteeg: Het gouden uur. Roman.
Querido - Singel Uitgeverijen, Amsterdam 2022.
232 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9789021460680

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Titelbild

Leon de Winter: Het lied van Europa. Roman.
Hollands Diep - Overamstel Uitgevers BV, Amsterdam 2022.
432 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9789048867684

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Titelbild

Rob van Essen: Alleen de warme dagen waren echt. Gedichten.
Atlas Contact, Amsterdam 2022.
64 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9789025473655

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Titelbild

Iduna Paalman: Bewijs van bewaring. Gedichten.
Querido - Singel Uitgeverijen, Amsterdam 2022.
96 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9789021462608

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Titelbild

Ester Naomi Perquin: Ongevraagd advies. Gedichten.
Uitgeverij Van Oorschot, Amsterdam 2022.
55 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9789028223240

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