Mafia, Migration und Möglichkeit

Franco Supino beeindruckt in „Spurlos in Neapel“ mit einem Gedankenexperiment zur eigenen Biografie.

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Er hatte“, so heißt es schon auf der zweiten Seite des Romans über einen Freund der Familie, „was ein richtiger Mann hier besaß: Geld, Einfluss und Schwierigkeiten mit der Justiz“. Damit sind die wichtigsten Ingredienzen der mafiösen Machokultur pointiert zusammengefasst. Für den jugendlichen, in der Schweiz lebenden Protagonisten ist das lässige Sichhinwegsetzen über bürgerliche Grenzen und Gesetze, das er in den Sommerferien in Neapel erlebt, befremdend und faszinierend zugleich. So cool wie die verschwiegenen „Ehrenmänner“ der italienischen Mafia ist in der biederen Schweiz niemand. Doch wer glaubt, die in den nun folgenden Szenen sehr anschaulich erzählte neapolitanische Welt der 70er Jahre mit ihren Bars und schicken Autos, den Dorffesten mit Tarantella tanzenden Besuchern, Spanferkel-Versteigerung und dem Verkauf frittierter Heferinge, den kleinen Restaurants, in denen sichtbar getragene Messer und Pistolen darauf hindeuten, dass sie weniger der Kulinarik als der kriminellen Geldwäsche dienen, zelebriere eine Mafiafolklore, wie wir sie aus Kino und Popkultur kennen, wird schon im nächsten Kapitel eines Besseren belehrt.

Im neuen, ansatzweise autobiografischen Roman Spurlos in Neapel des Italoschweizers Franco Supino werden die Topoi der Mafiaromantik zwar ausgiebig zitiert, aber nur, um die einschlägig bekannten Klischees sodann auf originelle Weise zu dekonstruieren. In seinem spannenden und flüssig geschriebenen Buch gelingt Supino dieser Balanceakt zwischen Reportage, Genrebild und Autobiografie, indem er konsequent auf moralische oder politische Statements verzichtet und stattdessen den Untergang einer Camorrafamilie mit all ihren Widersprüchen und Verwerfungen aus der höchst komplexen, auf verschiedenen zeitlichen Ebenen situierten Sicht des Ich-Erzählers schildert.

Dieser Blick auf das Geschehen in Italien und in der Schweiz unterteilt sich in drei Perspektiven: Da sind zum einen die Erinnerungen des Erzählers an seine neapolitanischen Ferienaufenthalte in der Kindheit, an die Erfahrung von Faszination, aber auch von Fremde und Nichtzugehörigkeit zur Heimat seiner Eltern. Hinzu kommt, zweitens, die vom Ich-Erzähler im Gestus eines Chronisten präsentierte Familiensaga des Camorra-Clans Esposito, dessen 19 Mitgliedern zur besseren Orientierung der Leserschaft sogar ­– als wäre das Buch ein Roman von Balzac oder Dostojewski ­– ein graphischer Stammbaum gewidmet ist. Zugleich ist diese Chronik aber auch die Chronik einer äußerst widersprüchlichen Stadt, in der Verfall und Vitalität nahtlos ineinander übergehen.

Wie sich aber im Lauf des Romans immer klarer herausstellt, ist die wichtigste Perspektive die dritte: die einer imaginären Alternativbiografie mit der Suche nach einem verschollenen Alter Ego. Angetrieben wird die autofiktionale Spurensuche nämlich von einem Gedankenexperiment: Wie wäre das eigene Leben in der alten Heimat der Eltern verlaufen, wenn nicht ein verheerendes Erdbeben das Dorf der Eltern zerstört und die Rückkehrpläne der Familie vereitelt hätte? Im 7. Kapitel des Romans erzählt Supino, mit welchen Mitteln der pubertierende Sohn sich gegen die Rückkehrpläne der Familie sträubt. Er, der pubertierende, in der Schweiz aufgewachsene „Secondo“ tritt in den Hungerstreik, verweigert sich der Familienlogik und reißt von zuhause aus, um nicht mit Eltern und Geschwistern nach Neapel auswandern zu müssen. Für ihn ist der latente Rassismus, unter dem seine Gastarbeiter-Eltern in der Schweiz leiden, weniger relevant als die Angst vor einer fatalen familiären Fehlentscheidung. „Wie wollt ihr Geschäfte machen ohne Beziehungen?“, fragt der 15jährige seine Eltern, „Ihr werdet in null Komma nichts ausgenommen wie Weihnachtsgänse. Das kann nicht euer Ernst sein! Ihr seid blind vor Heimweh.“

In seiner Verzweiflung greift der Junge schließlich zum allerletzten Mittel: dem Gebet in neapolitanischem Dialekt, er „beschwört den lieben Gott in ihrer Sprache“, das heißt der Sprache seiner Eltern. Am 23. November 1980 werden seine Gebete erhört: eines der stärksten Erdbeben der italienischen Geschichte, ein Erdbeben der Stärke sieben mit fast dreitausend Toten zerstört die Gegend zwischen Neapel und Potenza und bereitet den Ausreiseplänen der Familie ein Ende. Dieses Ereignis von unfassbarer historischer und biografischer Wucht und die mit ihm verbundene Ambivalenz des Erzählers, das heikle, rational kaum zu begreifende Gemisch aus Erleichterung, Triumpf, Scham und Schuld wird nun zum Dreh- und Angelpunkt des gesamten Romans. Wie bald klar wird, sind alle weiteren Begebenheiten direkte oder indirekte Folgen des Irpinia-Erdbebens von 1980.

