Ein Dorf im Schatten einer NS-Ordensburg

Anna-Maria Caspari erzählt in ihrem Debütroman „Ginsterhöhe“ das Schicksal des Eifeldorfes Wollseifen

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Dorf Wollseifen auf der Dreiborner Hochebene im Nationalpark Eifel ist seit Sommer 1946 unbewohnt. Die britische Militärverwaltung hat seinerzeit eine komplette Räumung des Dorfes veranlasst, um das Gelände als Truppenübungsplatz zu nutzen. Hintergrund ist die von den Nationalsozialisten errichtete sogenannte NS-Ordensburg Vogelsang in der Nähe des einstigen Bauerndorfes, das gerade wegen dieser NSDAP-Kaderschmiede zu einem besonderen Schauplatz des Zweiten Weltkriegs geworden ist. Nun setzt die in Köln geborene Autorin Anna-Maria Caspari mit ihrem Roman Ginsterhöhe Wollseifen ein literarisches Denkmal.

Die Erzählzeit umfasst die Jahre 1919–1949, wobei der Roman in drei größere Abschnitte unterteilt ist (1919–1928, 1930–1939 und 1939–1949). Zwischen den Kapiteln befinden sich in Kursivschrift kurze fragmentarische Tagebucheinträge der Lehrerfigur Martin Faßbender. Er interagiert nur wenig mit der Dorfgemeinschaft und kommentiert aus einer gewissen Distanz das Geschehen sowohl in Wollseifen als auch in der Welt. Die „Aufzeichnungen des Lehrers Martin Faßbender“ ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman und bieten dank der genauen Datierung eine historische Orientierung.

Ausgangspunkt ist das Ende des Ersten Weltkriegs, damals noch als der „Große Krieg“ bekannt. Albert Lintermann war als Soldat an diesem Krieg beteiligt und kehrt von der Front zurück in seine Heimat. Schwer gezeichnet von seinen Kriegserfahrungen versucht er seinen Platz im Dorfleben und in der Familie wieder einzunehmen. Dies gelingt ihm allerdings nur sehr mühsam. Da er von einer Granate getroffen wurde, ist sein Gesicht halb deformiert, weshalb er sogar in seiner eigenen Familie gegen die Entfremdung ankämpfen muss. Insbesondere seine Ehefrau Bertha mag ihn kaum noch anschauen, sodass er sich für eine Operation bei dem bekannten Arzt Professor Siegburger in Bonn entscheidet.

Albert schafft es, sich allmählich wieder in das Dorf- und Familienleben zu integrieren. Er geht seiner Arbeit als Landwirt nach und verbringt die Abende bei Kneipenwirt Silvio, mit dem er unter anderem über die Weltereignisse spricht. Von einer neuen Idylle kann jedoch keine Rede sein; zwischen Bertha und Albert bleibt vieles unausgesprochen, zudem belasten die Folgen des Krieges, wie etwa die starke Inflation, die Wollseifener:innen und wachsender Unmut breitet sich aus. Vor allem Johann Meller, der im Roman von vornherein als Abziehbild einer „toxischen Männlichkeit“ und gleichsam als Antagonist des Geschehens gelesen werden kann, wettert gegen die Verhältnisse. Insofern scheint es folgerichtig, dass Meller mit seinen menschenverachtenden Sprüchen aus Überzeugung in die NSDAP eintritt und eine politische Karriere wittert. Als die Nationalsozialisten in der Nähe von Wollseifen eine imposante Ordensburg bauen wollen, reagiert er begeistert, während Mellers unglückliche Ehefrau Leni den wachsenden Schatten des um sich greifenden Nationalsozialismus mit Unbehagen entgegensieht.

Meller bleibt bis Kriegsende seiner Gesinnung treu und verkommt zu einer eindimensionalen Figur. Mit den anderen Figuren im Dorf ist Anna-Maria Caspari eine deutlich glücklichere Figurenzeichnung gelungen. Insbesondere der Protagonist Albert sei hier erwähnt – er versucht verzweifelt, seinem Sohn Gottfried, der sich von der propagierten Kriegslust hat anstecken lassen, den Ernst und die fatalen Folgen des Kriegs darzulegen.

Im letzten Teil des Romans schildert die Autorin den allmählichen Untergang des Dorfes Wollseifen, das angesichts der nahegelegenen NS-Ordensburg Vogelsang Ziel vieler Luftangriffe der Alliierten gewesen ist. Obgleich Albert und weitere Überlebende das Dorf kurz nach Kriegsende wieder aufbauen und an ihr Leben in ihrer Heimat anknüpfen wollen, ordnet die britische Besatzungsmacht an, das Dorf innerhalb von vierzehn Tagen zu räumen. Degradiert zu einem Truppenübungsplatz, werden Häuser und öffentliche Institutionen – wie zum Beispiel die Kirche – zerstört.

Während die Autorin im ersten Teil die Figuren Wollseifens behutsam und einprägsam einführt, wirkt gerade der letzte Part etwas gehetzt. Auf nicht einmal 100 Seiten wird von den Begebenheiten der ereignisreichen Jahre 1939-1949 erzählt.

Nichtsdestoweniger versteht sich Caspari darauf, Fakten mit Fiktion gekonnt zu verweben. Faktische Hintergrundinformationen hebt sich die Autorin für eine Nachwortbemerkung auf, in der sie die Geschichte des Dorfes umreißt. In ihrer Danksagung gewährt sie zudem Einblicke in ihre Recherchearbeit und erwähnt allen voran eine Zeitzeugin, die ihr die heutige Wüstung, seit 2006 wieder begehbar, gezeigt hat. Entstanden ist ein solider historischer Dorfroman.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anna Maria Caspari: Ginsterhöhe. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2022.
400 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783864932021

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