Komische Lyrik in Krisenzeiten
Philip Saß‘ Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ zeigt, dass humoristische Gedichte noch immer Relevanz haben
Von Carl Manzey
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLyrik hat den Ruf, die schweren Themen des Lebens zu behandeln. Die Liebe, der Tod oder die Natur sind Motive, die gemeinhin einer lyrischen Betrachtung würdig sind. Dass es auch anders geht, zeigt der Autor Philip Saß mit seinem humoristischen Gedichtband Abschaffung der Schwerkraft. Zwar kommen diese Themen – Liebe, Tod, Natur – in seinem Werk vor, doch ihnen wird ihr Gewicht genommen. Aufgeteilt in drei Kapitel sind in dem Band die meisten klassischen lyrischen Formen vertreten, von der Hymne über die Ballade bis zum Sinngedicht. Der Lyriker spielt gekonnt mit den althergebrachten Regeln von Reim und Form und überträgt den klassischen Gedichtschatz in die heutige Zeit – das ist mal absurd komisch, mal schwarzhumorig-satirisch und durchweg unterhaltsam. Philip Saß‘ Gedichtband ist interessant für alle, die die krisenbehaftete Zeit in einem lyrischen Kontext für einen kurzen Lesemoment leichtnehmen wollen. Dass einem dabei zuweilen das Lachen im Hals stecken bleibt, lässt sich als Qualität des Werkes verstehen.
Die Kapitel Gunst, Dunst und Kunst gliedern das Buch in drei gleich lange Teile, die thematisch einen weiten Bogen spannen. Bereits im ersten Gedicht tritt ein lyrisches Ich hervor, dass sich „gegen Naturdokumentationen“ ausspricht:
Ich bin die ganzen Dokus leid
mit all den armen Tieren,
die, für die Frühlingszeit bereit,
im kalten März erfrieren,
die, weil ihr Wald in Flammen steht,
verdursten und verbrennen,
die, weil der Weg nicht weitergeht,
umsonst gen Süden rennen.
Das lyrische Ich empfindet die Zerstörung der Natur und des Lebensraumes der in ihr lebenden Tiere als eine persönliche Zumutung, die es in seinem Wohlbefinden stört.
Auf eine ähnliche schwarzhumorige Art wendet sich Saß im ersten Kapitel einem klassischen Genre der Lyrik zu. Zu Beginn dieses Abschnittes wendet sich das lyrische Ich im Gedicht „Gegen Tiergedichte“ an seine Vorgänger, die sogenannten „Fabler“, die es dazu aufruft, es nun „für immer sein“ zu lassen mit „Fauna-Eseleien“. „Hier folgen meine noch, dann Schluss / mit dem verdammten Fabel-Stuss!“ Darauf folgen Gedichte, die verschiedenen Tierarten gewidmet sind, begonnen mit der tropischen Riesenzecke „Hyalomma“, die mittlerweile auch hierzulande ihr Unwesen treibt. Neben dem „Sonett auf ein zertretenes Tier“, das eine Schnake besingt, die im Sog eines Handstaubsaugers „zum ersten Male flügellos geflogen“ ist, überzeugt auch der „Gesang des Metzgers“, der in blutiger und bedrückender Weise das Handwerk eines Schlachters illustriert: „Ich schlachte Vieh, ich schlachte Vieh, / in immer gleichen Schichten: / Die Kuh kommt an. Ich töte sie. / Das ist nicht nett. Das war es nie.“ Kontrastierend dazu lässt sich das „Feinschmecker-Chanson“ lesen, welches das Ich als einen Gourmet mit einer Schwäche für Assonanzen entlarvt: „Ich würd lieber grausam verelenden, / als ein Leben zu führn ohne Rehlenden.“ Solcherart kleiner Zweizeiler tauchen immer wieder im Band auf und sind mal witzig und prägnant, mal eher bemüht und wenig komisch: „Im Land, wo Milch und Honig / nie fließen werden, wohn ich.“
Der Autor benutzt das Stilmittel des Reims in seinen Gedichten so frei, dass es immer wieder Trennungsstrichkonstruktionen gibt, die seine Funktion zur Bindung der Verse ins Dysfunktionale führt. So folgt beispielsweise auf das Wort „Vieh“ das Teilwort „appeti-“, das sich erst im nächsten Vers zu „appetitanregend“ komplettiert. Dies zeigt, wie wenig genau es der Autor mit der klassischen Gedichtform nimmt und wie er vielmehr die Vorgabe des Reims als Konvention übernimmt, um sie in seinen Texten immer wieder zu brechen, um einen humoristischen Effekt zu erzeugen. Das geht soweit, dass er auch orthographische Vorgaben missachtet und das Wort „der“ bereits nach dem ersten Buchstaben in zwei Verse trennt und sich auf eine gewagte Reimkonstruktion von „d-“ auf „Kind“ einlässt. Laut vorlesen lässt sich so etwas nicht mehr, weshalb man sich über diesen Kniff leider nur freuen kann, wenn man das Gedicht leise liest. Generell ist Abschaffung der Schwerkraft ein literarisches Werk, das sich eher alleine genießen lässt, da erst die visuelle Anordnung der Gedichte ihre ganze Wirkung entfalten lässt.
