Was hätte wohl Denis Scheck dazu gesagt?
Ulrich Gaier legt sein Buch „Ton.Dichtung – Literatur und Musik von der Antike bis Doktor Faustus“ vor
Von Karl Bellenberg
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseÜberblick
Über Literatur und Musik, ihre Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Fügungen gibt es gute Abhandlungen zuhauf von Th. W. Adorno, Richard Wagner, Robert Schumann, Arnold Schönberg oder von Wissenschaftlern wie Dahlhaus, Danuser, Eggebrecht, Hanslick, Joh. Mittenzwei, J. Knaus, S. Bruhn oder St. P. Ster.
Der Buchtitel Ton.Dichtung ist merkwürdig und unscharf. Was ist gemeint? Tondichtung, ein musiktheoretischer Begriff der Spätromantik für eine sinfonische Dichtung (also keine Sinfonie) oder ein Gedanken- oder Bindestrich zwischen zwei hierarchisch unterschiedlichen Begriffen, also nicht Ton – Wort oder Musik – Dichtung? Der Untertitel erst klärt „Literatur und Musik“.
Das von Gaier vorgelegte Buch, das eine Abhandlung über „Literatur und Musik von der Antike bis Doktor Faustus“ verspricht, hat zehn sehr unterschiedlich lange Kapitel von weniger als zehn bis hin zu 80 Seiten. Sie befassen sich laut Inhaltsverzeichnis einmal mit geschichtlichen Epochen (Antike, Mittelalter, Goethezeit), ein andermal mit wissenschaftlichen Ansätzen (Anthropologie, Musiktheorien), ein weiteres Mal mit Musik-Genres (Madrigal, Oper, Kirchenlied, Lied im Roman, Singspielen, Volksliedern). – Man ist gespannt auf diesen „multimodalen Ansatz“. Ein Personen- und Sachverzeichnis wäre hilfreich gewesen.
Antike (10ff.)
Man liest das Kapitel „Antike“ und ist irritiert ob der Gedanken- und Zeitsprünge: 30.000 v. Chr. erste Flöte in einer Höhle bei Schelklingen (diese Angabe von 1962 ist veraltet, M. Brodar 2009 verweist auf eine ältere slowenische Höhle, älter als 45.000 J.), Sprung ins Ägypten mit Nennung diverser Musikinstrumente, weiter zu den „Memnonsäulen“ (die richtigerweise Statuen am Nil sind; Mythologie beschrieben von G. Magi: Luxor, Florenz 2005, Quelle jedoch bei Gaier nicht angegeben), Sprung zu den Instrumenten der Israeliten (Harfe, Shofar), den Posaunen von Jericho, die – so erfährt man von Gaier in scharfsinniger Exegese – die Mauern nicht umstürzen ließen, weil wohl nur PR-Masche in der Bibel; Sprung zurück zu den Griechen, zunächst in einen abseitigen Mythos über eine Leier, sodann zu den Musen, zu apollinischer und dionysischer Musik, weiter zur Pythia, der delphischen, dann zur „Siebenzahl“ (Symbolismus?), zu Platons Politeia, zu Orpheus und Eurydike. Deren Sage erhält von Gaier drei(!) Sätze und die scharfsinnige Sentenz, wenn Orpheus sich nicht zu seiner Geliebten umgedreht hätte, wären wir heute um wenigstens drei Opern ärmer (13)…
So geht dieses Erzählen über sieben Seiten, ohne dass auch nur eine Thematik vertieft oder ihre kulturelle Bedeutung eingeordnet würde. Dem Leser stockt bei diesem Parforceritt der Atem, ohne nicht auch noch an vier Stellen auf Gaier-Literatur verwiesen zu werden. – Ach ja, auf der letzten Seite zur Antike (17) geht es nach Rom: Tragödie, Komödie, Lyrik, Epik, Satire, Elegie, Trink-, Kampf- und Liebeslieder werden aufgezählt, keines der Genres jedoch behandelt. Phuu! Durchatmen!
Nun, die Antike ist vielleicht wissenschaftlich zu wenig erschlossen, als dass man auf die kulturbasalen acht griechischen Tonleitern und die „Musik und Rhythmik bei den Griechen“ als Ursprung abendländischer Musik hätte eingehen sollen (vgl. etwa gleichen Titel bei Georgiades, rororo 1958).
Dann eben auf zum: Mittelalter (19ff.)
