Kalkstein, Whiskey und Pferde

Auf dem Rücken der Pferde liegt das (Un-) Glück der Erde – zumindest in John Jeremiah Sullivans Leben. Der US-amerikanische Journalist und Autor nimmt uns in „Vollblutpferde“ mit auf eine ganz persönliche Reise quer durch die Kulturgeschichte des Pferdes.

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mike Sullivan hatte einen Körper, dem so schnell nichts etwas anhaben konnte: weder die zwei Packungen Zigaretten täglich noch frittierte Speisen. Und schon gar nicht der Stress. So hat es John Jeremiah Sullivan zumindest vor Augen, wenn er an seinen Vater denkt. Doch nun ist dieser Titan nicht mehr. Er liegt im Sterben. Sein Sohn besucht den ehemaligen Sportreporter und nimmt aus ihrem letzten gemeinsamen Gespräch etwas mit, das ihn nicht mehr loslässt: Pferde. Das Ergebnis dieses Griffs ist Vollblutpferde.

Als der Sohn wissen möchte, was seinem Vater nach Jahrzehnten als Sportreporter am meisten in Erinnerung geblieben sei, antwortet dieser: „Ich habe 73 Secretariat beim Derby rennen sehen. Das war reine… Schönheit, verstehst du?“. Das Pferd scheint nicht nur den Vater beeindruckt zu haben, sondern auch die restliche Welt des Pferderennens. So ließ Secretariat 1973 den Kommentator Chick Anderson aufgewühlt zurück, nachdem er sich an dessen Schlussprint berauscht hatte: „Es sieht so aus, als ob er davonzieht … Der Vorsprung wird größer! … Secretariat baut den Abstand weiter aus! Er galoppiert wie eine GEE-WAL-TI-GE MA-SCHII-NE!“ Eine Maschine, die auch John Jeremiah Sullivan nicht mehr loslässt.

Der Autor geht auf eine Reise: Quer durch die USA, Bibliotheken und Geschichte. Er erzählt von Abenteurern – Männern, die auf der Suche nach Geld, Ruhm und dem Neuen auf dem Rücken von Pferden Wege zurückgelegt haben, die niemand zuvor (an-)gegangen war. All diese Berichte, Lektüreerlebnisse, Erfahrungen versammelt Sullivan in diesem Buch. Einige Texte erzählen von Entdeckern, andere von Helden des Pferderennens. Doch egal wie wagemutig, egal wie groß der Heldenmut – was alle Texte thematisch neben den Pferden zusammenhält, ist der Tod. Diese Klammer kommt wohl nicht von ungefähr. Denn es ist auch die Geschichte des Vaters, die Sullivan erzählt: Auch er ein großer, gar unsterblich wirkender Mann, der all die Last des Lebens mit einem Zwinkern zu besiegen schien und dann doch vor dem Tod unbewaffnet stand – und verlor. Die Erinnerungen an Sullivans Vater sind in allen Texten verwoben: Wie feine Striche prägen sie die Portraits, die uns aus der Kulturgeschichte des Pferdes präsentiert werden. 

Zu den Wurzeln

Whiskey, Kalkstein und das Bluegrass: dafür ist Kentucky berühmt – und für seine Pferde.Wobei die Wurzeln der Pferdekultur Kentuckys wohl im Nachbarstaat Virginia liegen. In der Vergangenheit hatten die englischen Einwanderer nicht nur die Vollblutpferde, sondern auch die Pferderennen aus der Heimat importiert – was ein Vollblutpferd genau ist?Auch das erfährt man in diesem Buch.

Unter Vollblutpferd, erklärt Sullivan, verstehe man in der Tierzucht ein Pferd, dass zu einer der rund hundert anerkannten Rassen gehöre. Diese Pferderassen wiederum haben ihren Ursprung im England des 18. Jahrhunderts: Herod, Matchem und Eclipse heißen die drei Stammväter aller modernen Vollblutpferde. Sie selbst seien das Ergebnis einer Kreuzung von englischen Stuten und Araberhengsten, so die Quellen. Genau diese Quellen beleuchtet Sullivan allerdings kritisch und stellt etwa die Frage, ob diese englischen Stuten, nicht selbst auch arabische Pferde gewesen sein mussten. Denn bereits seit dem 12. Jahrhundert, weiß Sullivan, habe es laut Aufzeichnungen auf den britischen Inseln Araberhengste gegeben.

Herkunft, Wurzeln, Mythen – all dem geht Sullivan nach. Doch es sind nicht nur die Pferde, die seine Neugier leiten, sondern auch die Suche nach der eigenen Identität und Heimat. Sullivan greift philosophische, historische, soziologische und autobiographisch Gedanken und Werke auf. Dabei ist seine Art des Schreibens ganz dem New Journalism verpflichtet: Reportagen, Berichte, Fakten treffen auf eine literarische Sprache – die Kombination fesselt. Sullivans Vollblutpferde ist eine Schule des Reflektierens – egal, ob es um Pferde, die Familie oder einen selbst geht.

Titelbild

John Jeremiah Sullivan: Vollblutpferde.
Aus dem Amerikanischen von Hannes Meyer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
230 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225431

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