Seine Herkunft lasse ihn nicht los, sagt der Erzähler zu Beginn seiner zunächst erfolglosen Spurensuche nach dem verschollenen Mafioso Antonio Esposito, dessen dunkle Hautfarbe einerseits auf ein ebenso dunkles Familiengeheimnis, andererseits aber auf aktuelle politische Bezüge verweist. Was in den 60er und 70er Jahren der Drogen- und Waffenhandel war, ist heute der von der Mafia gesteuerte Handel mit afrikanischen Migranten, die in teils sklavenähnlichen Verhältnissen auf den Obst- und Gemüseplantagen in Süditalien arbeiten. In den verschiedenen Handlungssträngen des Romans spiegeln sich Fragen der Herkunft und Identität, der Fremderfahrung und der Entfremdung. So ist, wie der Erzähler herausfindet, sogar der Familienname „Esposito“ eine Anspielung auf den ungeklärten familiären Ursprung des Stammherrn und die über Jahrhunderte immer wieder in Anspruch genommene „Ruota degli Esposito“, das Rad der Ausgesetzten, zu deutsch: die neapolitanische Babyklappe.

Auf seiner identitären Spurensuche reist der erwachsene Ich-Erzähler immer wieder von der Schweiz nach Neapel. Skurriler Vorwand für die häufigen Reisen sind seine Besuche bei einem exklusiven neapolitanischen Schneider, dessen Kunst der Maßschneiderei stellvertretend steht für eine untergehende Welt des Luxus und der raffinierten Exklusivität. Imaginäres Alter Ego wird dabei aber nicht etwa der während einer jahrelangen Haft zum Schriftsteller mutierte Salvatore Esposito, Spitzname „Avvocato“, sondern dessen Großneffe, der 1990 geborene und seit Jahren spurlos verschwundene Antonio. Anlässlich dieser Suche erfährt man auch mehr oder weniger Bekanntes über die Verquickung von Mafia und Fußball, den Ehrenkodex der Camorra, über die fragwürdige Verklärung und Ideologisierung von Tradition und Familie, über die Machenschaften einer Kindergang, über Bandenkriege und Lebensmittelfälschungen oder über die Verbindungen der Mafia nach Deutschland und in die Schweiz.    

Schon 1960 bemerkte Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Pupetta oder: Das Ende der Neuen Kamorra“, die neapolitanische Camorra sei ein historischer „Anachronismus“, der allmählich dem kapitalistischen „Fortschritt“ und den „Figuren des großen Kapitals“ weichen müsse. Supino erwähnt Enzensbergers Essay, weil auch der von Camorra-Chefin Assunta „Pupetta“ Maresca in den 1950er Jahren ermordete Mörder ihres Mannes Antonio Esposito hieß und damit ein Namensvetter des im Roman gesuchten Camorra-Bosses ist. Aber der Hinweis auf Enzensberger hat noch eine andere, politische und in der zweiten Hälfte des Romans immer deutlicher werdende Dimension. So berichten einige, im Jahr 2017 geschriebene Briefe aus dem Gefängnis über den brutalen Einsatz eines Frontex-Schiffs vor der neapolitanischen Küste, über Verhaftungen und die Abschiebung völlig entkräfteter Afrikaner, die in einem seeuntauglichen Boot auf hohe See zurückgeschleppt und ihrem Schicksal überlassen werden. Und was Donato, ein mit dem Ich-Erzähler befreundeter Journalist, in einer Passage über die politischen Strukturen der lokalen Mafia sagt, klingt wie ein Schlüsselsatz zum Verständnis des globalen Kontexts:

In der U-Bahn wollte ich wissen, warum sich die Banden immer wieder gegenseitig töteten. Das sei doch sinnlos. „Nein, das ist die Logik des Verbrechens, dem wiederum die Logik des Kapitalismus innewohnt: Entweder du wirst mächtiger und reicher ­– oder du verschwindest.

Es ist die Gier des Kapitals, sein krankhaftes und rücksichtsloses Wachstum, das sich allegorisch im Mythos der Camorra verdichtet. Supino ist hier in guter Gesellschaft: die meisten in den letzten 20 Jahren erschienenen fiktionalen oder halbdokumentarischen Darstellungen der neapolitanischen Mafia zeigen diesen politischen Zusammenhang, angefangen von Nanni Balestrinis Sandokan (2004) über Roberto Savianos Bestseller Gomorra (2006) bis hin zu Milo Raus Passionsspiel Das neue Evangelium (2019), in dem der afrikanische Anführer eines Streiks auf einer von der Mafia geführten Tomatenplantage als neuinterpretierter Jesus erscheint.

Ob der Ich-Erzähler sein imaginäres Alter Ego schließlich findet oder nicht, soll hier nicht verraten werden. Die Suche nach dem Anderen als Spiegel des eigenen Selbst ist seit den Questen der Antike und des Mittelalters ein probates dramaturgisches Mittel der Spannungserzeugung, das keine Spoiler verträgt. Dass Supinos Roman aber vor allem eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Tatsache ist, dass das eigene Leben oftmals von erschreckend zufälligen Weichenstellungen bestimmt wird, zeigt ein weiterer Schlüsselsatz des Romans: „Ich war auf der Suche nach einer Biografie, und je mehr ich von ihr entdeckte, desto schrecklicher war sie. Desto mehr vermisste ich meine eigene, verpasste Biografie“. Soviel also darf verraten werden: Wie das Leben des Ich-Erzählers verlaufen wäre, hätte es das große Erdbeben von Neapel nicht gegeben, bleibt das Geheimnis der von Robert Musil als „Möglichkeitssinn“ bezeichneten genuin literarischen Phantasie.

Titelbild

Franco Supino: Spurlos in Neapel. Roman.
Rotpunktverlag, Zürich 2022.
256 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783858699589

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