Das zweite Kapitel ist mit Abstand das umfangreichste, behandelt Deutschland, England, Frankreich und Italien, spart jedoch das bedeutende Spanien und die nordischen Länder aus. Warum? Weitere Unterkapitel behandeln einige kulturelle Schwerpunkte, klammern unverständlicherweise aber den musikhistorischen „Quantensprung“ der beginnenden Mehrstimmigkeit (Léonin, Pérotin, Notre-Dame-Schule 1160-1250 n.Chr.) völlig aus. Die eher unsystematische Behandlung führt unter Deutschsprachiger Raum Merkwürdiges zur Messe aus, die musikalisch zu den Großformen zählt (↑Musiktheorien?): Die Messe sei eine magische Beschwörung des Herrn, sogar gültig, wenn vom sündigen oder besoffenen oder Kinder schändenden Priester gehalten (20). Diese „magische Zeit“ schildert Gaier mit billiger Ironie; da werde Weihwasser gespritzt, wer könne die besten Würstchen braten, ein Apostel-„Wettlauf zum Grab“ findet statt (22f.), zur Vigil würden die Chornoten auf große Pulte gestellt, „obwohl sie nachts kaum sichtbar waren“; Vagantenlieder würden in Klöstern zur Unterhaltung gesungen (23); sogar Villon (15. Jhd.) muss da herhalten (24). Dann Rücksprung ins 9. Jhd. zum Hildebrandslied und Otfried mit althochdeutschen Textzitaten (zum Teil ohne Übersetzung) (26). Wer beherrscht das noch? Zuletzt das Nibelungenlied in Ausschnitten. Es wird nicht klar, was mit der Ansammlung gezeigt werden soll.
Im gleichen Stil und gleicher „Tiefe“ mit vielen Aufzählungen werden England, Frankreich und Italien abgehandelt. Dabei übernimmt Gaier nonchalant die Sprache von Wilh. v. Aquitanien: „[…] nun muss er (Wilhelm) sie (die Hofdamen) so lang ficken, bis sein Werkzeug und er selbst reparaturbedürftig sind“ (35). Ja, man liest, so drastisch kann (nicht nur) das Mittelalter sein! „… aber Gott […] nutzt den Troubadour nur als seine Schreibfeder“ [Gott sei Dank nicht „-werkzeug“] (36). Wenig später erfährt man Unglaubliches über das christliche Lachen: „Wenn Christen über etwas lachen, beleidigen sie zunächst Jehova, der nur lacht, wenn er seine Feinde verspottet und verlacht, und vor allem den gänzlich humorlosen Christus, der ja die Welt geschaffen hat“ (38). Genesis?
Sirventes, eine der formfreien und wichtigsten Gattungen der Troubadour-Dichtungen und von großer Themenvielfalt, aus der sich später die Terzine entwickelt, erwähnt Gaier mit einem Halbsatz (36). Dem folgen in einem Satz die Chansons de geste, die „wichtig“ seien (Gaier), aber nicht erklärt werden, etwa dass sie zu den ältesten Erzählgattungen (vor 1000 n. Chr. bis ins 13. Jhd.) gehören und oft in einem Singsang (nicht aber als Lied) in Form einer Handlungssequenz vorgetragen werden. Manche basieren auf alten Überlieferungen, die im Dunkel der mündlichen Vorlagen verschwinden und deren Vortrag auch in Klöstern an den südfranzösischen Jacobswegen zur Entspannung der Pilger stattfand (36). Dem folgt auf der gleichen Seite ein „Dönecken“ zu Roland, dem Paladin Karls des Großen, der mit seiner Nachhut von den Sarazenen(!) aufgerieben worden sei, aber „noch mit seiner letzten Atemkraft in sein Horn blies. […] Die Sarazenen waren in die Flucht geschlagen [durch Karl] und Roland tot.“ Sehr drastisch, aber sachlich falsch, denn es waren rachlüsterne, christliche Basken, wie sich in der Vita Karoli Magni des Abtes Einhard nachlesen lässt (dort Kap. 9, S. 12f.).
Italien erhält eineinhalb Gaier-Seiten zugesprochen (45f.). Es ist bemerkenswert, dass der Philologe Gaier das Mittelalter literarisch, aber nicht musikwissenschaftlich abhandelt. Im Italien-Kapitel etwa fehlen all die Komponistengrößen, wie Andrea Gabrieli (15. Jhd.; erstmals quadrophoner Raumgesang in St. Marco); in Deutschland fehlt u.a. Heinrich Schütz (bedeutendster Komponist des Frühbarock, Konzertanter Stil, Madrigalist, Zusammenarbeit mit Martin Opitz), der späterhin eine halbe Seite bekommt (101).