Nachdem sich Saß im ersten Teil Gunst den lyrischen Genres der Tiergedichte, Liebesgedichte und Jahreszeitenlieder annimmt, folgen im zweiten Teil Dunst politische Gedichte. Hier werden insbesondere die Corona-Zeit und die in ihr entstandene „Querdenker“-Bewegung karikiert. Ein „Couplet der Bürgerwehr, 2016“ lässt rechte Verschwörungstheoretiker zu Wort kommen, die zur Zeit der sogenannten Flüchtlingskrise autonom zu den Waffen greifen, um „Kiel und Berchtesgarden“ vor marodierenden Syrern zu beschützen – und sich dabei selbst mit dem geladenen Browning ins Gesicht schießen: „Das Schießen fällt auch gar nicht schw – hoppla, autsch, fuck! / Wir gründen eine Bürgerwehr!“ Das Couplet zeigt, wie lächerlich der Versuch der Rechten ist, sich als Bürgerwehr zu radikalisieren, ohne dabei zu verschleiern, welche Gewalttätigkeit in dieser Gruppierung ruht. Ein anderes politisches Gedicht ist eine bitterböse „Grabrede auf einen Querdenker, August 2020“, der sich dem Virus „mutig widersetzt“ und beim Demonstrieren kühn auf eine Maske verzichtet, was sein vorzeitiges Ende zufolge hat: „Er lag so häufig falsch und jetzt, / jetzt liegt er erstmals richtig.“ Im titelgebenden Gedicht Die Abschaffung der Schwerkraft wird in absurder Weise die Beschränktheit der politisch Verantwortlichen und ihrer Meinungsmaschinerie aufgezeigt, die sich im Wahlkampf um die Schwerkraft streiten, da sie das Wirtschaftswachstum beschneiden würde.
Die Schwerkraftskritiker gewannen
und jemand drückte einen roten Knopf.
Nun schweben wir recht ziellos durch die Tannen
und dauernd stößt sich irgendwer den Kopf.
Doch bei der nächsten Wahl kommt das ins Lot,
jetzt fordern sie ein Sauerstoffverbot.
Die Ratlosigkeit angesichts der vielen derzeitigen Krisen, die in Saß‘ Gedichtband lyrisch verarbeitet werden, wird durch die humoristische Betrachtungsweise für einen Moment leichtgenommen und die Schwerkraft wird in zweifacher Hinsicht aufgehoben; zum einen als störendes Wirklichkeitsmoment weltfremder Populisten, zum anderen als ästhetische Maßgabe, die der Lyrik das ernste Feld der Literatur zuweist. In einer Zeit, in der die Medienlandschaft eine immer verstörender werdende Realität abbildet, ist Saß‘ Versuch, ihr eine witzige Betrachtungsweise abzutrotzen, eine willkommene Abwechslung. Er zeigt, dass die komische Lyrik nicht etwa mit Christian Morgenstern oder Joachim Ringelnatz ihr Ende gefunden hat, sondern auch in der heutigen Zeit Relevanz besitzt.
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