Wenn Musik alle Engherzigkeit über Bord gehen lässt
Andreas Heidtmanns Roman „Plötzlich waren wir sterblich“ bezaubert mit tiefen Emotionen und klangvoller Sprache
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas macht ein junger Mann, wenn ihm der Provinzschönling die Freundin wegschnappt? Der Ich-Erzähler in Andreas Heidtmanns Roman Plötzlich waren wir sterblich reizt den Kerl, bis der so zuschlägt, dass unser Held zu Boden geht und von Schwärze übermannt wird.
Wir lernen die Schulkameraden und Kumpels des Helden kennen, die genau und zuweilen ironisch beschrieben werden. Wir erfahren, dass die Schulen in der Bundesrepublik so etwas wie der Elendsbezirk in einem reichen Land waren. Auch von Politik ist die Rede, vor der Bundestagswahl meint jemand, Kohl habe keine Chance.
Doch wo genau die Handlung spielt, bleibt im Roman lange offen, auch wenn der Klappentext von „einem kleinen Ort im Ruhrgebiet“ spricht. Zwar wird ein bestimmtes Krankenhaus erwähnt, doch davon gibt es mehrere in Deutschland. Auch Landschaftsbeschreibungen helfen nicht weiter, und den auf Seite 52 auftauchenden Ortsnamen Lippfeld, weitab von Berlin, bucht man nach einiger Recherche als erfunden ab. Doch kurz darauf heißt es, jemand könne vielleicht überredet werden, in Essen zu bleiben. Nun weiß man, wo man ist. Und dass der lokalpatriotische Ich-Erzähler tatsächlich Essen – nach Gelsenkirchen – für die schönste Stadt der Welt hält. Ben Schneider heißt er, was man ebenfalls spät erfährt.
Im Mehrbettzimmer des Krankenhauses erinnert sich Ben, dass in dieser Klinik im vorletzten Sommer ein anderer lag, ehe er an seinem Herzfehler starb: Jan-Henri, der kränkste und unsportlichste Mitschüler, den kaum jemand vermisste und den der Erzähler nicht besucht hatte. Ausgerechnet ihm vertraut er sich jetzt in einem Brief an und nennt ihn „bester, fernster Freund“.
Ben lebt für die Musik. An der Wand seines Zimmers hängt ein Porträt von Jimi Hendrix, doch auch Beethovens Appassionata muss er üben. Als er die wütend-verzweifelten Klänge Beethovens mit der Musik Mozarts vergleicht, der ihn an eine filigrane Spieluhr erinnert, fällt zum ersten Mal der Name der hochbegabten Klavierstudentin Rebecca. Klarsichtig erkennt Ben den fundamentalen Unterschied zwischen ihr und ihm, was die Rezeption der Musik (und wohl auch ihre Liebe) angeht: Rebecca herrscht über alle Empfindungen, während er von ihnen beherrscht wird.
Ben träumt davon, mit Kumpels die beste Rockband der Welt zu formieren; „Crazy Hearts“ soll sie heißen. Von seinen Eltern ist keine Unterstützung zu erwarten. Der als Maurer malochende Vater legt immerhin einen Zehner für Essen hin, wenn die depressive Mutter wieder einmal ihre „Zugfahrt durch die Stille“ angetreten hat.
Rebecca beherrscht immer mehr Bens Gefühle. Skeptisch reagiert er auf ihre Erwartung, sie sollten eines Tages gemeinsam auftreten: Er hätte wohl nur Chancen, wenn er auf einer Hammond-Orgel improvisieren dürfe. Gegenüber seinem Musikprofessor sagt der nach Rebecca suchende Ben die fällige Übungsstunde ab. Was sei schon das Geklimper im Vergleich zu einem Hochgefühl? Man fragt sich, ob der einstige Klavierstudent Andreas Heidtmann so forsches Auftreten selbst erlebt hat. Ben findet Rebecca, die bald nach Berlin gehen wird, im Bücherlabyrinth eines Antiquariats, wo er plötzlich seine Lippen auf ihrem Mund spürt und sich alles wie von selbst zu fügen scheint.
Die Gründung der „Crazy Hearts“ vollzieht sich in einer stillgelegten Ziegelei im Nirgendwo, wo Lautstärke höchstens die Schafe stören könnte. Ben, an den Keyboards, denkt gründlich über die Chemie zwischen seinen vier Gefährten nach, die am Bass, den Drums, der Gitarre und als Sänger musikalisch zueinander finden müssen, damit ein unverkennbarer Stil entsteht. Das gelingt, und bei ihrem Auftritt im Lippfelder Jugendklub herrscht in ihnen „nichts als Rhythmus und Klang, ganz ohne vorher und nachher“. Gekommen sind auch Susanna und ihr Provinzschönling, der sich für den Faustschlag vom Anfang entschuldigt. Ben spürt, wie Verletztheit und Engherzigkeit über Bord gehen, wenn gute Musik erklingt, ob sie nun von Janis Joplin oder Robert Schumann stammt. Für das Innenleben der Mitglieder der „Crazy Hearts“ findet der Autor überzeugende Bilder; so beschreibt Ben den erfolgreichen Auftritt mehr als „innere Umkrempelung“ denn „körperliche Verausgabung“.
Andreas Heidtmann schreibt eindrucksvolle Wortgemälde, in denen scharfer Blick und klangvoll-poetische Prosa zusammenfinden. Gelegentlich scheut er sich nicht vor Wortungetümen, wenn er etwa „thermoskannenkaffeetrinkende und leberwurstbrotessende Rentner“ sieht. Meist aber erzeugen knappe Formulierungen sofort eine dichte Atmosphäre: „Wie die Landschaft ihr Grün an die Hitze abgab.“ Auch Gegenstände lösen Gefühle aus. Da spürt jemand, eine Sitzgarnitur aus echtem kaltem Leder nehme ihn „auf nachgiebige Art in Gewahrsam“.
Immer wieder geht es um Rebecca. Unterschiedliche Vorlieben für Komponisten und Interpreten sind für die beiden auf Musik fixierten jungen Menschen gewiss bedeutsam. Sie verblassen aber angesichts der sozialen Unterschiede. Rebeccas Vater ist Physikprofessor und hat nicht viel Zeit für den Besucher Ben, erwartet er doch einen Anruf aus Cambridge. Die Mutter ist Musikerin und geht, mit großen Blüten auf dem Kleid, barfuß durch die Wohnung.
Ich erinnere mich, dass in der DDR der fünfziger Jahre ein Lehrer die Bildungschancen seiner Schüler daran maß, ob bei ihnen zu Hause ein Globus stand. Das soziale Gefälle zwischen den Familien der beiden Liebenden ist weit größer als ein Globus. Zwar erzählt Rebecca offenherzig, dass ihre Geburt ein „Missgeschick“ der 18-jährigen Mutter war, die statt Klavierlehrerin womöglich eine große Pianistin geworden wäre. Doch eine gemeinsame Zukunft wird es für Ben und Rebecca wohl nicht geben.
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