Das Kapitel Minnesänger und Sangspruchdichter (54ff.) wird auf 30 Seiten raumgreifend mit Texten – nicht immer auch mit Übersetzungen – aus dieser Zeit gefüllt, mit Bedeutendem aus dem Lochamer-Liederbuch, von Oswald v. Wolkenstein, Fr. v. Hausen, H. v. Veldeke, H. v. Morungen und W. v. d. Vogelweide (drei Seiten), dann auch völlig Belangloses. Wirklich auf die Texte und ihre Bedeutung eingehen? Fehlanzeige!
Zum Madrigal werden uns Auszüge aus Metzlers Literaturlexikon und Wikipedia angeboten; bei Orlando di Lasso auf den „ausführlichen Artikel“ bei Wikipedia verwiesen (96), aus dem Gaier passagenweise abkupfert. Auch Lassos Bedeutung als Komponist (Vielzahl geistlicher und weltlicher Motetten, vielstimmige Messen und Magnificats, deutsche Liedkompositionen und sein Parodieprinzip) bleibt unerwähnt. Und so geht es kurzweilig weiter mit Monteverdi, Purcell, Lulli und Schütz, zusammen auf drei Seiten (99ff.). Fertig!
Da es von Seite zu Seite immer mühseliger wird, springen wir zu Hölderlin (208ff.) und finden dort eine geistreiche Analyse(!) seiner späten Hymne Andenken mithilfe der „Klopstockschen Beigesänge“. Gemeint ist wohl das, was man unter Prosodie versteht? Die bedeutenden Interpretationen von Heidegger und Adornos Parataxis bleiben wieder unerwähnt. Gaiers Analyse ist eine nicht enden wollende Abfolge emotionaler Adjektive über anderthalb Seiten (214f.) – hier beispielhaft gelistet zu den letzten vier von 60 Versen der Hymne: „unruhig heftig unruhig“, „munter heftig“, „munter sanft“, „munter munter“. Auch Adjektive wie stark, ernst, feierlich analysieren das Gedicht mit dem Hinweis, „dass sich bestimmte Figuren wiederholen wie in einem Musikstück“ (215). Da ist schon interessant zu sehen, was dagegen alles allein zu dieser Hymne von Abiturienten(!) gefordert wird (abipur.de).
Goethes solitäres Gesamtkunstwerk (146ff.)
Hier ist Gaier als Goethespezialist (u. a. Faust-Kommentar) in seinem Element. Ausführlich betrachtet werden ausschließlich Goethes Singspiele und dessen damit verbundene Vorstellungen ihrer Realisation und Aufführungserfordernisse und seine Vorstellungen vom Gesamtkunstwerk. Im Einzelnen sind es Lila, Die Fischerin, Claudine von Villa Bella und Erwin und Elmire.
Der gesamte Goethe-Exkurs ist interessant zu lesen trotz der (unbeantworteten) Frage nach der literatur- und musikwissenschaftlichen Bedeutung dieser Singspiele, die ja schon lange nicht mehr aufgeführt werden. So hat vom Singspiel Die Fischerin bis auf den heutigen Tag nur die Einlage vom Erlkönig überlebt. Schuberts Widmung an Goethe ging bekanntermaßen unkommentiert an den jungen Komponisten zurück, C. Loewe scheiterte dort ebenfalls, Spohrs und Zelters Vertonungen sind kaum bekannt (A. Meláth bietet 11 Vertonungen auf YouTube).
Interessant die Ausführungen zu G. Noverre (franz. Tänzer und Choreograph, 1727-1810), der über das Ballett und die Möglichkeit des Ausdrucks im Tanz gearbeitet und große Wirkung auf Lessing, Herder und Wieland hatte, nicht aber seinen Fokus auf das Genre Singspiel legte. Ebenfalls interessant zu lesen ist die Schilderung Gaiers von der autoritären Art, mit der Goethe Musik seinen „unmusikalischen“ Kunstvorstellungen einzuverleiben trachtete (162). Die Querelen mit der späteren Intendantin K. Jagemann (Sängerin und Schauspielerin von Format), den Schauspielern und Musikern am Weimarer Hof sind kennzeichnend. Es zeigt das Scheitern von frei sich entfaltenden Komponisten an solchen Ansprüchen Goethes (vgl. 167). Wenn dieser Komponisten für seine Singspiele suchte, so hat es den Anschein, dass es solche waren, die ihre Musik seinem Libretto unterordneten. Schubert war Goethe daher suspekt.
Musiktheorien (301ff.)
Erwartet man zu Musiktheorie, der Lehre von den Elementen einer Komposition, d.h. der Melodiebildung, der Rhythmik, der Harmonie, der musikalischen Formen und Satztechnik sowie der Instrumentation, eine hinreichend fachliche Behandlung, so findet man bei Gaier u. a. Folgendes: Die Ausführung zur „Frühzeit“ (ein technisch schwammiger Begriff) – gerät zur Spekulation über den Beginn der Sprachbildung. „Man hatte sich in der Frühzeit noch nicht auf viele Wörter geeinigt“ (301). Dazu fehlt jeder Beleg. Selbst Sprachforschern ist die Entstehung der Sprache ein ungelöstes Rätsel; da hilft auch keine „kleine Meditation“ über Antworten, die aus der Bibel zitiert werden (301f.).
Große und kleine Terz (musikalische Intervalle) seien im Mittelalter verboten wegen ihrer „komplizierten Schwingungsverhältnisse“ (303). Unklar bleibt, ob damit der einstimmige oder zweistimmige Satz gemeint ist. Richtig ist dagegen nach Th. Daniel Kontrapunkt, 2000 und G. Zarlino Istitutioni, 1558 die Verwendung von Prim, Sekunde, Terz, Quarte, Quinte und Oktave in Melodien; im zweistimmigen Satz gilt: perfekte Konsonanz (Prim, Oktave, Quinte), imperfekte Konsonanz (Terz, Sext), Dissonanz (Sekunde, Quart(!), Sept, Tritonus). Das hätte schnell auch ein Blick in die MGG ergeben. Dagegen heißt es bei Gaier: Intervalle von einfachen Zahlenverhältnissen, Oktave, Quinte, Quart und Terz „empfinden wir als angenehm, weil unser Ohr und Hirn dafür eingerichtet sind“ (302f.). Dies stimmt weder musik-systematisch noch -historisch. Denn wir hören heut meist „temperierte“ Musik, in der all diese Intervalle „erträglich unsauber“ klingen (unser Hirn biegt das gerade). Im Übrigen fußen diese Schwingungsverhältnisse auf Pythagoras (Monochord) und nicht auf Leibnitz, der hier ins Spiel gebracht wird (302).
Die wichtigste frühe Gattung im Mittelalter, die Motette, baut zum Ténor (eine) weitere Stimme(n) hinzu. Bereits Pérotin (2. H. 12. Jhd.) verlässt die Oktaven- und Quinten-Parallelität in seinen Organa mit Dissonanzen und Rhythmen, die für heutige Ohren fremd (fast falsch) klingen. – Das Madrigal (weltliches Pendant zur Motette) entwickelte sich ab dem 16. Jahrhundert zum vielstimmigen Gesang und zur Basis weiterer Musikformen der Renaissance und des Barock. Von all dem ist bei Gaier nichts zu lesen.
Seine Behandlung von Polyphonie, Kanon und Fuge gerät begrifflich vollends daneben, weil Polyphonie nicht schon Kanon oder Fuge ist (303). Auch sein Beispiel der Nr. 1 des Wohltemperierten Klaviers gelingt nicht besser; Dominanten- und Subdominanten-Antwort (comes) auf das exponierte Fugenthema (dux), sowie thematische Engführung bleiben Fremdworte. Der Gedankensprung zur Dodekaphonie (304) ist völlig schräg, wenn die dortige Reihenbehandlung auf barocke Fugen-Verfahren zurückgeführt, statt in den vier „Modi“ und im Permutationsprinzip verankert wird.
Die Temperierung der Halbtöne im Oktavraum wird zwar richtig erklärt und dass damit alle Tonarten „gleich“ klingen; dann wird es jedoch unlogisch: „Aber wir machen doch den Temperierungs-Kompromiss nicht ganz mit: C-Dur strahlt einfach, A-Dur klingt frühlingshaft idyllisch“ (304). Recht so! Also doch keine richtige Temperierung? Und gleich danach wird Bachs Wohltemperiertes Klavier als Höhepunkt und Ende der Fugenkunst deklariert. Dessen Kunst der Fuge und Musikalisches Opfer als unbestrittene Krönungen dieser Kunst bleiben unerwähnt.
Auch hier (wie in Kap. 2) kein Wort zur frühen Mehrstimmigkeit (Notre-Dame Schule) und zu Monteverdi (Madrigal, Opern, basso continuo, secunda pratica), kein Wort zu Heinrich Schütz (musikalische Figurenlehre und ihre Bezüge bei der Textvertonung) und seiner musiktheoretischen Bedeutung. Gaiers Ausführungen (305ff.) haben nichts mehr mit Musiktheorien zu tun. Es sind musikgeschichtliche und literarische Figuren, die erzählt/abgehandelt werden: Gluck, Rameau, Rousseau, Diderot, Herder; ihre Streitigkeiten und Meinungskämpfe haben allenfalls literarische Bedeutung.
Lessings Ausführungen über Poesie, Malerei und Musik mögen für sich interessant sein, sind unter Musiktheorien ebenfalls deplatziert, wie auch das Folgende über Klopstock und Metren in der Sprache. Der Germanist Gaier ist in seinem Element, aber nicht beim Thema. Der heute nicht mehr rezipierte Joh. Jak. Wilh. Heinse, den damals bereits Goethe „wegschmiss“ und der heute in der Literaturgeschichte allenfalls einen einzigen(!) Erwähnungssatz zugebilligt bekommt, bei Gaier wird ihm – nachdem er bereits zuvor (205) und mit gleichem Bild abgehandelt wurde – ausgiebig eine volle Seite eingeräumt mit einem erhellenden Zitat: „Dur ist der Ausdruck voller Existenz, Moll zeigt einen Mangel an.“ (312). Da fragt man sich, was das soll!
Musiktheorie und Goethe, der „Unmusikalische“ (313), Jean Paul und seine theoretische Musikbetrachtungen (vier lange Zitate 314f.)? Nichts erschließt sich da musiktheoretisch oder in Literatur und Musik. Allerdings ist wirklich von der Gütergemeinschaft der Menschen mit Spinnen, Mäusen, Elefanten, Fischen, Amphibien und Vögeln die Rede (314). Die Aufzählung setzt sich fort über Schopenhauers Vita und seine Spekulationen zur Metaphysik der Musik, über Fr. Th. Vischer und seine Bemühungen zum Tierschutz, „insbesondere gegen die Verwendung von Hunden als Zugtiere“ (317), über Nietzsche mit seinen Betrachtungen zum Apollinischen und Dionysischen (318f.), und landet schließlich bei dem Thema, auf das laut Gaier ja alles zulaufen soll.
Thomas Mann: Dr. Faustus (321ff.)
….zulaufen soll auf den Protagonisten Adrian Leverkühn, alias Fr. Wilh. Nietzsche mit Zügen von Arnold Schönberg und Alban Berg. Nach drei Seiten Entstehungsgeschichte von Dr. Faustus – das Spätwerk heißt bei Gaier so und nicht exakt Doktor Faustus – zeichnet Gaier den Roman inhaltlich bloß nach. Wenn auch die Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie, mit ihrem Auktor Schönberg und dem Kritiker Adorno auf der Strecke bleibt, sind doch die Bezüge des Romans zu Goethes Faust, Nietzsches Wille zur Macht, Musils Mann ohne Eigenschaften, der NS-Zeit, der Philosophie, der Metaphysik und Mythologie hochinteressant zu lesen. Die Reflexionen Gaiers zur historischen und kulturellen Bedeutung des Romans und zur „konstruktiven Musik“ sind erhellend.
Leider ist der letzte Absatz des Buches zur Zwölfton-Musik wieder eher verwirrend statt eine präzise Darstellung musiktheoretischer Prinzipien, etwa den Permutationen einer Reihe (Thema) und sein Fazit „Eine Musik nicht zum Hören, sondern zum Lesen oder Denken“ (329) dekuvriert den Autor.
Fazit
Es scheint angesichts der vielen Kritikpunkte offenbar problematisch, wenn der Philologe Gaier über Musik und Musikwissenschaft schreibt. In jedem besseren Musiklexikon (MGG, Oxford Music Online) hätte er sich Rat holen und damit fachlich absichern können. Ein gutes Lektorat hätte zudem manches im Vorfeld vermeiden können. Der Leser denkt: Was hätte wohl Denis Scheck („Druckfrisch“ – ARD) dazu gesagt? „Off into the bin“! – oder es wortlos nur getan?
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